Wissenschaft als "Erziehung"

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Die Frage, ob Wissenschaft geeignet ist, auch die Grundlagen der Bildung zu bestimmen, ist nicht neu. Sie begleitet uns seit der Antike.

Im Griechenland des 5. Jahrhunderts vor Chr. begegnet uns die erste bildungs- und wissenschaftspolitische Debatte der europäischen Wissenschaftskultur, die bis heute nachwirkt. Für unsere Fragestellung ist hierbei von besonderem Interesse, dass im Streit um die richtige Erziehung der Jugend (paideia) die Sophisten das überkommene aristokratische Herkunftsprivileg kritisieren und eine Idee von allgemeiner Bildung vertreten, die bereits auf dem "pädagogischen Ternar" von Begabung, Unterricht und Einübung des Gelernten beruht. Damit stellen sie die allgemeine Erziehung von der Privilegierung aufgrund der sozialen Herkunft auf eine intellektuelle Grundlage mit gewissen egalitären Prinzipien um.

Die griechische Bildung ...

In dieser Epoche entsteht auch das auf die Philosophie Platons zurückgehende Konzept des "enkyklios paideia", ein umfassendes Konzept von Wissensinhalten, Methoden und Bildungsprozessen, das die mathematischen Disziplinen der Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik mit den der Sprache zugewandten Künsten der Grammatik, Rhetorik und Dialektik in einem sachlich und zeitlich gegliederten Bildungs- und Erziehungsprozess miteinander verbindet. Was die Sophisten und deren Kritiker Platon voneinander unterscheidet, ist nicht die Integration der Wissenschaften in den allgemeinen Erziehungsprozess, sondern ist die zwischen ihnen kontroverse Auffassung des hierbei leitenden Wissenschaftsideals und seiner politisch-sozialen Funktion. Während die Sophisten im neuen Erziehungskonzept ein politisch-praktisches Programm der Kritik der überlieferten Herrschaftsansprüche der alten Aristokraten begründen, das auch den niederen Schichten die Durchsetzung ihrer Interessen, insbesondere durch die Ausbildung in der Kunst der Rhetorik und der Kunst der öffentlichen Disputation erlaubt, verficht Platon ein theoretisches Wissenschaftsideal. [...]

...für Alle oder eine Elite?

Das platonische Erkenntnis- und Erziehungsprogramm qualifiziert zugleich die neuen Aristokraten im Staat. In seinem Dialog über den idealen Staat, der Politeia, macht Platon deutlich, dass die von ihm favorisierten Herrscher nicht mehr die Kinder der Reichen und der Mächtigen, kurz: der alten Aristokratie sind, sondern die durch den anspruchsvollen Erziehungsprozess der Wissenschaften und der Philosophie hindurchgegangene neue intellektuelle Elite, der Platon die Lenkung der Geschicke der Polis anvertrauen will. [...] Doch bleibt die Zahl derer, die zu dieser kleinen Elite der Wissenschaft und Philosophie Treibenden gehören können, bei Platon eng begrenzt. [...]

Aus ihrem Widerspruch gegen den Anspruch der Universitäten auf eine Art Monopol des Wissens in der Gestalt der aristotelischen Wissenschaften des 13. und 14. Jahrhunderts entdeckt die mystische Theologie insbesondere des späten Mittelalters auf eine radikal neue Weise die Bedeutung der Bildung des "inneren Menschen". Meister Eckarts Übersetzung der "imago Christi", der sich der gläubige Christ anverwandeln soll, als einer "Bildwerdung" Gottes im Menschen, als "Einbilden" Gottes in der Seele und als "Geburt Gottes" im Menschen bereitet das spätere Konzept einer "inneren Bildung" des Geistes vor.

Von Eckart zu Humboldt

Zusammen mit dem humanistischen Gedanken des Menschen als Mikrokosmos, in dem sich nicht nur der Makrokosmos, also Gottes Schöpfung spiegelt, sondern zugleich zielgerichtet vollendet, avanciert der Bildungsbegriff im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß von Shaftesburys Ästhetik, Herders Sprachtheorie und Pestalozzis Pädagogik zu einem Zentralbegriff in der Philosophie des Deutschen Idealismus. Fichte und Hegel verknüpfen mit dem Begriff der Bildung ihre Philosophie der weltgeschichtlichen Subjektivität und der Philosophie des Geistes, die bei Wilhelm von Humboldt zur neuhumanistischen Bildungsidee weiterentwickelt wird, die der von ihm konzipierten Reform der Universitäten und Höheren Schulen programmatisch zugrunde liegt. Es ist insbesondere das Motiv der von der Erkenntnis der Naturwissenschaften fernen und von aller praktischen Utilität freien Bildung der Persönlichkeit, das im Mittelpunkt seines Bildungskonzepts steht und deren Entfaltung Humboldt mit der Entwicklung vor allem des Sprachvermögens der Menschen verbunden sieht. Die Bildung, die ihm zufolge "ihren Ursprung allein im Innern der Seele" besitzt, zielt durch die "harmonische Ausbildung" aller Fähigkeiten des Menschen auf die Entfaltung einer "geistigen Individualität", in der sich für ihn am klarsten der Gedanke einer Selbstzwecklichkeit des Menschengeschlechts artikuliert. [...]

