Wie viel Dreck ist gesund?

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Während antibakterielle Reinigungsprodukte boomen, raten Experten dazu, eine einfache Methode wieder mehr zu beherzigen: öfters Hände waschen.

Es braucht keine Medienberichte über ein Superbakterium, das sich, nahezu gegen alle Antibiotika resistent, weltweit ausbreitet, um bei vielen Menschen die Angst vor Keimen zu verstärken. Da reicht schon ein niesender und rotzender Fahrgast in einer überfüllten und überheizten Straßenbahn oder ein Bericht von britischen Forschern der letzten Jahre, um so manchen Händedruck zu vermiesen: Wissenschaftler der London School of Hygiene and Tropical Medicine hatten in einer Studie aus dem Jahr 2009 die Händewasch-Gewohnheiten von 200.000 Menschen auf Raststätten beobachtet. Die Ergebnisse: Nur 32 Prozent der Männer wuschen sich nach dem Gang zum WC ihre Hände, immerhin 64 Prozent der Frauen. Andere britische Forscher wollten 2008 herausgefunden haben, dass vor allem die Tastatur des Computers besonders viele Keime aufweisen würde. Sie nahmen kurzerhand ihre eigenen Tastaturen, die meisten bestanden den Hygiene-Test, einige offenbarten aber unter dem Mikroskop Unerfreuliches: Sie wiesen zahlreiche Bakterien auf, sogar mehr als auf so mancher Klobrille. Essensreste, ungewaschene Finger und Feuchtigkeit taten das Ihrige.

Erfreulich sind solche anekdotischen Untersuchungen höchstens für die Wirtschaft: Wasch- und Reinigungsmittel mit der Aufschrift "antibakteriell" oder "keimtötend" finden sich immer häufiger im Handelssortiment - von Handgels über Seifen bis hin zu Einmaltüchern. Doch das beruhigende Gefühl, das solche Produkte bei manchem hervorrufen kann, etwa nach Besuch einer öffentlichen Toilette, stößt bei Experten auf Beunruhigung. "Die Werbung für antibakterielle Produkte erzeugt eine Hysterie gegenüber Bakterien. Diese sind aber nicht böse", sagt der Umweltmediziner von der Medizinischen Universität Wien, Hans-Peter Hutter, und verweist auf unsere historisch gewachsene Angst vor Infektionen. "Von den vielen Tausenden Bakterien, die es gibt, sind nur ein paar pathogen. Der überwiegende Teil ist nützlich."

"Bakterien sind nicht böse"

Hutter warnt vor diesen Produkten: "Ihr unüberlegter Einsatz im Haushalt ist bestenfalls wirkungslos und schlimmstenfalls mit diversen Nebenwirkungen und Gefahren behaftet." Die natürliche Hautflora des Menschen könnte durch wiederholten Kontakt mit diesen Produkten gestört werden, zudem würde ein Zuviel an Hygiene Allergien begünstigen. Auch die Umwelt wird laut Hutter belastet, etwa Bakterien in Kläranlagen in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt. Diese Waschzusätze würden auch, so warnt Hutter, ein Bild vorzeichnen, das nicht der Realität entspricht: "Die Werbung suggeriert, dass es so etwas wie Keimfreiheit gibt. Das ist ein Mythos. Sogar OP-Räume keimfrei zu machen, ist extrem schwierig." Er plädiert für ein Revival eines einfach wirksamen Mittels, um sich gegen krankheitsauslösende Erreger, etwa in der Schnupfensaison, zu schützen: Händewaschen mit gewöhnlicher Seife nach Toilettengang und vor dem Essen. Nach seinen Beobachtungen wird dieser altbekannte Rat zunehmend vernachlässigt zugunsten antibakterieller Produkte. Dies reiche aber in den meisten Fällen aus. Nur bei schwereren Erkrankungen, etwa durch Salmonellen, müsste mehr Hygiene zum Einsatz kommen, hier sollte der Arzt befragt werden. Der Facharzt für Hygiene und Mikrobiologie zieht die Grenze des Zuviels an Hygiene im Alltag genau dort, wo es zum Einsatz dieser antibakteriellen Mittel kommt. Das Zuwenig sei das Vernachlässigen des Händewaschens.

