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Der Hellserter

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Schon wiederholte Male hatte ich das Antlitz von Professor Nostaldini, dem berühmten Okkultisten und Clairvoyanten, an den Litfaßsäulen Haarlems gesehen. Er war in ein schwarzes Atlasgewand gehüllt mit losen, weiten Aermeln und einem Ledergürtel um die Mitte. Nun, dies alles kann Trick sein. Man soll sich nicht ein X für ein U vormachen lassen. Aber dieser tiefe, bohrende, zu den Nieren durchdringende Blick, der täuschte nicht. Dieses war, man fühlte es mit dem Holzschuh, ein Mann besonders okkulter Begabung. Hatte er nicht meiner Tante für die geringe Summe von 10 Gulden erklärt, er sehe finstere Wolken an ihrem Horizont, doch schließlich werde sich alles aufheitern? Und hatte dies sich nicht trefflich bewahrheitet? Und stärker noch, hatte er meinem Neffen nicht aufrichtig versichert, es sollten in sein Leben Tage von Regen kommen, doch er brauche nicht ängstlich zu sein, denn es sollten auch Augenblicke von Sonnenschein anbrechen? Am meisten Glück hatte mein Nachbar, der, wiewohl er nichts anderes von sich selbst gesagt hatte, als daß er ein Jude sei, zu seinem unaussprechlichen Staunen erfuhr, daß er dann fünf schwere Jahre überstanden habe. Dieses war entscheidend. Solch einen gigantischen Geist mußte man sofort besuchen.

Als ich vor seiner einfachen Wohnung in der Lommerdgasse stand, überkam mich anfänglich, ich gestehe es offen, ein Gefühl von Zweifel. War dieses wirklich der Wohnsitz des Professors? Doch der Hochschullehrer selber saß in Hemdärmeln vor dem Fenster und trat in dieser irreführenden Tracht auf mich zu.

„Komm herein“, sagte er einfach, „vom Draußenstehen wird man auch nicht gescheiter.“

Der Okkultist ließ mich in ein Nebenzimmer und zog sich zurück, um sich umzukleiden. Das Zimmer, das auf einen kleinen Hintergarten ausging, war sehr dunkel und diesem Umstände ist es vermutlich zu verdanken, daß ich erst nach geraumer Zeit eine zweite Person entdeckte, die den Raum mit mir teilte. Es war ein kleiner, untersetzter Mann mit Stiefeln, einer weißen Weste, goldenen Achselklappen und einem Zweispitz. Die rechte Hand hielt er in die Weste gesteckt. Er schien einigermaßen verlegen durch meine Anwesenheit. Der Professor winkte mich herein.

„Setz' dich“, sagte er, „ich muß mich einen Augenblick konzentrieren.“ Er schloß die Augen und blieb so drei Minuten sitzen. Dann öffnete er sie wieder und sagte einfach: „Jetzt kann ich alles.“

Ich gratulierte ihm.

„Wir wollen denn mit einigen einfachen telepathischen Experimenten anfangen. Ich will Ihnen sagen, was Sie zur Zeit denken. Geben Sie mir Ihre Hand. So. Bleiben Sie vor allem ruhig. Es wird Ihnen nichts zustoßen. Sie denken jetzt:' Soll ich ihm sofort zahlen, oder kann dies nach einiger Zeit geschehen? Stimmt das?“

„Nein, Herr Professor.“

„Dann hätten Sie dieses denken sollen. Ich will Ihnen auch die Antwort geben: nämlich jetzt.

„Wieviel macht es, Herr Professor?“

„Ich wußte, daß Sie dies fragen sollten. Das überlasse ich Ihrer Höflichkeit.“

Ich schob ihm einen Zehnguldenschein zu.

„Zwei“, flüsterte der Okkultist, „ich danke Ihnen. Und jetzt fahren wir fort. Geben Sie mir mal einen Schein von 25 Gulden.“

„Ich will“, verfolgte der Hellseher, „diesen Schein jetzt außerhalb der Zimmertür in den Korridor legen. So. Nun schließen wir die Tür. Gut. Nun warten wir einen Augenblick. Richtig. Stehen Sie jetzt auf und schauen Sie, ob der Schein noch da liegt.“ Ich öffnete die Tür und stand verblüfft: der Schein war verschwunden. Der Somnambulist lächelte. „Geben Sie mir mal einen Schein von 100 Gulden“, sagte er einfach. „Gut. Ich lege ihn nun vor Sie auf den Tisch. Hier liegt er. Nun schließen wir beide die Augen. Denken Sie jetzt stark an Rosen. Richtig. Machen Sie die Augen nur auf,“

Ich schaute: der Schein lag nicht mehr da.

„Das Nette ist“, fuhr der Paragnost fort, über mein Staunen lächelnd, „daß sie so nie mehr wiederkommen. Sie sind weg und bleiben weg. Jetzt will ich Ihnen die Hand mal lesen. Legen Sie Ihre Hand nur ruhig auf den Tisch. Es passiert nichts.“ Der Chyromant sah einige Augenblicke angestrengt zu. „Diese Hand“, sagte er schließlich, „gehört einem verhältnismäßig noch jungen Manne. Ueberdies ist sie nicht gewaschen.“

Ich konnte mein Staunen nicht verbergen: beides stimmte. Der Illusionist beugte sich noch tiefer über meine Hand und sah scharf in die Handfläche.

