Der See stirbt, die Wüste lebt

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Der sterbende Aral-See setzt eine Klimakatastrophe in Zentralasien in Gang: Die Salzstürme zerstören die Äcker, erreichen die Berge und fressen die Gletscher.

Sand und bitteren Salzstaub wirbelt der Gluthauch der Wüste auf; schnell weht er auch die filigrane Zeichnung zu: springende Fische und ein Boot, das auf dem Wasser schaukelt. Yussup Kamalow, ein Mann Ende Fünfzig mit wettergegerbtem Gesicht und Haaren von gleicher Farbe wie die weiße Sonne der Wüste, hat sie mit einem Stock in die von Trockenrissen zerfurchte, steinharte Erde geritzt. Genau dort, wo er vor 16 Jahren zum letzten Mal die Netze auswarf.

Einst spielten die vierzig Götter, die hoch oben in den großen Blauen Jurten wohnen, mit Türkisen. Einer davon fiel zur Erde und landete mitten in der Kizil kum - der Wüste des Roten Sandes. So erzählt eine Legende die Entstehung des Aral-Sees - noch vor vierzig Jahren das viertgrößte Binnengewässer der Erde, in das der Bodensee neunmal hineinpasste.

Ein Damm, den die Einwohner von Aralsk am Nordufer Mitte der Neunziger aufschütteten, sollte den kleineren und tieferen Teil des Sees von seinem großen Bruder im Süden abriegeln, der schon 1994 auf ein Drittel seiner einstigen Größe zusammengeschrumpft war. Und schon 2015, so die Prognosen, könnte der ganze See von der Landkarte verschwunden sein. Und damit auch Aralsk. Nach dem See benannt und ohne ihn nicht lebensfähig. Ein Horror-Szenario, das 50.000 Menschen vor zehn Jahren zu Sand und Kies, Schaufeln und Eimern greifen ließ, um das scheinbar Unabwendbare abzuwenden. Mit angehaltenem Atem verfolgten sie, wie das Wasser wieder stieg. Jeden Tag ein paar Millimeter. Bis 1999 in einer dunklen Septembernacht ein Sandsturm den Damm einriss. Der Fischer Yussup Kamalow kämpft seither für einen richtigen Damm aus Beton.

Ein Kanal aus Sibirien?

Aber Projekte, mit denen der Aral gerettet werden könnte, sind nur mit Summen weit jenseits von Gut und Böse zu finanzieren - und noch dazu mehr als abenteuerlich: ein Kanal, der Teile der Wassermassen sibirischer Flüsse nach Süden umlenken soll, oder Hunderte von artesischen Brunnen auf dem Boden des Arals, die den Grundwasserspiegel anzapfen. Dafür macht sich ausgerechnet ein Mann Ende sechzig mit dunkler Brille stark, den Umweltschützer vor gut zwanzig Jahren zu den Totengräbern des Sees zählten: Rim Dschinjatullin. Zu Sowjetzeiten Abteilungsleiter im usbekischen Wasserministerium, sitzt er jetzt für Usbekistan in der Internationalen Stiftung zur Rettung des Arals. "Schon in 20 Jahren", meint er, "würde das Wasser fast wieder die alten Ufer erreichen" - wenn alle Staaten Zentralasiens jährlich ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts investieren und darauf verzichten, die Anbaufläche für Baumwolle zu erweitern. "Leider", seufzt Dschinjatullin und starrt auf seine vier Telefone, von denen keines klingelt, "fehlt bisher zu beidem der Wille."

"Weißer Fluch" Baumwolle

Baumwolle trat einst das Desaster am Aral überhaupt erst los. Denn die kp-Führung in Moskau drückte den Zentralasiaten die extrem durstige Pflanze vor gut einem Menschenalter quasi als Monokultur aufs Auge. Das "weiße Gold" ist nach wie vor einer der wichtigsten Devisenbringer der Region. Und inzwischen ihr "weißer Fluch". Denn die Natur hat ihre Kostbarkeiten höchst ungleich verteilt: Kirgisistan und Tadschikistan, in deren Bergen die großen Flüsse der Region entspringen, haben kaum Energieträger. In der Ebene dagegen, unter dem Sand der Wüsten und Halbwüsten Kasachstans, Usbekistans und Turkmenistans, liegt womöglich gut ein Viertel aller Öl- und Gasreserven weltweit. Wasserbohrungen indes sind dort meist Fehlanzeige.

"Niemand", sagt Dschinjatullin von der Aral-Stiftung, "blickt über den eigenen Tellerrand. Keiner denkt strategisch und in Generationen." Obwohl es schon fünf nach zwölf sei. Denn die Umwelt- und Klimakatastrophe, die der sterbende Aral in Gang setzte, hat längst in ganz Zentralasien irreparabele Schäden angerichtet.

