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Weltbevölkerung „explodiert“

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Neben der Dynamisierung unseres gesellschaftlichen Lebens als Folge neuartiger technischer Effekte ist es vor allem die zahlenmäßige Entwicklung der Bevölkerung in bestimmten Regionen der Erde, die das Leben auf unserem Globus bis in seine Tiefen hinein zu ändern vermag: die Bevölkerungsexplosion. In den unterentwickelten Regionen, die (oberflächlich) den nichtindu- strialisierten Ländern gleichzusetzen sind, entwickeln sich jedoch Bevölkerungszahl und Sozialprodukt keineswegs konform, wenn nicht gar in einem geradezu gegenläufigen Prozeß. In Mauritius ist nach dem zweiten Weltkrieg innerhalb von nur acht Jahren das durchschnittliche Lebensalter von 33 auf 51 Jahre gestiegen, ein Aufstiegsprozeß, zu dem etwa Schweden nicht weniger als 130 Jahre benötigt hatte. In Taiwan erhöhte sich die Lebenswahrscheinlichkeit innerhalb von zwei Jahrzehnten von 43 auf 63; die USA benötigten dazu 80 Jahre. Anderseits verringerte sich aber in Mauritius, ebenfalls im Zeitraum von acht Jahren, das Je-Kopf-Ein- kommen der Bevölkerung um 13 Prozent.

Die lokal unproportionierte Bevölkerungsvermehrung ist heute zu einem weltweiten Problem geworden, das man nicht mehr mit den konventionellen Mitteln zu lösen vermag. Auch die Kirche befaßt sich bereits mit der Frage der Abstimmung der Geburtenregelung mit dem Sittengesetz.

Eine ernstzunehmende Bevölkerungsstatistik gibt es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (USA: 1790). Die zahlenmäßige Entwicklung des Bevölkefungsstandes einer Region ist nun der Saldo einer Reihe von Entwicklungsverläufen: des Geburtenzuwachses, der Wanderungsbewegung und der Todesfälle

Geburtenzuwachs und Bevölkerung

Bei dem Geburtenzuwachs spielt eine wesentliche Rolle das Heiratsalter. So heirateten in . Irland gegen Epde es 19. Jahrhundert? di?. Mädchen im Durchschnitt erst mit dem 28. Lebensjahr, was zu einer beachtlichen Reduktion der Geburtenziffern führte. Auch die Manipulierung mit dem Heiratsalter in Japan hat die Geburtenziffern nach 1948 erheblich beeinflußt.

Ebenso bestimmt die Kindersterblichkeit heute weitgehend die Familiengrößen und das Ausmaß des Bevölkerungszuwachses in Ländern, in denen früher nur ein Bruchteil der Neugeborenen bis zum ersten Lebensjahr am Leben erhalten werden konnte.

Schließlich beeinflussen in vielen Ländern heute die offizielle und die private Geburtenkontrolle sowie die Abtreibung das Bevölkerungswacbs- tum. In Japan gab es 1949 11,8 Abtreibungen auf 1000 Frauen, 1955 waren es bereits 50,2. In Ungarn kamen 1960 61 auf 100 Geburten 131 Abtreibungen, in Bulgarien 58 und in der CSSR 54.

Wanderungsbewegung und Todesfälle

In bestimmten geschichtlichen Situationen bestimmt die Wanderungsbewegung die Bevölkerungsentwicklung in einem Land, aber gleichzeitig auch die Größe des Sozialproduktes, da die Auswanderer meist aus produzierenden Jahrgängen stammen. Zwischen 1846 und 1932 wanderten aus zehn europäischen Ländern 27 Millionen Menschen aus. Das hatte unter anderem zur Folge, daß die Bevölkerung der skandinavischen Länder nicht, wie dies einer mathematisch-linearen Entwicklung ihres Zuwachses entsprochen hätte, im Jahre 1913 14,2 Millionen Einwohner zählte, sondern nur 11,5. Die Bevölkerung von Irland verminderte sich vornehmlich als Folge der Auswanderung zwischen 1845 und 1915 von 8,3 Millionen auf vier Millionen. Zeitweilig lebte von den in Irland Geborenen ein Drittel im Ausland.

