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Zwischen Parlament und Standestaat

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Der Wille des Bundeskanzlers war es gewesen, die neue Verfassung als „Osterver-f a s s u n g“ der Öffentlichkeit vorlegen zu können. Doch nahmen die Einzelarbeiten sehr viel Zeit in Anspruch. Ein Haupthindernis war die Februarrevolte.

Ender arbeitete einen weiteren Entwurf aus (Anfang März 1934), der unter anderem die Bestimmungen des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl zum Teil in die Verfassung aufnahm und bezüglich der Bestellung des Bundespräsidenten, welcher nach dem Februarentwurf durch die Bundesversammlung (die Vereinigung der vier vorberatenden Körperschaften) in vier geheimen Wahlgängen gewählt werden sollte, gemäß den Beratungen des Ministerkomitees vier Varianten offenließ: 1. Wahl durch das Volk auf Grund eines Dreiervorschlags des Staatsrates; 2. Wahl durch alle Bürgermeister auf Grund eines Dreiervorschlags des Staatsrates (dieser sogenannte „Kurfürsten“gedanke stammte von Dollfuß); 3. Wahl durch den Staatsrat; 4. Wahl durch ein eigenes Wahlkollegium in einem Enklave. Der Ministerrat vermochte sich über diese letztere Frage nicht schlüssig zu werden, so daß die Osterfassung des neuen Bundesverfassungsgesetzes, die allen Ministern am 11. April 1934 zuging, noch die Wahl durch die Bundesversammlung aufweist. Im übrigen näherte sich die Osterfassung bereits weitgehend der Endfassung. Änderungen ergaben sich in der Hauptsache noch bezüglich der Bestimmungen über die Kompetenzverteilung, die Bestellung des Wirtschaftsrates, die Abberufung der Landeshauptleute und die Stellung des Bürgermeisters von Wien. Im übrigen hatte Ender schon lange gewünscht, den Verfassungsentwurf dem Universitätsprofessor Ludwig Adamovich und dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, Doktor Ernst D u r i g, vorzulegen. Als der Oster-entwurf vorlag, gab Dollfuß hierzu seine Einwilligung. Es wurden in der Folge verschiedene Anregungen dieser Berater aufgenommen.hjoch knapp vor der Fertigstellung der End-1-fassung wurden verschiedene Detailpunkte einer Irörterungjm Ministerrat, der .in der Woche vor* dem 1. Mai 1934 täglich zusammentrat, unterzogen, die die Verfassung eines (achten) Entwurfes, der bereits in die endgültigen Hauptstücke gegliedert ist, notwendig machte. In den letzten Tagen des April wurde schließlich die am meisten umstrittene Frage der Bestellung des Bundespräsidenten in dem Sinne geregelt, daß sie durch die Bürgermeister auf Grund eines Dreiervorschlages der Bundesversammlung zu erfolgen habe.

Der endgültige Text der neuen Bundesverfassung lag am 30. April 1934 vor. An diesem Tage erfuhr die Öffentlichkeit, der gegenüber man bisher unbedingtes Stillschweigen bewahrt hatte, von seinem Inhalt. Am selben Tag wurde er als Notverordnung auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassen und dem Parlament zugemittelt und dort ohne Einspruch zur Kenntnis genommen. Am 1. Mai 1934 erfolgte seine Publikation im neuen Bundesgesetzblatt auf Grund des am 30. April 1934 im Parlament beschlossenen Ermächtigungsgesetzes als Bundesverfassungsgesetz.

