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„Wer Augen hat, der sehe!“

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Als diese Aufforderung erging, war zunächst das physische Sehvermögen und erst in übertragenem Sinne die geistige Schau gemeint Wahrscheinlich konnten aber dieser Einladung viele Anwesende, die an einer der im vorderen Orient auch heute noch weitverbreiteten Krankheiten erblindet waren, nicht nachkommen.

Demgegenüber klingt es seltsam, daß sich in Oesterreich wie auch in den westlichen Ländern heute im allgemeinen mehr Gesunde als Kranke zuip Augenarzt begeben. Dieser überraschende Sachverhalt, an dem nicht einmal die auf Einsparungen bedachten Sozialversicherungsträger zu rütteln vermögen, ergibt sich zunächst einmal daraus, daß fast jeder Angehörige unseres Kulturkreises — selbst wenn er unter keiner eigentlichen Augenkrankheit leidet — früher oder später einer Brille bedarf, um den Anforderungen des täglichen Lebens gerecht werden zu können. Ueberdies geht aber auch die Häufigkeit verschiedener Augenkrankheiten zurück: so konnten zahlreiche Augenentzündungen, insbesondere solche bakterieller Natur, ebenso wie verschiedenartige Folgeerscheinungen <ler Tuberkulose und der Lues, soweit sich diese am Sehorgan zu manifestieren pflegen, infolge mannigfaltiger Forschritte auf hygienischem und therapeutischem- Gebiet in den letzten Jahrzehnten weitgehend eingedämmt werden. Immer mehr schieben sich allerdings die Gruppe der Alterserkrankungen, unter denen in erster Linie der Greisenstar sowie jene Gefäßleiden, die als Abnützungserscheinungen zu betrachten sind, in den Vordergrund. Numerisch von geringerem Gewicht, für den einzelnen jedoch nicht minder bedeutsam erscheint eine Reihe kürzlich noch unbekannter Krankheitsformen, die erst seit der Einführung neuer Untersuchungsmethoden festgestellt werden können.

Die operative Therapie nahm seit jeher einen breiten Raum in der Augenheilkunde ein. Heute bleibt sie im wesentlichen dem an einer Augenabteilung tätigen Arzt vorbehalten, da die Beherrschung der verfeinerten Operationsverfahren ein beständiges Training verlangt. Im Krankengut der Augcn-abteilungen selbst dominieren daher auch die operativen Fälle — wie die Grauen und Grünen Stare, die Netzhautabhebungen und i-verletzungcn — bei weitem über die konservativ behandelten. Beträchtlich angewachsen ist der unumgänglich nötige Sachaufwand eines Institutes für Augenbehandlung. Müssen doch optische Präzisionsgeräte, chirurgische Instrumente subtilster Ausführung von einigen wenigen hochspezialisierten Erzeugern bezogen werden.

Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich das Bild der Augenheilkunde in mehrfacher Hinsicht geändert. Um die Jahrhundertwende suchten beispielsweise täglich 60 bis 80 Trachomkranke eine der beiden Wiener Uni-vcrsitätsaugenkliniken auf; derzeit ist dieses Leiden in unserem Lebensraum praktisch erloschen. Die Zahl der desolaten Fälle, der verschleppten Neubildungen der weitfortgeschrittenen Grünen Stare war einst bedeutend größer als heute. Nichtsdestoweniger bleiben die ärztlichen Aufgaben — das Ende der in vollem Gange befindlichen Diskussionen über viele Krankheiten ist nicht abzusehen — bestehen, wenn sie sich auch zum Teil auf andere Gebiete verschoben haben. So &#171;teilen die vorbeugende Medizin, die therapeutische Altersfürsorge, das Gutachterwesen die Tätigkeit des Augenarztes vor neue Aufgaben.

Diese Entwicklung hat vom medizinischen Wien kräftige, zu Zeiten sogar richtunggebende Impulse erhalten. Aus einer Reihe hervorragender Persönlichkeiten seien hier genannt: Ernst Fuchs, der geniale klinische Beobachter, Entdecker zahlreicher Krankheitsbilder und Verfasser eines in der ganzen Welt bekannten Lehrbuches, und drei seiner Schüler: Maximilian S a 1 z m a n n, der kürzlich seinen 90. Geburtstag feiern konnte;

sein 1912 erschienenes Werk über die normale Histologie des Auges besitzt heute noch volle Gültigkeit. Josef Melier, Autor der okulistischen Operationslehre, die in deutscher und englischer Sprache die höchsten Auflageziffern erreicht hat. Karl L i n d n e r, dessen wissenschaftliches Lebenswerk das Merkmal der Wiener Schule — die auf praktisch-klinische Belange gerichtete Zielsetzung — widerspiegelt. Es enthält unter vielem anderem grundlegende Erkenntnisse über der&#187; Erreger des Trachoms und über die bakteriellen Bindehauterkrankungen; ferner eine einfache Methode, die den Arzt in die Lage versetzt, genaue Brillenbestimmungen ohne Zutun des Patienten, so z. B. bei Kleinkindern, vorzunehmen; sodann zahlreiche operative Anregungen, durch die insbesondere die Gefahren der Starausziehung vermindert und die Heilungsaussichten der Netzhautabhebung gebessert wurden. Die über mehr als ein Vierteljahrhundert reichenden Erfahrungen aus Lindners akademischer Lehrtätigkeit wurden unlängst in einem Lehrbuch zusammengefaßt. Reger wissenschaftlicher Verkehr verbindet die unter seiner Leitung stehende Klinik mit der ganzen Welt: Aerzte aller Rassen als Besucher, Lindner selbst auf Lehrreisen durch alle Kontinente. Seine zahlreichen auswärts lebenden Schüler und Verehrer, die durcU ihn auch zu Freunden Oesterreichs geworden sind, verbinden sich in diesen Tagen im Geiste mit den in Wien weilenden zur 70. Geburtstagsfeier ihres Lehrmeisters, der sich in ungebeugter Schaffenskraft und stiller Bescheidenheit durch eine Operationsund Vortragsreise nach Indien den äußeren Ehrungen entzogen hat.

Als aufrechter Christ hat sich Professor Lindner nie gescheut, seiner religiösen Ueber-zeugung Ausdruck zu verleihen. Beschäftigt mit der Physis der Sehorgane mag seine Handlungsweise aber auch das geistige Auge manches Pflegebefohlenen großen Erkenntnissen empfänglich gemacht haben.

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