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Weltbild und physikalische Erscheinungen

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Während sich der Rationalismus des vergangenen Jahrhunderts der gewissen Hoffnung hingab, das Weltgeschehen in seinem letzten Wesen mit der Vernunft zu ergründen, sieht er sich heute mehr und mehr in dieser Hoffnung getäuscht. Je mehr wir eindringen in die Geheimnisse der Natur, um so mehr zerrinnt un zwischen den Fingern, was wir so fest in Händen zu haben meinen. Noch John Locke unterschied an der Materie primäre und sekundäre Eigenschaften. Die Schwere, die Undurchdringlichkeit schienen ihm wesentliche Attribute jedes materiellen Körpern, die sich allein schon aus dem „Materie-sein" des Körpers ergaben. Es sind erst wenige Jahre her, daß von den Physikern umgekehrt dem schwerelosen Lichtäther die Existenz abgesprochen wurde, da ein Körper ohne Schwere ein Widerspruch in sich sei. Dagegen war die Undurchdringlichkeit der Materie schon früher mit der näheren Untersuchung der Gase, die zwar schwer, aber nicht eigentlich undurchdringlich sind, erschüttert. Erst recht mit den Berechnungen der modernen Atomphysik verliert sie ihre Selbstverständlichkeit: Es bedarf besonderer Erklärung, wie es möglich ist, daß die Materie als ein dichtes Kontinuum erscheint, obwohl sie fast nur aus leerem Raum besteht, ganz sporadisch von einzelnen Atomen und ihren Teilchen unterbrochen. Dichte, Undurchdringlichkeit folgen nicht mehr an sich aus dem Wesen der Materie.

Nicht anderes finden wir bei der Schwere. Das Gewicht ist nicht in höherem Maße eigentümliche Eigenschaft materieller Körper als etwa ihre Farbe, ihr Geruch. Aus. dem Begriff der Materie an sich folgt die Schwere keineswegs. Ein Physiker, der nie einen Stein gehoben hat, könnte durch bloßes Denken nicht daraufkommen, daß er schwer ist. Nur die Beobachtung zeigt, daß es eben so ist — aber es könnte auch anders sein. Die Physik kennt heute ohne Zweifel nur einen Bruchteil der Eigenschaften der Materie. Wir brauchen nur darauf zu verweisen, daß vor zwei Jahrhunderten noch niemand etwas von einer elektrischen Leitfähigkeit wußte. Wir stehen erst am Anfang. Es ist uns durchaus denkmöglich, ine andere Welt aus einer Materie zu konstruieren, die ganz andere Eigenschaften hätte als die Materie der uns gegebenen Welt. Am leichtesten erscheint es, einzelne, bestimmte Eigenschaften der Materie wegzudenken. Eine solche vereinfachte Welt gibt uns zum Beispiel der Film. Auch im Traum sind die Gesetze der Physik geändert. Wir schweben schwerelos durch den Raum, die Dinge weiden aus nichts und vergehen in nichts, Raum und Zeit verlieren ihre strenge Kontinuität. Weit schwieriger jedoch als das Weglassen irgendeiner in der Natur gegebenen Eigenschaft ist es, neue Eigenschaften für die Materie zu ersinnen. Eine gewisse Vorstellung einer solchen Möglichkeit mag uns die „Riechbar-keit" der materiellen Körper geben, wie sie in der Beobachtung der verschiedensten Tiere zutage tritt. Es ist für den Kulturmenschen eine völlig neue und überraschende Erfahrung, daß jeder Körper nicht nur schwer und sichtbar ist, sondern auch einen spezifischen Geruch besitzt. Die Riechleistungen, insbesondere der Insekten, sind durchaus mit unseren Schall- und Lichtwahrnehmungen zu vergleichen. Gerade hier wird es deutlich, daß sich der Geruch ebensowenig oder ebensogut aus dem Begriff der Materie ableiten läßt wie etwa die Schwere.