Große Sorgen hatte der Regierung das rechtliche Zustandekommen der neuen Verfassung bereitet. Im Jahre 1933 bestand zunächst keine rechtliche Möglichkeit, eine ständische Verfassung auf einem auch nur scheinbar legalen Wege in Kraft zu setzen. Artikel 44 der alten Verfassung verlangte hierzu Zweidrittelmehrheit im Nationalrat bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder, sowie bei Gesamtänderung der Verfassung (die hier vorlag) Abstimmung durch das gesamte Bundesvolk. Bei den gegebenen Parteienverhältnissen konnten diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Dollfuß hoffte jedoch auch hier auf einen glücklichen Zufall. Tatsächlich wurde am 12. Februar 1933 im Zusammenhang mit der Februarrevolte die Sozialdemokratische Partei für aufgelöst erklärt; ihre Mandate erloschen. Die Christlichsozialen hatten damit die Zweidrittelmehrheit im National- und im Bundesrat, Dollfuß konnte sie ein letztes Mal zu Vollstreckern seines politischen Willens machen. Die weitere Schwierigkeit, daß der Nationalrat keinen Präsidenten hatte, wurde durch eine Verordnung des Bundespräsidenten, der den früheren Präsidenten R a m e k mit der Schließung der am 4. März 1933 unterbrochenen Sitzung beauftragte, behoben. Diese Sitzung erfolgte am 30. April 1934. Daran anschließend wurde eine zweite Sitzung anberaumt, in welcher sämtliche auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes seit dem 4. März 1933 ergangenen Notverordnungen, einschließlich einer Notverordnung betreffend Einführung einer neuen Bundesverfassung, ohne Einspruch genehmigt wurden. Da es jedoch bestritten war, ob auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes verfassungsändernde Notverordnungen zulässig seien, wurde im Nationalrat überdies ein Verfassungsgesetz eingebracht, welches die Regierung bis zum Inkrafttreten der neuen Verfassung zur Erlassung von Gesetzen, auch solchen verfassungsändernden Inhalts, ermächtigte. Dieses Ermächtigungsgesetz wurde mit der entsprechenden Zweidrittelmehrheit angenommen (Bundesverfassungsgesetz vom 30. April 1934, BGBl. Nr. 255). Die neue Verfassung kam sonach sowohl auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes als auch des neuen Ermächtigungsgesetzes, nach dessen Erlassung das alte Parlament aufgelöst wurde, zur Rechtswirksamkeit. (Bezüglich der rechtsgültigen Einsetzung der neuen Verfassung wurde freilich, insbesondere in Kreisen der Staatsrechtstheoretiker, auch die Meinung vertreten, daß die neue Verfassung auf verfassungswidrigem Wege zustande gekommen sei, da einerseits der Ausspruch des Mandatsverlustes der sozialdemokratischen Abgeordneten keine Stütze in der alten Verfassung bzw. in der Geschäftsordnung des Nationalrates gefunden habe, da zweitens das nötige Quorum für verfassungsändernde Gesetze infolge dieses Mandatsverlustes gefehlt habe — wogegen in Regierungskreisen eingewendet wur.de, daß für Quorum und Stimmenmajorität nur die tatsächliche Abgeordnetenzahl entscheidend sei und nicht die in der Verfassung vorgesehene Zahl von 165 —, drittens die Selbstausschaltung des Parlaments mangels einer diesbezüglichen Verfassungsbestimmung auch durch den Bundespräsidenten nicht hätte geheilt werden können, und weil viertens ein Ermächtigungsgesetz, das praktisch schon eine Gesamtänderung der Verfassung beinhalte, nicht die Befragung des Bundesvolkes hätte ausschließen dürfen.) Der Nationalrat umfaßte am 30. April 1933 66 Christlichsoziale, 11 Landbündler. 7 Mitglieder des ehemaligen Heimatblocks und 6 Großdeutsche, zusammen 90. Durch Annullierung ihrer Mandate waren nämlich 72 Sozialdemokraten, 4 Großdeutsche und 1 Mitglied des Heimatblocks ausgeschieden. Anwesend waren 77 Abgeordnete (66 Christlichsoziale, 7 Mitglieder des Heimatblocks, 2 Großdeutsche und 2 Landbündler). Hiervon stimmten zwei großdeutsche Abgeordnete gegen die Vorlage. Im Bundesrat, wo für die entfallenen 22 Sozialdemokraten und 5 Nationalsozialisten durch die Landtage (außer Wien) Mitglieder der übrigen Parteien nachentsendet wurden, stimmten von den 39 Mitgliedern (1933 waren es 50 gewesen) 31 Christlichsoziale und 4 Mitglieder des Heimatschutzes für und 1 Landbündler gegen die Vorlage. Zwei Landbündler und ein Großdeutscher blieben fern.

