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Zugang zur Wirklichkeit?

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ZUGANG ZUR WIRKLICHKEIT. Von Erwi n Nickel. Universitätsverlag Freiburg Schweiz, 1964. 808 Seiten. Preis 19 DM. — QUANTEN, MOLEKÜLE, LEBEN. Von Gernot Eder. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. München, 1963. 260 Seiten. Preis 25.80 DM. — EXPERIMENT UND ERFAHRUNG IN WISSENSCHAFT UND KUNST. Herausgegeben von Walter S t r o 1 z. Verlag Karl Alber, F reiburg i. Br. Į München, 1963. 332 Seiten. Preis 32 DM. — MODERNE PHYSIK UND TIEFENPSYCHOLOGIE. Von Ernst A n r i c h. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart, 1963. 622 Seiten. Preis 34 DM.

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ZUGANG ZUR WIRKLICHKEIT. Von Erwi n Nickel. Universitätsverlag Freiburg Schweiz, 1964. 808 Seiten. Preis 19 DM. — QUANTEN, MOLEKÜLE, LEBEN. Von Gernot Eder. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. München, 1963. 260 Seiten. Preis 25.80 DM. — EXPERIMENT UND ERFAHRUNG IN WISSENSCHAFT UND KUNST. Herausgegeben von Walter S t r o 1 z. Verlag Karl Alber, F reiburg i. Br. Į München, 1963. 332 Seiten. Preis 32 DM. — MODERNE PHYSIK UND TIEFENPSYCHOLOGIE. Von Ernst A n r i c h. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart, 1963. 622 Seiten. Preis 34 DM.

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Einen „Beitrag zur Überwindung von Positivismus und metaphysischer Resignation“ nennt Erwin Nickel, Professor an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) sein Werk „Zugang zur Wirklichkeit“ und drückt damit aus, daß dieser Zugang nur über die genannte Überwindung zu erreichen ist, weil die großen philosophischen Positionen daran gescheitert sind, ein allgemein anerkanntes „Weltbild“ und eine auf diesem aufbauende „Weltanschauung“ zu bieten. Sie scheiterten — und zwar Idealismus, Materialismus und Positivismus oder, anders ausgedrückt, die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften — an dem Problem der Materie, als das eigentlich „Dunkle“, denn „während das Selbstverständnis des Geistes von einer ,Evidenz“ getragen wird, bedarf die sogenannte materielle Welt einer Erschließung Nicht der Geist bedarf der Erklärung, sondern das Materielle ist das Problematicum! Mit ihm

hat sich der menschliche Geist zu befassen, um die Welt und sich in dieser Welt zu verstehen.“ Diese Erschließung der materiellen Welt wird sicherlich nicht von einem der beiden Monismen ausgehend erfolgen können, sie wird sich zunächst auf die dafür zuständigen naturwissenschaftlichen Betrachtungen zu stützen -haben. Allerdings, und hier tritt der Verfasser entschieden dem Positivismus entgegen, darf man es nicht bei dem höchst problematischen Versuch der Aufstellung eines „physikalischen“ Weltbildes bewenden lassen; die notwendig gewordene Methodenüberschreitung weist auf eine neue „Metaphysik“ hin, sie führt zu einer „Exiistenzerhel- lun-g aus den transmateriellen Zu

sammenhängen“, wodurch die Sinjr- frage zur Gottesfrage wird und -sich der Mensch -seiner Mittel- und Mittlerstelle im Kosmas erst bewußt wird.

Der Autor hat in seinem Werk bewußt provoziert, und es wird bestimmt nicht an Gegnern, vor allem aus dem positivistischen und materialistischen Lager, fehlen. Sollte dieses Buch jedoch die weit verbreitete Ansicht — zu der, zumindest indirekt, die Grundpositionen sehr viel beigetragen haben —, es gäbe in dem Bemühen um Abklärung der Wirklichkeit überhaupt keinen Fortschritt, erschüttern können und Anstoß dazu geben, die eigene Position erneut kritisch zu überdenken, dann hätte es einen wichtigen Beitrag zur Suche nach dem „Zugang zur Wirklichkeit“ geleistet.

leistet.

