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Wie wird wer Österreicher?

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Die meisten Österreicher sind Österreicher von Geburt an, der Normalfall für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft und damit für die Erlangung der Qualifikation „Österreicher“ ist der Erwerb durch Abstammung, also durch Geburt. Für Ausländerinnen gibt es außerdem noch die Möglichkeit, durch Eheschließung mit einem österreichischen Staatsbürger zu Österreicherinnen zu werden. Weniger bekannt ist, daß der Antritt eines öffentlichen Lehramtes an einer österreichischen Hochschule eine weitere Möglichkeit des Staatsbürgerschaftserwerbs darstellt. Alle diese Fälle sind aber hier von geringerem Interesse, weil sie entweder als Selbstverständlichkeit gelten und als solche außerhalb jeder Diskussion stehen (Abstammung, Verehelichung), oder weil sie nur wenige Neo-Österreicher betreffen (Hochschullehramt). Was interessant ist, ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Verleihung.

Von 1945 bis 1965 wurden von den einzelnen Landesregierungen (die Verleihung der Staatsbürgerschaft fällt in die Kompetenz der Länder) insgesamt 178.968 Einbürgerungen vorgenommen. Aber eine Verleihung ist nicht wie die andere, und das alte Staatsbürgerschaftsgesetz (BGBl Nr. 142/1949) unterscheidet ebenso wie das neue (BGBl Nr. 250/ 1965), das am 1. Juli 1966 in Kraft tritt, zwischen vier Fällen der Verleihung, je nachdem, wie langender ansuchende Ausländer bereits seinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich hat.

Ist er seit weniger als vier Jahren in Österreich ansässig, kann ihm die Staatsbürgerschaft nur dann verliehen werden , „wenn die Bundesregierung die Verleihung als im Interesse des Bundes gelegen bezeichnet". (Nach dem neuen Gesetz dann, „wenn die Bundesregierung bestätigt, daß die Verleihung der Staatsbürgerschaft wegen der vom Fremden bereits erbrachten oder von ihm noch zu erwartenden außerordentlichen Leistungen im Interesse der Republik liegt")

Ist er mehr als vier, aber weniger als zehn Jahre in Österreich ansässig, kann er die Staatsbürgerschaft nur erhalten, „wenn das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium für Innerei bestätigen, daß ge gen die Verleihung der Staatsbürgerschaft vom Standpunkt der Interessen des Bundes kein Anstand obwaltet." („wenn … besonders berücksichtigungswürdige Gründe für die Verleihung der Staatsbürgerschaft vorliegen. In solchen Fällen ist vor der Verleihung das Bundesministerium für Inneres anzuhören.")

Hat der ansuchende Ausländer seinen ordentlichen Wohnsitz bereits seit über zehn Jahren, aber noch nicht 30 Jahre in Österreich, so kann die Landesregierung ihm die Staatsbürgerschaft ohne die Mitwirkung von Bundesbehörden verleihen. Die allgemeinen Voraussetzungen (Eigenberechtigung, Unbescholtenheit — nach dem neuen Gesetz ausdrücklich auch bezüglich ausländischer Strafen u. a.) müssen aber vorliegen.

Wenn der Ausländer bereits seit mehr als 30 Jahren in Österreich ansässig ist, so hat er gegenüber der Landesregierung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf die Verleihung.

Theorie und Praxis

Liest man den Gesetzestext, könnte man glauben, die Verleihung bei Ansässigkeit zwischen 10 und 30 Jahren sei der Normalfall, bei

Ansässigkeit zwischen vier und zehn Jahren sei die Verleihung bereits eine Ausnahme („besonders berücksichtigungswürdige Gründe“), und eine Verleihung, die im „Interesse des Bundes“ liegt, sei ein ziemlich seltener Sonderfall. Das ist aus dem Gesetz herauszulesen, und das war ohne Zweifel der Wille des Gesetzgebers.

Die Statistik spricht aber eine andere Sprache: Zwischen 1945 und dem 31. Dezember 1965 erhielten 35.010 Ausländer, die weniger als vier Jahre ihren ordentlichen Wohnsitz in Österreich hatten, die Staatsbürgerschaft. 69.764 der mit unserer Staatsbürgerschaft Bedachten waren zum Zeitpunkt der Verleihung zwischen vier und zehn Jahren in Österreich ansässig, 70.579 zwischen 10 und 30 Jahren, und 3615 der Eingebürgerten hatten ihren Wohnsitz bereits mehr als 30 Jahre in Österreich. Das bedeutet, daß in 35.010 Fällen die Bundesregierung die Einbürgerung als im „Interesse des Bundes gelegen" bezeichnet hat. Das bedeutet ferner, daß die Verleihungen der Ansässigkeit zwischen 10 und 30 Jahren, die nach dem Willen des Gesetzgebers eigentlich den Normalfall darstellen sollten, gegenüber den Ausnahme- und Sonderfällen in der Minderheit sind.

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