Abgesehen von der ständigen leitenden Mitarbeit des Bundeskanzlers Dollfuß ( haben-insbesondere die Minister F e y und N e u-s t ä d t e r - S t ü r< m e r bestimmenden Einfluß-vor allem in jene Abschnitte des Verfassungswerkes genommen, wo die Durchführung einer zentralen Befehlslinie von oben nach unten (Länder, Bezirkshauptmann, Bürgermeister) sich als möglich erwies. In den diesbezüglichen Debatten im Ministerrat vertraten demgegenüber die Minister Ender, Schusch-nigg, Schmitz und Stockinger den Standpunkt einer gewissen Länder- und Gemeindeautonomie, in vielen Fällen jedoch ohne Erfolg. Dollfuß nahm in diesen Fragen im allgemeinen eine vermittelnde Haltung ein. Ender selbst hat den entscheidenden Einfluß auf die Endtextierung auf dem Gebiete der gesetzgebenden (vorberatenden) Körperschaften und des Weges der Gesetzgebung, ferner rücksichtlich der allgemeinen Rechte der Staatsbürger, der Rechnungskontrolle sowie des Bundesgerichtshofes genommen. Unerörtert angenommen wurden seine Vorschläge jedoch so gut wie auf keinem Gebiete (zum Beispiel wendete sich einer der Minister auch gegen die Berufung in der Präambel). Bezüglich der Stellung Wiens hat Minister Schmitz weitgehende Mitarbeit geleistet, wobei er auch eine größere Machtvollkommenheit für den Wiener Bürgermeister im Vergleich mit den Landeshauptleuten erstrebte (vergleiche zum Beispiel Artikel 10). Der Abschnitt über die Gemeindeautonomie und die Kompetenzen der Ländergesetzgebung ist vorzugsweise von J ä c k e 1 bearbeitet, jener betreffend die Notrechte der Verwaltung zur Gänze von Hecht, jener über den Bundesgerichtshof mit von D u r i g, der jedoch die Beibehaltung zweier höchster Gerichtshöfe öffentlichen Rechts nicht durchzusetzen vermochte. Die religiöse Fragen behandelnden Artikel 27 bis 31 wurden von Minister S c h u s c h-n i g g (der auch den neuen Begriff „R e 1 i-gionsmündigkeit“ schuf) und den Beamten des Unterrichtsministeriums, H e f e I, ScapineTli und E g g e r, bearbeitet.

Es kann nicht Aufgabe dieser historisch-politischen Darstellung sein, eine Inhaltsangabe oder eingehende Würdigung der Maiverfassung 1934 zu bieten. Es sei nur so viel gesagt, daß ihr Hauptzug der autoritäre war, obwohl ihn die Präambel nicht zum Ausdruck bringt. Was die Verfassung jedoch von allen Verfassungen anderer Staaten unterschied und daher am meisten auffällt, ist der ihr zugrunde liegende ständische Gedanke. Er bildete auch ein gewisses Gegengewicht gegenüber dem autoritären Prinzip und war neben der Gemeindeautonomie der einzige Weg zur späteren Durchsetzung einer gewissen Demokratie, die überdies dem Staate eine Reihe lästiger Aufgaben abnehmen sollte. Die Formaldemokratie war hierbei freilich ausgeschaltet und mit ihr jede Möglichkeit der Rückkehr einer Parlamentsherrschaft mit Entsiduhg durch die Mehrheit. Für den Staatsrechtler ist sicher von größtem Interesse auch die'^OTJSti^ktkinf des Wege? der Gesetzgebung, die überaus sinnreich, manchen aber zu sehr konstruiert erscheinen mochte. Die Stellung Wiens als einer bundesunmittelbaren Stadt und zugleich als Hauptstadt Österreichs löste ein altes und überaus schwieriges Problem. Die liberalistischen Grundelemente der individualistischen Zeit in Österreich seit 1867 hatten eine starke Umformung in der Richtung auf Bindung, Gemeinschaftsgeist, Verantwortungsbewußtsein und natürliches Ethos erhalten, Postulate freilich, die auch eine Umformung der Geister verlangen. Die wesentlichen und unzweifelhaften Errungenschaften der liberalen Ära fanden im Kapitel über die allgemeinen Rechte der Bürger eine gewisse Aufnahme (mit Ausnahme der Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten, die nur durch den Friedensvertrag von Saint-Germain Berücksichtigung fand). Im Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen Zentralgewalt und Bundesländern stellte die Verfassung einen kaum in irgendeiner Richtung eingeschränkten Sieg der Zentralgewalt dar. Der Artikel 1 („Österreich ist ein Bundesstaat“) stellte eine aus politischen Gründen erfolgte Verbeugung vor den Ländern dar. Staatsrechtlich war er ein Widerspruch mit dem Text der Verfassung selbst. Österreich war nach dieser Verfassung vielmehr ein teilweise dezentralisierter Einheitsstaat.