Entscheidend wird das Wachstum der Erdbevölkerung in der Gegenwart von der Verringerung der Todes- fallquote bestimmt. Bei Völkern, die sich heute noch auf dem Status von Steinzeitmenschen befinden, kann — wozu ehedem Jahrhunderte notwendig gewesen waren — in einigen Jahrzehnten die Todesfallquote auf einen Bruchteil reduziert werden. Während die Geburtenentwicklung derzeit keine außerordentlichen Entwicklungslinien aufweist, ist in den Territorien bisher niedriger Lebenswahrscheinlichkeit, in denen aber die Mehrheit der Erdbevölkerung lebt, die Todesfallquote in einem ungeahnten Umfang gefallen und gegengleich die Bevölkerung explosiv gewachsen.

In 23 Jahren um 30 Prozent gestiegen

Von 1940 bis 1963 stieg die Erdbevölkerung von 2,5 Milliarden auf 3,2, also fast um 30 Prozent. Der Zuwachs an Menschen in einem Zeitraum von nur 23 Jahren war größer als die gesamte (geschätzte) Weltbevölkerung um 1800. Man glaubt, daß sich die Erdbevölkerung — gleiche relative Vermehrung vorausgesetzt — bis zum Jahr 2000 auf etwa sieben Milliarden vermehrt haben wird. In einer ausgezeichneten und materialreichen Untersuchung prophezeit K. Davis („Scientific American“ 9 1963), ein Ansteigen der Bevölkerung des Globus in 100 Jahren auf das Siebenfache. Alle bisherigen Voraussagen über die Bevölkerungsvermehrung wurden in den letzten Jahren freilich durch die Tatsachen weit überholt. Allein im Jahre 1960 überstieg der Zuwachs an Weltbevölkerung die im Jahre 1958 von seiten der UNO angestell- ten Schätzungen um 75 Millionen.

Jene Erscheinung, die man Bevölkerungsexplosion nennt, ist nun keine allgemeine, sondern zeigt sich, wie erwähnt, vor allem in den Le-bensbereichen der meisten unterentwickelten Völker,;;.soweit., rie nunmehr die Vorteile der modernen Medizin an sich erfahren dürfen. In den nicht industrialisierten Ländern ist jedenfalls seit 1930 die Bevölkerung zweimal so schnell gewachsen als in den anderen Territorien. Insgesamt wächst die Weltbevölkerung derzeit um 63 Millionen im Jahr (das Neunfache der Einwohnerzahl Österreichs), was einer Waohstumsrate von 2,1 Prozent (der höchsten je festgestellten) entspricht (Europa 1,1 Prozent). Nun umfassen aber die unterentwickelten Völker die Mehrheit der Menschen unseres Globus; 69 Prozent der Erwachsenen und 80 Prozent der Kinder. In den Industrieländern ist dagegen die Bevölkerungsentwicklung keineswegs explosiv, wenn auch die Stagnation seit 1900 nach 1950 einem beachtlichen Bevölkerungsanstieg gewichen ist.

Was bedeutet aber die europäische Bevölkerungsentwicklung, wenn wir uns die Ziffern außereuropäischer Länder ansehen? Zwischen 1950 und 1960 betrug der Zuwachs an Menschen (nicht die Geburtenrate!) in Ceylon 26,8 Prozent, in Malaya 32,1 Prozent, in Costa Rica 33,7 Prozent und in El Salvador 33,9 Prozent. Bei einem Jahreszuwachs von drei Prozent verdoppelt sich aber die jeweilige Bevölkerung schon in 23 Jahren!

Die Regulative

Der gegenwärtige Aufstieg der Bevölkerung vollzieht sich nicht in Anpassung an die lokalen Lebensbedingungen, sondern unabhängig von der ökonomischen Entwicklung einfach als Folge medizinisch-pharmazeutischer Fortschritte. Das grausame Regulativ von Krieg und Seuchen ist nicht mehr in gleicher Weise wirksam wie etwa im Mittelalter. Die Variable in der Bevölkerungsentwicklung ist nicht wie ehedem die Geburtenziffer, sondern die Todesfallquote. Die sogenannten „jungen“ Völker erhalten wohl medizinische Hilfe, die Leben erhält und relativ erheblich verlängert, sie haben aber nicht die Kraft und oft auch nicht den Willen, ihr Sozialprodukt angemessen zu vergrößern. In 34 unterentwickelten Ländern war die Beziehung zwischen Bevöl kerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung negativ.