The Two Cultures

Wie wir gesehen hatten, lag dem neuhumanistischen Bildungskonzept nach Wilhelm von Humboldt eine Favorisierung der humanwissenschaftlichen Disziplinen und Unterrichtsmethoden zugrunde, allen voran eine Konzentration auf die Bildungstradition der alten Sprachen, bei gleichzeitiger Distanzierung vom Wissenschaftstyp der Naturwissenschaften und der technischen Disziplinen. Es liegt nahe, hierin eine Art Wiederaufnahme der spezifischen Lesart der antiken und frühmittelalterlichen artes-Tradition zu sehen. Die in diesem Bildungskonzept angelegte Spaltung der Wissenschaftskultur wurde im Gefolge der methodologischen Trennung der erklärenden Wissenschaften von den verstehenden Wissenschaften bei Wilhelm Dilthey sowie der wertfreien Erkenntnis objektiver Tatsachen durch die Wissenschaften von den lebensweltlichen Wertpräferenzen im Anschluss an Max Weber weiter vertieft. Doch dem Konflikt der "beiden Wissenschaftskulturen" zwischen den Naturwissenschaften und den Ingenieurswissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits aber liegt ein problematischer Hang zum Szientismus zugrunde, der von beiden Wissenschaftskulturen gepflegt wurde. Der Szientismus ist aber, so meine These, in einem Missverständnis der Rationalität der empirischen Naturforschung begründet, das überwunden werden muss, wenn wir zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Bildung kommen wollen. [...]

Die Abkehr vom szientistischen Missverständnis der Wissenschaften, das in der Vergangenheit nicht nur von den Vertretern der Naturwissenschaften vertreten wurde, sondern auch manchen der überlieferten geistes- und sozialwissenschaftlichen Methodenlehren zugrunde lag, lässt uns auch klarer erkennen, welchen Beitrag gerade auch die Naturwissenschaften für den Bildungsauftrag der Wissenschaften heute insgesamt leisten können.

Zugängliches Sprechen

Da die auch von den Naturwissenschaften geforderte Rechtfertigung ihrer Aussagen und Hypothesen nicht in einer nur ihnen zugänglichen Objektsprache, sondern in einer von allen Wissenschaften geteilten Sprache realisiert werden muss, die den Regeln der allgemein zugänglichen Sprache des begründenden Diskurses folgt, ist im Prinzip ein Anschluss ihrer Theoriebildung an die Sprache einer "öffentlichen Vernunft" (John Rawls) möglich und um der Überprüfung ihrer Hypothesen willen auch gefordert. Damit aber öffnen sich auch die Naturwissenschaften gleichsam von innen heraus der die technische Rationalität noch umfassenden praktischen Rationalität von begründender Rede und Argumentation, über die sie nicht nur in den interdisziplinären Diskurs der Wissenschaften insgesamt immer schon integriert, sondern auch an den Diskurs einer "öffentlichen Vernunft" anschließbar sind.

So wird sichtbar, dass die Naturwissenschaften nach der epistemologischen Abkehr vom szientistischen (Selbst)Missverständnis bereits als solche einen unverzichtbaren Beitrag zu einem Bildungskonzept leisten können; denn sie tragen nicht nur zu den kognitiven Grundlagen einer professionellen Ausbildung bei, sondern können durch ihre Forschungsergebnisse auch an der Entwicklung von kulturellen, sozialen und normativen Kompetenzen der Menschen in einem demokratischen Gemeinwesen mitwirken. [...]

Nicht allein Schulbildung

Dies ist eine Aufgabe nicht nur weiterer wissenschaftlicher Disziplinen der Universität wie etwa der Philosophie, sondern verlangt weit über den Rahmen der Universitäten hinaus nach sittlichen Lebensformen, innerhalb derer es gelingt, bei den Heranwachsenden Einsichten und Einstellungen reifen zu lassen, aus denen sich die Erfahrung der moralischen Evidenz, der Richtigkeit und Werthaftigkeit sittlichen Handelns einstellt. Ohne die lebensweltlich gewonnenen moralischen Einsichten und sittlichen Tugenden können die Wissenschaften als ganze nur schwer ihren Beitrag zur Herausbildung der unverzichtbaren humanen Grundkompetenzen leisten, auf deren Besitz sie allerdings infolge der auch ihr eigenes wissenschaftliches Handeln bestimmenden praktischen Rationalität nicht verzichten können.

Pluralismusfähige Bürger

So müssen an die Stelle der platonischen "Philosophenkönige", der aristotelischen "politischen Elite" und Humboldtschen "Bildungsbürger" heute in der demokratischen Gesellschaft zugleich pluralismus- und wahrheitsfähige, kritisch und moralisch orientierende Bürgergemeinschaften treten, die die normativ unverzichtbaren Grundlagen für die Entwicklung von öffentlichen und allen gleichermaßen zugänglichen Bildungsprozessen legen, in deren Kontext auch die Universität und die Wissenschaften mit ihrem Beitrag zur Erkenntnis der äußeren Natur und der Handlungswelt des Menschen einen notwendigen und die Einsichten der sozialen Lebenswelt kritisch begleitenden Beitrag leisten müssen.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt. Der stark gekürzte Text stammt von einem Vortrag, den Lutz-Bachmann am Österreichischen Wissenschaftstag 2006 gehalten hat. Die von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft durchgeführte Tagung handelte "Vom Nutzen der Wissenschaften".

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