Da das Wesentliche an der neuen Bundesverfassung der berufsständische Aufbau war, konnte diese Verfassung auch so lange nicht vom Papier zum wirklichen Leben erstehen, als nicht der ständische Aufbau wirklich durchgeführt war. Daher wurde der Zeitpunkt ihres Inkrafttretens einem neuen Bundesverfassungsgesetz vorbehalten, das mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 19. Juni 1934, betreffend den Übergang zur ständigen Verfassung (Verfassungsübergangsgesetz 1934), BGBl. Nr. 29, geschaffen wurde. Darnach traten die meisten Bestimmungen der Verfassung am 1. Juli 1934, jene über die Rechnungskontrolle am 15. Juli 1934 und jene über die Bestellung der vorberatenden Organe am 1. November 1934 in Kraft. Gerade die Bestellung dieser Körperschaften aber konnte das Übergangsgesetz nur provisorisch regeln. Der eigentliche Aufbau der Berufsstände mit Voraussetzung ihrer Autonomie — der Autonomiebegriff ist ja ihr wesentliches Substrat — und damit die Verwirklichung des Sinnes der ganzen Verfassung mußte einem späteren Zeitpunkt vorbehalten werden, weil man einen berufsständischen Aufbau nicht diktieren kann, sondern nach geistigem Umdenken reifen lassen muß. Die bei der mit 1. November 1934 erfolgten Ernennung der vorberatenden Körperschaften (sowie jener der Landtage, der Wiener Bürgerschaft und der Gemeinderäte) vielfach bemerkte Inkongruenz mit dem Geist der Maiverfassung konnte daher nicht dieser selbst, noch auch dem Übergangsgesetz angelastet werden. Das Übergangsgesetz wurde im übrigen unter intensiver Mitarbeit des Bundeskanzlers Dollfuß vom Minister für Ver-fassungs- und Verwaltungsreform, Otto E n d e r, ausgearbeitet. Bald hierauf (12. Juli 1934) schied Ender aus der Regierung, um das Präsidium des Rechnungshofes zu übernehmen. In der Zeit seiner Ministertätigkeit hatte Ender über Auftrag Dollfuß' und mit Wissen des Ministerrates im Bundeskanzleramt drei für den ständischen Aufbau wichtige Gesetzentwürfe ausarbeiten lassen, und zwar:

1. Ein Bundesgesetz über den Aufbau der wirtschaftlichen Berufsstände.

2. Ein Bundesgesetz über die Schaffung von Standesvertretungen für den Berufsstand der freien Berufe.

3. Ein Bundesgesetz über die Schaffung von Standesvertretungen für den Berufsstand der öffentlichen Bediensteten.

Die Ausarbeitung dieser Gesetzentwürfe besorgten: Ministerialkommissär Heitere r-Schaller, Sektionsrat Gil er einer und besonders Ministerialsekretär Wilhelm A r-besser. — Der erstgenannte dieser Entwürfe wurde von Minister Ender schon am 6. März 1934 dem Ministerrat vorgelegt, der ein Ministerkomitee mit der Prüfung betraute. Das Komitee trat jedoch nie zusammen. Nach dem am 25. Juli 1934 erfolgten Tod des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß wurden die Arbeiten am ständischen Aufbau von Bundesminister Odo Neustädter-Stürmer in die Hand genommen, der nach einem anderen Plan vorging. Während die Enderschen Entwürfe im Sinne der Enzyklika Quadragesimo Anno von unten nach oben aufzubauen suchten und Arbeitgeber und Arbeitnehmer von der Urzelle an zusammenführten, war Neustädter-Stürmer bestrebt, den Weg des italienischen Faschismus zu gehen, das heißt Arbeitgeber und Arbeitnehmer getrennt zu organisieren und von oben nach unten zu bauen.

ENDE

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