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„Wie geht's uns denn, Herr Delinquent?”

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Haben wir uns vom „humanen” Strafvollzug zu viel versprochen? Die jüngsten Fälle von Gewaltverbrechern lassen Zweifel aufkommen, ob die Entscheidung richtig war.

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Haben wir uns vom „humanen” Strafvollzug zu viel versprochen? Die jüngsten Fälle von Gewaltverbrechern lassen Zweifel aufkommen, ob die Entscheidung richtig war.

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Nach den spektakulären ^ Fällen Jack Unterweger, 1 1 Karl Otto Haas (Mord während eines Freiganges) und Franz Stockreiter (Mord an seiner Therapeutin) schlägt nun der „Kriminalfall Ott” hohe Wellen. Es hagelt Kritik an der Justiz, auch die Psychotherapie und ihr Einsatz bei abnormen Rechtsbrechern sind einmal mehr ins schiefe Licht geraten. Die Vorwürfe reichen von unverantwortlich laxem Verhalten der Behörden bis zu einem falsch angelegten humanen Strafvollzug „linker” Psychologen und Therapeuten.

Immerhin gestanden im Fall Haas sogar Experten ein, die Psychotherapie habe sich zu viel Optimismus geleistet. Auch jetzt ist von „Ernüchterung und Betroffenheit” die Rede. Ist der „humane” Strafvollzug tatsächlich am Ende? Oder handelt es sich nur um tragische Einzelfälle, um therapeutische „Kunstfehler”, die eben auch anderswo, etwa in der Medizin, passieren?

Für den Präsidenten des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (er ist seit kurzem auch Präsident des World Council for Psycho-therapy), Alfred Pritz, liegen die wirklichen Probleme ganz woanders: Man könne die Arbeit der Psychotherapie in den Strafanstalten weder verdammen noch rühmen. Die Intention der Strafrechtsreform von 1975 mit dem Kern eines „humanen” Strafvollzuges sei nämlich noch gar nicht richtig in die Praxis umgesetzt worden: dikFijrchb Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Fall Ott, bei dem die Psychotherapie erneut in ein schiefes Licht geraten isP Alfred Pritz: Ich kenne den Fall nur aus den Zeitungen. Auf gar keinen Fall sollten voreilige Schlüsse gezogen weder „Mehr Psychotherapie zu diesen schweren Fällen!” oder umgekehrt „Weg mit der Psychotherapie!” zu verlangen, wäre falsch. Das sind Pauschalthesen, die mit wirklichen* Problemlösungen nichts zu tun haben.

diefurche: Die Psychotherapie wird aber zunehmend suspekt, zumal die Öffentlichkeit keine klaren Vorstellungen davon hat, was sie kann und tut pritz: Die österreichische Psychotherapie ist weltweit anerkannt - sozusagen ein Exporthit. Im System der offiziellen Medizin gibt es sie erst seit fünf Jahren, als 1990 das Psychotherapiegesetz verabschiedet wurde. Erst seit diesem Zeitpunkt gibt es eine klare Regelung der Ausbildung, der Berufsstruktur und der ethischen Normen. Vorher war die Psychotherapie tatsächlich eine diffuse Angelegenheit.

Die offizielle Einführung der psychotherapeutischen Behandlung von Rechtsbrechern stammt hingegen schon aus dem Jahr 1975, ist also eineinhalb Jahrzehnte älter. Sie war ein Bestandteil der Strafrechtsreform von 1975 mit ihrem Grundgedanken des „humanen” Strafvollzuges.

diefurche: Und in der Praxis? pr1tz: Da ist nicht viel gefolgt. Es wurde bei der Psychotherapie immer gespart, vorzugsweise bei den Häftlingen.

