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Wenn der Lebenswille erstirbt

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Die Ausfuhrungen des erfahrenen Nervenarztes wenden sich an das Interesse weitester Kreise, der Träger des Erziehungswesens, der Eltern wie der Pädagogen, der Priester wie der Arzte, aber auch aller Volksboten, dessen die Hut des Volkswohlcs anvertraut ist. Die überwundene Ära hat durch ihre Lehre von dem lebensunwerten Leben und die Erlaubtheit seiner Tötung und noch mehr durch den Anspruch auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens zu nationalen und rassischen Zwecken, den ethischen Begriff des menschlichen Lebens erschüttert. Das erschreckende Überhandnehmen der Selbstmorde in Deutschland, das nun durch schwere Notstände seinen äußeren Anstoß findet, erhielt durch die Nietzsche-Moral des Nazismus ihre Vorbereitung. — Aber nicht nur in Deutschland ist ein scharfes Ansteigen der Selbstmordkurve festzustellen. Die Häufigkeit der Erscheinung in der Gegenwart zeigt, wenn auch für die letzten Jahre zuverlässige statistische Daten für ein größeres Beobachtungsgebiet noch fehlen, eine Erkrankung an, die öffentliches Interesse erfordert. „Die Furche“

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Die Ausfuhrungen des erfahrenen Nervenarztes wenden sich an das Interesse weitester Kreise, der Träger des Erziehungswesens, der Eltern wie der Pädagogen, der Priester wie der Arzte, aber auch aller Volksboten, dessen die Hut des Volkswohlcs anvertraut ist. Die überwundene Ära hat durch ihre Lehre von dem lebensunwerten Leben und die Erlaubtheit seiner Tötung und noch mehr durch den Anspruch auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens zu nationalen und rassischen Zwecken, den ethischen Begriff des menschlichen Lebens erschüttert. Das erschreckende Überhandnehmen der Selbstmorde in Deutschland, das nun durch schwere Notstände seinen äußeren Anstoß findet, erhielt durch die Nietzsche-Moral des Nazismus ihre Vorbereitung. — Aber nicht nur in Deutschland ist ein scharfes Ansteigen der Selbstmordkurve festzustellen. Die Häufigkeit der Erscheinung in der Gegenwart zeigt, wenn auch für die letzten Jahre zuverlässige statistische Daten für ein größeres Beobachtungsgebiet noch fehlen, eine Erkrankung an, die öffentliches Interesse erfordert. „Die Furche“

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In Europa ist die Anzahl der Selbstmorde seit ihrer statistischen „Erfassung, in den einzelnen Staaten verschieden, aber durch-schnittlich seit mehr als 100 Jahren in ständigem Anstieg begriffen. In Schweden ist die Selbstmordziffer (auf 1 0 0.0 0 0 Einwohner berechnet) von 1801 bis 1933 um 426 Prozent, in Deutschland von 1832 bis 1932 um 190 Prozent, in Österreich von 1870 bis 1900 von 1560 auf 4215, also weit mehr als die Hälfte gestiegen. Seither ist die Kurve in noch rascherem Anstieg begriffen. In Wien hat sich die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche allein in den Jahren von 1901 bis 1926 um 125 Prozent erhöht, in England die der Selbstmorde von 1911 bis 1932 um 63 Prozent und in Deutschland um 33 Prozerrt. Ein Uberblick über Teüstatistiken aus der Zeit nach 1900 gestattet die Annahme, daß die Anzahl der Selbstmorde in Europa jetzt jährlich 10 0.000 betragen dürfte. Dies ist eine Mindestzahl, denn die unerkannten und verheimlichten Selbstmorde sind in ihr nicht enthalten; ebensowenig die Selbstmordversuche, die psychologisch und soziologisch dieselbe Bedeutung wie die vollendeten Selbstmorde haben. Ihre statistische Erfassung, wie sie zum Beispiel die Anzeigepflicht im Kanton Zürich ermöglicht, würde die ganze Größe des Problems noch deutlicher, man darf wohl sagen, erschrek-kender vor Augen führen.

Die Selbstmordzunahme hat verschiedene Ursachen. Unbestritten gilt als solche die Verlängerung der menschlichen Lebensdauer. In den letzten 80 Jahren ist die durchschnittliche Lebenslänge der europäischen Menschheit durch medizinische Fortschritte und ökonomische Verbesserungen bekanntlich bedeutend erhöht worden, hauptsächlich durch den starken Rückgang der Kindersterblichkeit. Aber auch in den höheren Altersstufen, selbst bei den ältesten Menschen ist eine größere Sicherung der Lebensdauer zu verzeichnen. So betrug im Deutschen Reiche die Lebenserwartung der 70jährigen Männer um 1875 rund 7}4 und um 1925 rund SSU Jahre. Die der 80jährigen in denselben Zeiträumen noch 4 und* 4*Ai Jahre. In allen europäischen Ländern zeigt es sich, daß der Selbstmord mit zunehmendem Lebensalter immer häufiger wird. So entfielen, zufolge einer Statistik, auf eine Million Personen 247 Selbstmorde von Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren, und 522, also mehr als das Doppelte, im Alter von 70 bis 80 Jahren. In den Jahren 1909 bis 1928 lag zum Beispiel in Hamburg der Gipfel der Selbstmordziffern immer zwischen dem 70. und 80. oder 80. und 90. Lebensjahr bei beiden Geschlechtern. EHese beiden Tatsachen, die Zunahme der Selbstmordhäufigkeit mit zunehmendem Alter und die Verlängerung der menschlichen Lebensdauer auch in den höheren Altersstufen, beeinflussen maßgeblich das statistische Bild.