So wie wir aus diesen wenigen Beispielen ersehen, daß die einzelnen Eigenschaften der Materie nicht aus einem selbstverständlichen Zusammenhang, aus einem inneren Zwang zueinander gefügt sind, sondern, nennen wir es ruhig „willkürlich“, festgelegt erscheinen, so finden wir auch sonst in der Natur stet das gleiche: Zusammenhänge, die nicht aus den Dingen heraus sich ergeben, sondern in sie hineingelegt sind. Die große Frage nach dem „Warum" findet immer die gleiche Antwort: es ist eben so und nicht anders. Wir dürfen uns nicht irreführen lassen. Beantworten wir ein Warum, so tut sich stets ein neues auf. Haben wir irgendeinen Kausalmechanismus um ein Glied weiter enthüllt, so kommen wir damit doch wieder zu einem neuen Warum. Haben wir eine Erscheinung auf noch so allgemeine Naturgesetze zurückgeführt, ao bleibt doch immer die eine Frage, warum diese Gesetze gerade so sind und nicht anders. Daß sie so sind, folgt nicht aus der Natur der Sache, läßt ich nicht aus dem Wesen der Materie oder ihrer Wirkungen ableiten, eine Tatsache, auf die schon David Hume besonders hingewiesen hat. Wir können es nur so hinnehmen, daß es eben so ist, willkürlich gewollt. Aber selbst in diesem Zusammenhang, daß wir eine Erscheinung auf eine Ursache und diese wieder auf eine frühere Ursache zurückführen, in diesen Kausalketten finden wir nur genau die gleiche Erkenntnis. Daß eine rollende Kugel eine zweite Kugel auch zum Rollen bringen kann, ist vielleicht verständlich. Aber wie folgt zum Beispiel der Donner aus dem Blitz? Wie können so verschiedene Dinge aus einander entstehen? Liegt es im Wesen des Blitzes, den Donner zu erzeugen? Nein, nie könnten wir von diesem Zusammenhang wissen, wenn wir ihn nicht vorher beobachtet hätten. Physikalisch sprechen wir fachlicher von ionisierter Atmosphäre, von bewegten Elektronen, von Erschütterungen der Luft. Aber daß dies alles miteinander zusammenhängt, bleibt doch Willkür. Es könnte durchaus anders sein.

Verweisen wir damit auf dieses willkürliche, nicht voraussagbare Neben- und Nacheinander in der Natur, so soll dadurch nicht die Möglichkeit und der Wert einer physikalischen Erklärung geleugnet werden. Im Gegenteil, über die Anschauung der heutigen Physik gehen wir einen Schritt hinaus, wenn diese Zusammenhänge von der Materie her erklärt werden: da in der Materie bereits optische, elektrische, mechanische und akustische Eigenschaften aneinandergekoppelt sind, muß auch bei jeder Wirkung dieser Materie notwendigerweise jede dieser Eigenschaften mehr oder weniger zur Wirkung kommen. Eines soll aber gezeigt werden: daß wir mit all unseren Erklärungen nichts wirklich erklären können, sondern nur eben Beobachtetes feststellen; daß unter vielen Möglichkeit immer nur eine bestimmte .eintritt’, die nicht wir auswählen können, ja die wir nicht einmal voraussagen können, wenn wir sie nicht vorher schon einmal beobachtet haben. Kennen wir eine Eigenschaft der Materie, so können wir daraus in keiner Weise irgendeine der anderen Eigenschaften erschließen, auch wenn wir diese eine Eigenschaft in ihrem Wesen völlig erfaßt hätten. Allein die Erfahrung kann uns etwas Neues sagen. Ganz gleich ist es, wenn wir eine Ursache und die zugehörige Wirkung kennen. Nie läßt sich durch bloßes Nachdenken für eine andere Ursache die nachfolgende Wirkung voraussagen, denn die Wirkung ist nicht im Begriff der Ursache, in ihrem Wesen gegeben. Was wir beobachten, ist nur ein rein zeitliches Aufeinanderfolgen von Ereignissen, für deren Zusammenhang wir keinen anderen Grund angeben können, als daß es eben so ist.