In den ersten Perioden der industriellen Revolution zwang die Vermehrung der Bevölkerung zu einer Steigerung. der Produktivität je Kopf. Mehr Menschen bedeutete mehr Produzenten, wenn auch das Mehr an Produktivität vorerst nicht an die Arbeiterproduzenten, sondern an die Kapitaleigentümer übereignet wurde. In den Zentren des außerordentlichen Bevölkerungszuwachses der Gegenwart bedeutet ein Mehr an Menschen vielfach lediglich ein Mehr an Konsumenten, an die Nurkonsumenten. Eine Vermehrung der Bevölkerung macht es möglich, an Stelle der Mechanisierung weiterhin billige menschliche Arbeitskraft einzusetzen. Die intellektuellen Eliten, die jenen Mittelstand konstituieren könnten, dem der wirtschaftliche Aufstieg Europas in den letzten Jahrhunderten zu verdanken ist, werden weitgehend unproduktiv und für abstrakte Ziele eingesetzt. Man hat wohl Doktoren der politischen Wissenschaften, aber keine Handwerker; Philosophen, aber keine fachlich gebildeten Landwirte. Die Folge ist eine wachsende Unterversorgung. Malthus vertrat seinerzeit die Annahme, daß die Bevölkerungsentwicklung eine Funktion des Nahrungsspielraumes sei. Die Medizin vermag jedoch einigermaßen jene Menschen am Leben zu erhalten, die ehedem wegen Unterernährung gestorben wären, und wirkt in den unterentwickelten Ländern den Versorgungsfolgen der wirtschaftlichen Überbevölkerung zum Teil entgegen.

Mehr Luft und Wasser

Die Bedeutung der Versorgung mit Nahrungsmitteln für die zahlenmäßige Entwicklung einer Bevölkerung ist heute nicht mehr die gleiche als zur Zeit von Malthus. Im Haushaltsbudget nimmt das Gewicht der Ausgaben für Nahrungsmittel kontinuierlich ab. In Österreich gab man 3961 noch 41,6 Prozent der Haushaltseinnahmen für Nahrungsmittel aus, in den USA waren es 1958 nur mehr 33 Prozent, eine Ziffer, die bis 1970 auf 22 Prozent gesunken sein soll. Die Existenzbedürfnisse erfahren eine inhaltliche Wandlung.

In dem Umfang, in dem die Bedeutung der Versorgung mit Nahrung und Kleidung abnimmt, wächst das Gewicht, das eine Bevölkerung dem bedmißt, was man oberflächlich „Komfort“ nennt, steigt das Versorgungsmanko an Dienstleistungen und vor allem an unproduzierbaren Gütern: Luft

(„gute Luft“), Wasser und Raum (Erholungsraum).

Die Verstädterung verkleinert in einem bedenklichen Umfang den Lebensraum der Menschen. Wasser und frische Luft werden allmählich Mangelware, auch in Österreich. Nun kann man Lebensmittel sogar synthetisch hersteilen, nicht aber etwa Wasser, wenn es auch möglich ist, das vorhandene Wasser durch ungemein kostspielige Operationen umzuverteilen.

Angesichts geschichtlicher Erfahrung darf man annehmen, daß sich die Erdbevölkerung keineswegs in jenem Umfang weiterentwickeln wird, der etwa zu einer Versieben- fachung in hundert Jahren führen wird, auch wenn es die derzeitige Zuwachsrate vermuten läßt. Offenkundig wird jeweils ein von Region zu Region verschieden hoher Bevöl- kerungsstand und ein bestimmtes Maß der gesellschaftlichen Verdichtung von den Angehörigen eines Volkes als „unzumutbar“ empfunden und mit einer Verringerung des Geburtenzuwachses beantwortet. US-amerikanische Untersuchungen lassen Schlüsse in dieser Richtung zu. Mehr freilich nicht.

Auch die Kirche kann nicht der Bevölkerungsentwicklung in bestimmten Regionen ohne Anteilnahme zusehen und davon ausgehen, daß die Erde — weil noch „menschenleer“ — in kurzer Frist eine unproportionierte Agglomeration durchaus vertragen könne. Daher sagt die Kirche nicht nein zu einer Einflußnahme auf die Bevölkerungsentwicklung, ist jedoch um eine Lösung bemüht, die in Einklang mit dem Sittengesetz steht.

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