„Sie sind sehr leichtgläubig“, sagte er plötzlich, „Sie nehmen alles an, was die Menschen Ihnen vorschwatzen. Das müssen Sie nicht tun.“

„Nein, Herr Professor.“

„Ich will Ihnen noch mehr sagen“, verfolgte der Paragnost, meinen Kleinfinger aufhebend und darunterschauend, „wiewohl es nicht angenehm ist: Sie sind ein ausgemachter Döskopf.“ Ich war ganz bestürzt. Dieses war das,was meine Freunde mir immer gesagt hatten.

„Sie müssen aufpassen“, schloß der Psycho-metrist, meine Hand loslassend, „daß Sie dadurch nicht düpiert werden. Wollen wir nun einen Geist zitieren?“

„Wenn Sie so liebenswürdig sein wollten, Herr Professor.“

„Wollen wir Napoleon nehmen?“ „Ich habe keinen bestimmten Wunsch, Herr Professor.“

„Dann Napoleon“, erwiderte der Hellseher gähnend, „das ist der Brauch. Klopfen Sie nur auf den Tisch.“

Sofort hierauf trat Bonaparte ein. „Der Herr und ich haben uns schon vorhin gesehen“, sagte er ein wenig ärgerlich.

„Dann ist Irrtum im Spiele“, sagte der Professor ruhig, „du kannst gehen, Wilhelm.“

Der Paragnost machte die Tür hinter ihm zu und schneuzte sich darauf munter die Nase. „Ich habe sehr viel Fühlung mit Ihnen“, sagte er, das Taschentuch wegsteckend, „ich liebe die Art Menschen, zu denen Sie gehören. Sie sind sehr mediamik. Sie sollten öfter kommen. Wollen wir nun noch einen Augenblick die Zukunft prophezeien?“

„Gerne, Herr Professor.“

„Nun denn. Bleiben Sie ruhig sitzen und denken Sie mittlerweile an nichts. Das wird Ihnen nicht schwer fallen, nicht wahr?“

„Nein, Herr Professor.“

„Das dachte ich schon. Gut. Bleiben Sie ruhig. Ich muß mich kurz konzentrieren. Richtig. Ich sehe ein Mädchen. Ein junges Mädchen. In zwei Jahren werden Sie heiraten.“

„Ich bin schon verheiratet, Herr Professor.“

„Gewiß, gewiß. Aber das meine ich nicht. Sie werden wieder heiraten.“

„Dieses i s t schon meine zweite Frau, Herr Professor.“

„Gewiß, gewiß“, versetzte der Psychometrist, ein wenig unruhig werdend, „das wußte ich schon, bevor Sie hereinkamen. Aber das meine ich nicht. Ich meine es in emanativem Sinne. Haben Sie noch Fühlung mit mir?“

„Nein, Herr Professor.“

„Dann wollen wir dieses Thema fahrenlassen. Ich fürchte mich, daß es zu schwierig wird. Wollen wir nun noch einen Augenblick die Vergangenheit durchnehmen?“

„Gerne, Herr Professor.“

„Dann müssen Sie nachzahlen“, sagte der Clairvoyant, „ich kann nicht von der Luft leben.“

„Wollen Sie selbst etwas herausnehmen?“ fragte ich ehrfurchtsvoll, die Geldbörse auf den Tisch legend, „ich finde es peinlich, den Betrag selbst zu bestimmen.“

Der Mediamist schüttelte den Inhalt auf den Tisch und überreichte mir die leere Börse.

„So ist es für beide Parteien am besten“, sagte er, die Scheine nachzählend, „ich sehe in Ihrer Vergangenheit mehrere Phasen oder Sphären. Die Phase der Kindheit, die der Knabenzeit und die Phase der Jünglingsjahre. Haben Sie Fühlung?“

„Jawohl, Herr Professor“, antwortete ich, in meine Börse schauend, „aber ich habe gar kein Geld mehr.“

„Das stimmt“, erwiderte der Mediamist munter, „denn das habe ich. In der ersten Phase sehe ich Sie ganz klein, ich möchte sagen: in Kindergestalt. Stimmt dieses?“

Ich schwieg erstaunt. Er hatte den Nagel genau auf den Kopf getroffen. „In der zweiten“, verfolgte der Telepath, „sehe ich Sie etwas größer. Ich sehe einen Kreisel, einen Reifen und einen Sack Marbel. Ich höre auch das Getöse eines Klassenzimmers. Habe ich noch Fühlung?“

Ich nickte sprachlos.

„In der dritten Phase“, erwiderte der Paragnost, angestrengt nachdenkend, „sehe ich Sie Arm in Arm gehen mit, was ich nennen möchte, einem Frauenzimmer. Du liebe Zeit, ihr Bild wird vage! Aber da taucht ein anderes auf. Es ist Ihre zweite Frau. Sie wird den Verlust Ihrer ersten Gattin ersetzen. Denn sie hat liebenswürdige Eigenschaften. Wiewohl (hier verfinsterte sich das Gesicht des Illusionisten) sie auch ihre kleinen Fehler hat. Habe ich noch Fühlung?“

„Herr Professor“, sagte ich, indem ich aufstand, „dies ist nicht mehr natürlich. Dies ist übernatürlich. Es wird mir zuviel, ich gehe.“

„Wenn Sie von hier ab links gehen“, sprach der Emanist, mich zur Tür begleitend, „können Sie die Linie 5 nehmen. Sie wird voll sein. Man wird Ihnen sogar von der hinteren Plattform aus zurufen, daß unmöglich noch jemand dazu kann. Kümmern Sie sich nicht darum. Es kann immer noch jemand hinein. Hüten Sie sich vor Taschendieben. Man wird versuchen, Ihnen im Gedränge Ihre Börse zu entwenden. Stören Sie sich nicht daran. Sie haben nicht den geringsten Grund dazu.“

Aus dem Niederländischen übersetzt von A. F. C. Brosens

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