Und es gibt nach wie vor im Justizbereich keine rechtliche Adaptierung für Psychotherapie. Die Rechtsgrundlage ist zwar da, aber die Durchführungsmöglichkeiten wurden nicht geschaffen. Im Gesetz steht lediglich, daß Häftlinge auch psychotherapeutisch zu behandeln sind. Nähere Ausführungen, wie das zu geschehen hat, gibt es nicht. Und dementsprechend schaut die Therapie auch aus! Sie wird bei einigen Fällen gemacht, und auch oft bei Fällen, wo sie nicht indiziert ist. Im Fall Jack Unterweger ist sie nicht indiziert gewesen. Im Fall Karl Otto Haas ist offen, ob das eine ordentliche Therapie gewesen ist oder nur ein ße-treuungsgespräch nach dem Motto: „Na, wie geht's Dir denn?” Es gibt keine Regeln und Vorkehrungen für Psychotherapie im Gefängnis. Sie ist nach wie vor nur oberflächliche Masche.

dieFurche: Wird da jetzt etwas geändert?

pritz: Ich habe eine Arbeits-► gruppemit 100 Mitgliedern gebildet. Die sollen Bedingungen und Strategien ausarbeiten, wie man das machen kann. Man muß nämlich unterscheiden zwischen Häftlingen, bei denen die Psychotherapie einen Sinn hat und solchen, wo das nicht der Fall ist

diefurche: Weiß man das denn nicht?

pritz: Das weiß in Wirklichkeit niemand, nicht einmal das Justizministerium. Das ist völlig diffus. Das wichtigste wäre daher, festzustellen, wo Chancen bestehen und wo nicht, welche Kategorien von Häftlingen es diesbezüglich gibt und wieviele davon. Man weiß ja eigentlich nur, daß psychische und physische Haftschäden eintreten, wenn jemand länger als fünf Jahre eingesperrt ist. Oft sogar schon in kürzerer Zeit. Solange aber der wirkliche Bedarf unter dem Schleier gehalten und darüber nur ideologisch über ein Mehr oder ein Weniger an Strafe hin-und hergeredet wird, ist alles sinnlos.

dieFurche: Offensichtliche Fehleinschätzungen von Behandlungserfolgen haben jedenfalls den Tod von Menschen verursacht Oder sehen Sie das anders?

pritz: Rückblickend ist es immer leicht zu sagen, die Psychotherapie hat versagt. Im Fall Ott ist mir unklar geblieben, welche Behandlung er wirklich bekommen hat. Man weiß ja nur, wer sie durchgeführt hat. Ob sie auch ausreichend war, weiß ich nicht. Aber das ist nicht das Hauptproblem. Meine Kritik ist, daß wir in Wirklichkeit denen nicht helfen, von denen wir sicher wissen, daß das Sinn hätte.

Der Großteil jener Häftlinge, die von Psychotherapie profitieren könnten - dazu gehören etwa jugendliche Straftäter, die nach einer Lebensorientierung suchen -bekommen keine Therapie. Denen wäre schon sehr geholfen, wenn sie zum Beispiel mehr Ich-Stärke bekommen würden. Bei denen stellt sich nicht die Frage, soll man sie überhaupt therapieren und wie intensiv. Statt dessen stürzt man sich auf die ganz wenigen

Schwerstverbrecher. Die haben oft eine schlechte Prognose, während die kleinen und mittleren Kriminellen mit psychischen Problemen therapeutisch chancenreicher wären.

diefurche: Gibt es so abnorme kriminelle Menschen, daß man sie aufgrund ihrer Gefährlichkeit wirklich nie mehr in die Gesellschaft eingliedern kann Prjtz: Es gibt sie, und man kann sie tatsächlich nicht mehr herauslassen, das sind aber nur ein paar Dutzend. Die bleiben auch in Verwahrung. Über die spricht man aber leider nicht, denn das ist gegen die offizielle Ideologie.

In Wirklichkeit passieren unzählige Straftaten ja nicht aufgrund perverser Veranlagungen, sondern aus neurotischen Einengungen. Drogenabhängige etwa werden wegen wiederholten Diebstahls zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, haben keine Aussicht auf Behandlung und kommen natürlich nie mehr heraus aus dem Teufelskreis von Sucht und Kriminalität.

Dringend notwendig ist also zunächst die reelle Umsetzung der Programmideen der Strafrechtsreform von 1975. Erst dann wird klar, ob Jubel oder Kritik angebracht ist.

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