Während früher der Anstieg der europäischen Selbstmordkurve hauptsächlich durch Zunahme der Männers;!bstmorde bedingt war, fallen jetzt auch die der Frauen als

mehrender Faktor sehr ins Gewicht. Im 19. Jahrhundert war das Verhältnis der Männer- zu den Frauenselbstmorden in Europa ungefähr 4 : 1. 1901 bis 1913 nimmt in Deutschland der Selbstmord von Man-' nern um 23 Prozent, von Frauen um 70 Prozent zu, während 1913 auf 100.000 Einwohner 11,9 Frauenselbstmorde entfielen, waren es 1932 bereits 17.4. Die Hauptursache hiefür ist in der immer stärkeren Beteiligung der Frau am Erwerbsleben und dadurch bewirkten Veränderungen, ihre Stellung in der Familie, ihre Lösung aus dem bisherigen sozialen Milieu zu suchen.

Die Erleichterung der Selbstmordausführung, wenn sie eine allgemeine ist, wie bei der Verwendung des Leuchtgases in den Großstädten, vermag ebenfalls, wie dies in England auch festgestellt worden ist, diese Todeskurve ungünstig beeinflussen.

Die bisher angeführten Ursachen können aber die Stärke der Selbstmordzunahme nicht erklären. Es muß ein viel genereller wirkender Faktor dafür verantwortlich sein.

Mit der Bevölkerungszunahme durch die Verlängerung der Lebensdauer ist die Suche nach einem Lebenserwerb immer schwieriger geworden und hat immer mehr Menschen von dem Boden, aus dessen

Ertrag man in früheren Zeiten leben konnte, weggeführt. Die Landflucht brachte den Aufenthalt in den Städten, die größere Wohndichte mit großen Konfliktmöglichkeiten, den Wegfall der Bindung an die nächsten Angehörigen und besonders das Alleinsein, die Erschwerung des Kampfes ums Dasein und den Anreiz zur Nachahmung, der einen nicht zu unterschätzenden Faktor innerhalb der beklagten Erscheinungen darstellt. Die Großstadt ist heute ein ausgesprochenes Selbstmordmilieu. In ihr strömen zweifelhafte Naturen und seelisch gefährdete Personen zusammen (Psychopathen, Rauschgiftsüchtige, gescheiterte Existenzen), auf sich selbst angewiesene Jugend in dem selbstmordgefährlichen Pubertäts- und Nachpubertätsalter, und in ihrer Ehe gescheiterte. Geschiedene Männer zwischen 60 und 70 Jahren haben überhaupt die höchste Selbstmordziffer.

Österreich war 1932 mit 44 Selbstmorden auf 100.000 Menschen der selbstmordreichste Staat Europas. Die Erklärung dafür ist eben darin zu finden, daß in Wien allein mehr als ein Viertel und in den größeren Städten zusammen ungefähr ein Drittel der gesam-

ten Staatsbevölkerung lebt. Dadurch ist ein allzu großer Teil der Bevölkerung von der Verstädterung mit allen selbstmordmehrenden Faktoren betroffen. Es mögen noch andere Faktoren in der Europamitte zusammenwirken: darauf scheinen die fast auf gleicher Höhe stehenden Selbstmordziffern von Wien und Budapest hinzuweisen.

Mit fortschreitender Zivilisation haben die Ansprüche der Menschen an das Leben und die Befriedigung der Ansprüche nicht gleichen Schritt gehalten. Solange der Durchschnittseuropäer noch in seinen sittlichen und religiösen Kräften einen festen inneren Halt hatte, konnten die Verstädterung und das Mißverhältnis zwischen Ansprüchen und Befriedigung ihn nicht leicht dazu verleiten, das Leben von sieh zu werfen. Erst dann, wenn mit der fortschreitenden Zivilisation die religiöse Verankerung des Menschen geschwächt wird, versagt in schweren Lagen die Stärke seines Lebenswillens und nimmt die Neigung zur Flucht aus dem Leben zu. Abnahme der Religiosität bedeutet größere Selbstmordhäufigkeit. Als Beispiel pflegt man auf die Juden hinzuweisen. Die Statistiken zeigen, daß die Juden, die bei der Einwanderung aus ihren gesdilossenen Siedlungen im Osten Europas nach den westlichen Kulturstädten vielfach auch ihre mosaische Religion verlieren, eine sehr starke Zunahme der Selbsmorde aufweisen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen in Preußen die Selbstmorde bei den Juden um das sechsfache zu.

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