Gehen wir diesen Gedanken weiter nach, so kommen wir fortschreitend zu dem Grenzübergang von der unbelebten Natur zur belebten und weiter zur Welt des Geistes. Während der krasse Materialismus des letzten Jahrhunderts das Denken in die Bewegung der Gehirnmoleküle verlegte und der psycho-physische Parallelismus noch immer der mechanistischen Auffassung verhaftet bleibt, indem jedem geistigen Vorgang eine spezifische Veränderung im Denk- Organismus zugeordnet wird, kommen wir zu einem willkürlich festgelegten, sozusagen symbolischen Zusammenhang zwischen dem organischen und dem geistigen Geschehen, wie er eben auch sonst allenthalben in der Natur zu beobachten ist. Es ist tiefste Weisheit in alten Mythen und Märchen, daß die wesentlichsten Geschehnisse immer durch symbolische Handlungen bewirkt werden. So wenig oder so viel der Zauberstab mit der Verwandlung der Prinzessin zu tun hat oder der Blitz mit dem Donnef, so wenig haben die bewegten Moleküle der Großhirnrinde mit unserem Denken zu tun. Und doch besteht ein wesentlicher, ja eben streng kausaler Zusammenhang. Es ist wie in den Spielen der Kinder: „Dieses Stück Holz ist der Onkel Doktor und dieses Stück Holz ist das kranke Kind.“ Dann geht alles so vor sich, als ob wirklich das kranke Kind hier wäre und der Arzt. Durch den Willensakt des Kindes hat das Stück Holz völlig neue Eigenschaften und neue Wirkungen. In diesem Vergleich finden wir ein Geheimnis der Natur. Durch einen Willensakt hat der materielle Körper gerade diese Eigenschaften, hat diese Ursache gerade diese Wirkung. Der Wille des Kindes ist nur für sdas Kind selbst und für seine Spielkameraden bindend, der Wille Gottes aber, der die Welt geschaffen hat, ist für das ganze Weltall Gesetz. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten ist ein bestimmter Teil herausgegriffen, nur ein Teil, mag er nun endlich oder unendlich groß sein, ‘willkürlich herausgegriffen. So finden wir für das nie endende „Warum“ die Antwort im Willen Gottes. Die Eigenschaften der Materie, die Gesetze der Physik, sind nicht im Wesen der Natur begründet, von innen heraus gegeben, sondern sie sind durch den Willen des Schöpfers so festgelegt. Was bleibt von der Materie? Eine Summe von Eigenschaften und Wirkungen, die nicht als solche gegeben sind, sondern wie im Spiel der Kinder gewollt: es soll so und so sein.

Hinter dieser Summe physikalischer Eigenschaften, dieser Summe physikalischer Wirkungen und Wirkungsmöglichkeiten kann die Physik nichts finden, keinen Träger der Eigenschaften, kein Kantisches Ding an sich, keine platonische Idee. Aber als Summe unserer Betrachtungen finden wir hinter den Dingen das willkürliche „Es soll so sein", den freien Willen Gottes. Deutlicher noch als in der Physik herrscht dieser freie Wille in allem Lebenden. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen bei Pflanze und Tier, Werden und Wachsen, die unüberschaubare Zahl der verschiedensten Verhaltensweisen von den einfachsten Taxien über Reflex, Instinkt zum vernünftigen Handeln des Menschen, alles ist durch seinen Willen gerade so und nicht anders. Wie das Kind im Spiel oder der Künstler in Intuition und Phantasie, so hat Gott aus der Unendlichkeit des Möglichen in freier Wahl ein Stück herausgegriffen, wir nennen es Welt. Da Materielle, die so feste Erde, die kaum faßbare Weite ferner Nebelwelten, alles zerfließt in nichts.

Die Welt ist Wille und Vorstellung, aber nicht unser Wille und nicht unsere Vorstellung, wir können nur das uns Gegebene feststellen und hinnehmen. Die Welt wird ein Gedanke Gottes.

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