Der Edelstein der Götter ist auf drei voneinander getrennte Wasserbecken zusammengeschrumpft, deren Salzgehalt höher als in den Ozeanen ist und die letzten Fischbestände ausrottet: Pfützen, über denen sich keine Wolken mehr bilden. Der Regen bleibt weg, die Sommer werden heißer und länger, die Winter kälter. Ungebremst stürmt der Nordwind aus den Steppen Sibiriens Richtung Süden, wirbelt vom Boden des Arals salzigen Staub auf und verstreut ihn auf der Erde, die dadurch steinhart wird. Schon erreichen die Salzstürme die Berge von Pamir und Tienschan und fressen die Gletscher. Dort entspringen die Zuflüsse des Arals: Syr-Darja und Amu-Darja. Sie und der sterbende See bekommen dadurch noch weniger Wasser. Die Wüste wächst, holt sich in einem Menschenalter zurück, was ihr viele Generationen abtrotzten: mit Zins und Zinseszins. Allein in Usbekistan mittelfristig rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

Wer konnte, ist fortgezogen

Bilder mit Hunderten aufgedunsener Kamelkadaver und qualvoll verendeter Schafe sowie Boote im Sand, die 80 Kilometer vom einstigen Seeufer entfernt vor sich hinrosteten, schockten Anfang der 1990er Millionen weltweit. Den roten Kommissaren in Moskau war es gelungen, die Katastrophe zu vertuschen. "Als 1991 auch bei uns der Eiserne Vorhang fiel, sind sie in Scharen eingefallen: das russischen Fernsehen, die Kollegen aus dem Westen und jede Menge Fotokorrespondenten", schimpft Berdibek Rainow. Der massige Endfünfziger mit dunklen, wachen Augen unter den buschigen Brauen ist Arzt in Muinak. Die Fischersiedlung liegt im Delta des Amu-Darja, am einstigen Südufer des Sees, das zu Usbekistan gehört. "Damals hat der dritte Akt des Dramas begonnen. Jetzt sind wir kurz vor dem Ende des vierten. In klassischen Tragödien ist das der vorletzte. Aber das interessiert kein Schwein mehr."

Das Thema ist erst einmal abgehakt. Bei Katastrophen, die weit weg sind, interessiert sich die Infotainment-Gesellschaft nur für Anfang und Ende. Mit den Zwischenstufen des Grauens müssen die Betroffenen allein zurechtkommen: Die Fischerboote sind längst ausgeschlachtet, zum Wasser sind es statt zwei inzwischen vier Stunden mit dem Jeep. Und in Muinak sind die Fenster von noch mehr Häusern mit Brettern vernagelt. Wer konnte, hat dem toten See den Rücken gekehrt, wer nicht, sitzt in Rainows Sprechstunde oder liegt in der schäbigen Krankenbaracke.

Salz auf Bäumen und Gras

"Wird schon werden", brummelt der Arzt, als er den Puls an der knochigen Hand einer alten Frau fühlt. Kaum ist sie gegangen, stampft er mit dem Fuß auf den Boden, dass die Scheiben klirren, und was er zunächst murmelt, ist nicht druckreif. "Eigentlich", sagt er dann, "müsste man jedem Schulkind hier mit dem Reifezeugnis auch die Invaliditätsbescheinigung aushändigen."

Immer häufiger diagnostiziert Rainow tbc, Nierenleiden, Ekzeme, Anämie, Missbildungen bei Neugeborenen. Jedes achte Kind stirbt im ersten Lebensjahr. Lebensmittel und Trinkwasser sind durch Nitrate und Schwermetalle verseucht: Die Felder werden immer mehr überdüngt und geben dennoch immer weniger her. An Wasser steht durchschnittlich nur noch 42 Prozent des absolut nötigen Minimums zur Verfügung. Theoretisch. Praktisch knapp die Hälfte davon. Der Rest versickert in den lecken Leitungen.

Eine hauchdünne weiße Schicht liegt auf den blattlosen Ästen der Bäume und dem schütteren Gras: Salz, das winterliche Kälte suggeriert. Ebenso die Mineralwasserflaschen: Leicht angelaufen und mit Etiketten vom gleichen Türkis wie einst der Edelstein der Götter, stehen sie im Kiosk am Busbahnhof von Nukus hinter der Glastür eines Kühlschranks. Bei 38 Grad im Schatten eine Provokation. Jedenfalls für solche wie Orasbai, einen schüchternen, hoch aufgeschossenen Mann Anfang zwanzig mit durchlöcherten Schuhen und schwarzen Knopfaugen, die sich an den Flaschen festgesogen haben. Orasbai hat keinen einzigen Sum in der Tasche. Und noch mindestens acht Stunden vor sich, bis zu Hause wieder Wasser aus dem Hahn tröpfelt.

Nukus, die Hauptstadt der Autonomie Karakalpakistan, wirkt ähnlich trostlos wie die Fischersiedlung Muinak. 85 Kilometer nordwestlich: Leergefegte Straßen, ein paar Geschäfte mit tristen Auslagen, flache, graue Plattensilos. Zwei Stunden morgens und zwei Stunden abends gibt es Wasser für die knapp 150.000 Einwohner der Stadt. "Inschallah", sagt Orasbai - so Allah will. Er will nicht jeden Tag. So wie die vierzig Götter, die hoch oben in den großen Blauen Jurten wohnen, nicht mehr mit den Türkisen spielen wollen. Und keiner der Türkise fällt mehr vom Himmel und landet in der Wüste.

Die Autorin ist Korrespondentin für Russland und Zentralasien.

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