„Was ein Naturwissenschaftler von den anderen Naturwissenschaften und was ein Philosoph von den Naturwissenschaften wissen sollte“, ist in Gernot Eders Buch „Quanten, Moleküle, Leben“ zu finden; es will nicht als möglichst vollständige und systematische Darstellung einzelner Fachgebiete -aufgefaßt werden, sondern vielmehr die spezifischen Begriffe, Denkformen und Prinzipien der modernen Naturwissenschaft aus der Vielfalt ihrer Methoden und Ergebnisse herauslösen. Der Autor, ein Österreicher, Professor für Physik an der Universität Gießen, der vorher an der Universität Wien als Assistent wirkte, liefert mit diesem Werk einen treffenden Beweis dafür, daß die Naturwissenschaft — handle es sich nun um die Physik der Elementarteilchen, um Lebensvorgänge und ihre Regelung oder

um kosmische Prozesse — von ihren mathematischen Methoden verschieden ist, weshalb sie von ihrem mathematischen Apparat getrennt dargestellt werden kann. Die Kenntnis naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen, die, wie oben angeführt, für den „Zugang zur Wirklichkeit“ Voraussetzung ist, wird damit geschlossen auch jenen Lesern — Laien wie Wissenschaftlern — vermittelt, die den sehr kompliziert gewordenen mathematischen Apparat nicht beherrschen — und das sind sehr viele. Dafür, daß Simpli- fizierungen unterbleiben und sich dieses Buch sehr deutlich von einer großen Anzahl populär-„wissen- schaftlicher“ Darstellungen abhebt, bürgt die hohe wissenschaftliche Qualität seines Autors. Darüber hinaus, und das scheint mit Bezug auf den keineswegs willkürlich gewählten Titel dieser Rezension entscheidend, führt die Lektüre dieses Buches zur Erkenntnis, daß Naturgesetze meist nur für eine beschränkte Klasse von Systemen, für abgeschlossene Systeme — „räumliche Objekte, deren Vorgänge eigengesetzlich verlaufen“ — Geltung haben, weshalb es kein „-abgeschlossenes“ ausschließlich naturwissenschaftliches Weltbild geben kann.

Zehn Beiträge, in denen jeder der Autoren für seine Disziplin — für Physik, Biologie und Technik, für Soziologie, Geschichtswissenschaft und Kunst — untersucht, was ein Experiment ist, wie es angesetzt und was dabei erfahren wird, und auf welche Weise das Erfahrene begrifflich erfaßt werden kann, wurden von Walter Strolz zusammengestellt und unter dem Titel „Experiment und Erfahrung in Wissenschaft und Kunst“ herausgegeben; in Wissenschaft und Kunst also oder, anders formuliert, den ganzen Menschen betreffend, das erkennende, um Erkenntnis und Selbsterkenntnis ringende Wesen auf der Suche nach dem „Zugang zur Wirklichkeit“. Dieses Symposion wendet sich gegen die positivistische Anschauung, die, so paradox es auch -sein mag, vielfach -selbst zu -einer Weltanschauung geworden ist, daß man nur mit Hilfe der Naturwissenschaften, mit ihren Methoden und Ergebnissen, zu Erkenntnis gelangen könnte, und die, wie Ernst Bloch kürzlich treffend feststellte, „überhaupt nicht mehr zwischen Medizinmännern und Spinoza oder Hegel unterscheiden will“. In gleicher

Weise tritt es aber auch gegen jede Philosophie auf, die glaubt? heute ohne die einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse auskommen zu können. Dies — und dafür gebührt dem Herausgeber besonderer Dank — alles nicht expressis verbis, sondern durch die Auswahl und die Zusammenstellung der Einzelbeiträge, die dergestalt ein Ganzes bilden.

„Moderne Physik und Tiefenpsychologie“ — noch vor einigen Jahren hätte dieser Titel allein schon eine Provokation bedeutet und viel mehr Anrichs Thesen, mit denen er seinen „Versuch zur Einheit der Wirklichkeit und damit der Wissenschaft“ belegt, wenn er die Physik, die „einzig exakte Wissenschaft“ mit der Tiefenpsychologie, di Wissenschaft von der Welt des Ob jektiven mit der Wissenschaft voi der Welt des Subjektiven, zu ver einen sucht. Und heute? Die provozierende Wirkung bleibt völlig aus, d-a-s Werk wird als kleines Stück auf

jenem Weg, der zur Integration der Wissenschaften führen soll, erkannt, vielleicht auch nur als Seitenweg, der den „Zugang zur Wirklichkeit“ verfehlen wird. Wie in den vorangehenden Werken spielt auch hier der Strukturbegriff eine entscheidende Rolle, allerdings viel undeutlicher ausgedrückt als etwa bei Nickel. Anrich sieht in einer Subjekt-Objekt-Union die Grundlage des Seins für alles einzelne Sein und glaubt nachweisen zu können, daß dieser eigentliche Seinsgrund letzthin der christlichen Trinität entspricht.

Mögen manche Gedankengänge auch reichlich konstruiert erscheinen, so verdient dennoch auch dieses Buch eine ernsthafte Auseinandersetzung. Denn der „Zugang zur Wirklichkeit“ liegt noch in weiter Ferne; unendlich weit? Vielleicht dann nicht, wenn alle Wissenschaften gemeinsam mit der Philosophie ihn erreichen trachten, das letzte Ziel menschlichen Geistes, wenn kein Denkansatz, und widerspreche er noch so sehr der eigenen Anschauung, ohne ausführliche kritische Beurteilung verworfen wird.

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