Der Rat zu Seife und Wasser gilt auch für Haushalte mit kleinen Kindern, die in den ersten Lebensjahren ihr Immunsystem schulen müssen und viele Infekte durchmachen. Ein Teil des Immunsystems werde einem reif geborenen Säugling fertig mitgegeben, ein weiterer Teil müsse in der Auseinandersetzung mit der Umwelt erst gebildet werden, dies könne mit der Gedächtnisfunktion verglichen werden, erklärt die Wiener Kinderärztin und Immunologin Elisabeth Förster-Waldl (siehe Interview). Die weitere Entwicklung des Immunsystems sei an sich ein lebenslanger Prozess. "Wir sprechen aber in den ersten fünf Lebensjahren von einer physiologischen Unreife des Immunsystems." Die Folge: zahlreiche Infekte der Kinder, besonders im ersten Kindergarten- oder Krippenwinter. Zwischen vier und acht Infekte pro Jahr seien normal, sagt Karl Zwiauer, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Landesklinikum St. Pölten. Könnten Eltern dem entgegenwirken oder lässt sich das schwer vermeiden? "Man kann Kinder nicht unter einen Quargelsturz stellen, damit sie keine Infekte bekommen, das wäre auch nicht sinnvoll. Diese Infekte sind ein Trainingsfeld für das Immunsystem, das hochpotent ist. Grundsätzlich sind diese Infekte nichts Schlechtes, es muss nur vermieden werden, dass es zu solchen kommt, die dem Organismus schaden können", so Zwiauer.

Bei Infekten wird laut Praktiker nicht selten zu schnell zu Antibiotika gegriffen, auch bei viral ausgelösten, bei denen Antibiotika wirkungslos sind. Hier sei man "in Österreich noch auf keinem optimalen Weg, Antibiotika einzusetzen, wenn sie rational diagnostisch begründet sind", kritisiert er und verweist auf den Druck vonseiten der Eltern und der Ärzte, ja nichts zu übersehen. Krankheitsverläufe genau zu beobachten würde einen Mehraufwand für Eltern und Ärzte bedeuten. "Die vorschnelle Verschreibung kommt ja nicht von ungefähr."

Auch Mediziner der komplementären Richtung sehen dies ähnlich: "Die Antibiotika-Verschreibung geschieht in der Hoffnung, dass dann Ruhe ist. Der Effekt ist aber, dass die Infekte wieder auftreten. Wenn der Organismus nicht lernt, übt er eben so lange, bis er es kann", sagt der anthroposophische Kinderarzt Johann Moravansky. Er beobachtet, dass vor allem in Allgemeinpraxen oft vorschnell zu Antibiotika gegriffen werde, weil angenommen werde, dass Eltern dies wollten, und aus einem Sicherheitsdenken heraus, denn es könnte die viral ausgelöste Infektion durch eine bakterielle ergänzt werden. In Ambulanzen sei man hier zurückhaltender. Die Frage ist nach Moravansky aber nicht so sehr, ob es eine bakteriell oder viral ausgelöste Infektion ist, sondern vielmehr, wie der Organismus mit der Krankheit umgeht. Hier bedürfe es der genauen Beobachtung des Krankheitsverlaufes. Dies sei heute vielfach nicht möglich, da Eltern berufstätig und wenig Zeit hätten, ein krankes Kind über Tage bei Bettruhe zu pflegen, um so dem Arzt die Begleitung zu ermöglichen.

Keine Zeit für Bettruhe

Karl Zwiauer plädiert für einen Mittelweg. Bei kleinen Kindern sollte durchaus das Sicherheitsdenken im Vordergrund stehen, bei älteren sollte man den Erreger abklären, bevor man Antibiotika verschreibt. Zwiauer sieht aber eine Trendwende bei seinen Kollegen durch Fortbildung. "Der reine Sicherheitsaspekt und das reflexartige Verschreiben sind deutlich weniger geworden. Österreich liegt im EU-Vergleich nicht ganz so schlecht, aber es gibt Verbesserungsbedarf." (siehe Seite 21)

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