Wir brauchen wieder einen wie Marx!"

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Antonin Liehm war Herausgeber der Zeitschrift Literární noviny, das Sprachrohr der tschechischen Reformbewegung in den 1960er Jahren. Das System damals vergleicht er mit einem Schweizer Käse und im heutigen System sieht er die Löcher, aber was fehlt, ist ihre Beschreibung.

Die Furche: Herr Liehm Sie sind zu einer Konferenz über den Prager Frühling in die Diplomatische Akademie nach Wien gekommen. In Prag interessieren die Ereignisse vor 40 Jahren nur wenig - warum?

Antonin Liehm: In Prag interessiert niemanden nichts! Das ist nicht mehr das Prag der 1960er Jahre, das ist das Prag 2008.

Die Furche: Was war das Prag der 1960er Jahre?

Liehm: Es war der große Moment der europäischen Kulturgeschichte, von dem Milan Kundera spricht: Hervorragende Schriftsteller tauchten auf, große Filmemacher, Komponisten, Denker, das Theaterleben blühte … Die Veränderung hatte schon nach dem Tod Stalins begonnen. Nach 1953 versuchte man in der Sowjetunion und in den Provinzen das System zu beleben, aber das kulturelle, politische und wirtschaftliche Tauwetter, war gefährlich. Denn einige haben die neuen Freiheiten ernst genommen - unter ihnen der tschechoslowakische Schriftstellerverband. Wir hatten eine Wochenzeitung, die Literární noviny, in der konnten wir Sachen sagen, die man sonst nicht sagte.

Die Furche: Und das wurde vom Staatsapparat toleriert?

Liehm: Die Macht war derart geschwächt, dass sie sich nicht einmal mehr auf ihre eigene Nomenklatura verlassen konnte. Und die Literární noviny erschien in einer Auflage von 130.000 Exemplaren, wir hatten eine Million Leser, das heißt, wir waren wirtschaftlich unabhängig. Man las uns als politische Zeitung im Medium der Kultur. Und wenn man die Literatur zum politischen Schlachtfeld macht, dann wird alles zur Waffe!

Die Furche: Stark genug für den Kampf gegen ein totalitäres System?

Liehm: Das totalitäre System sieht nur von außen so aus wie ein großer Käselaib - sehr homogen, sehr stark. Aber wenn man hineinschneidet, sieht man, dass der Laib wie ein Schweizer Käse und voller Löcher ist. Wir haben damals versucht, in diese Löcher hineinzukommen.

Die Furche: Und was wollten Sie in den Löchern tun? Das System sprengen wollten Sie ja nicht.

Liehm: Was wollten die französischen Aufklärer? Wollten Voltaire oder Diderot das feudale System in ein kapitalistisches System überführen? - Das wussten die doch gar nicht. Und genausowenig wussten wir, wo uns unser Weg hinführt. Wir sind Schritt für Schritt gegangen, ohne zu wissen wohin. Die Frage für uns damals war: Was können wir innerhalb des Systems machen? Wir wollten nicht das Regime stürzen, sondern reformieren, Fenster und Türen öffnen und die Gitterstäbe zerbrechen, die einen weiteren Fortschritt verhindert haben.

Die Furche: Die letzten, die das zuvor im Ostblock versucht haben, waren 1956 die Ungarn - ein Aufstand mit bekanntem tragischem Ausgang. Haben Sie 1969 nicht auch mit einer Niederschlagung ihrer Systemöffnung rechnen müssen?

Liehm: Das Trauma der Ungarischen Revolution war uns immer bewusst. Wir sagten uns, wir müssen es ganz anders machen als die Ungarn, damit wir nicht auch überrollt werden. Es kamen damals Politiker aus Deutschland, England, den USA in mein Büro und fragten: "Was können wir für euch tun?" Und ich sagte: "Bitte nichts!" Anfang Sommer 1968 war ich in die amerikanische Botschaft zum Mittagessen eingeladen. Dort wurde mir mitgeteilt: "Wir werden keinen Finger für euch rühren." Und ich habe geantwortet: "Das ist auch gut so!"

Die Furche: Dann ist es doch nicht so gut gelaufen und das Trauma hat sich wiederholt.

Liehm: Das kann man so nicht vergleichen: Ich wurde einmal vorwurfsvoll gefragt: "Wo waren die Tschechen 1956?" - Ich sagte: "In der Tschechoslowakei!" und fragte zurück: "Aber wo waren die Polen und Ungarn 1968? Auch in der Tschechoslowakei!" Es sind ja nicht nur die Russen in der Tschechoslowakei einmarschiert, sondern auch die anderen Ostblockstaaten. Ungarn 1956 und Tschechoslowakei 1968 sind ganz verschiedene Geschichten. Die Tschechoslowakei war das Industriebett der Monarchie; bei uns gab es die ersten Gewerkschaften, die ersten sozialdemokratischen Parteien und die Russen waren nie Feinde. 1956 war eine Explosion in Ländern ohne linke Tradition, aber wir Tschechen hatten eine. Das ist der Unterschied! Alle hatten damals Angst vor dem, was in der Tschechoslowakei passiert - nicht nur die Russen.

Die Furche: Alle?

Liehm: Alle, eine Reform des Kommunismus wollte doch niemand - weder die Russen noch der Westen. Das war gefährlich für beide Seiten. Ein demokratischer Sozialismus wäre doch auch schlimm für den Westen gewesen, hätte das festgefügte Schema in Frage gestellt. Den radikalen Linken im Westen waren wir zuwenig revolutionär und den Kapitalisten waren wir zu kommunistisch. Niemand wollte, dass jemand das Gleichgewicht zerstört.

Die Furche: Demokratischer Kommunismus klingt nach der berühmten Quadratur des Kreises.

Liehm: Aber stellen Sie sich vor, es wäre 20 Jahre später geschehen! Wir dachten damals, die Russen würden verstehen, was erst Gorbatschow später, vor allem durch den Einfluss seiner "Prager Clique" verstanden hat.

Die Furche: Und heute? Sie haben kürzlich gesagt, was uns fehlt, sei ein neuer Marx. Was soll der machen?

Liehm: Verstehen Sie, was in der Welt vor sich geht? - Ich nicht! Marx hat im "Kapital" die erste industrielle Reform und ihre Folgen sehr gut beschrieben. Heute fehlt uns die Beschreibung unserer Welt. Wir wissen, es gibt die Globalisierung, es gibt eine neue industrielle Revolution, aber es fehlt uns die Zusammenfassung. Wir müssen wieder sehen lernen. Uns fehlt heute so einer wie Marx oder einige solche Marxe. Vielleicht ist es aber noch zu früh, um zu begreifen, was gerade geschieht, aber es geschieht etwas, was seit 200 Jahren in der Welt nicht mehr geschehen ist.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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