Irland und seine religiöse Verblendung

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Irland hat eine sehr spezielle Beziehung zur katholischen Kirche. Neue Missbrauchsvorwürfe schlagen kaum Wellen. Ein neues Strafmaß für Blasphemie sorgt nur für Verwunderung.

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Irland hat eine sehr spezielle Beziehung zur katholischen Kirche. Neue Missbrauchsvorwürfe schlagen kaum Wellen. Ein neues Strafmaß für Blasphemie sorgt nur für Verwunderung.

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Klickt man auf der Webseite des Irish Independent den Punkt „National News“ an, zeigt sich nur ein Unterpunkt: „Financial Crisis“. Die besonders in Irland alles überschattende Krise verdrängt alles andere aus den Medien und scheinbar auch aus den Köpfen der Menschen. Und damit tun sich Möglichkeiten auf, ungeliebte Themen unter den Teppich zu kehren und in den „Houses of Oireachtas“, dem irischen Parlament, Gesetzesänderungen zu beschließen, die wohl die wenigsten befürworten. In beiden Fällen ist es die katholische Kirche Irlands, die hiervon profitiert.

So wurde vom Parlament eine Gesetzesreform beschlossen, die den Tatbestand der Gotteslästerung definiert und den Strafrahmen auf eine Summe von bis zu 25.000 Euro festlegt. Kaum jemand findet diese Gesetzesreform gut. Ein Kolumnist des Irish Independent schreibt, dass Irland somit das religiös verblendetste Land der zivilisierten Welt sei. Es ist wohl eine Tatsache, dass die katholische Kirche Irlands weitaus mehr gesellschaftlichen und politischen Einfluss hat als die meisten religiösen Institutionen im Rest Europas. Dabei würde man annehmen, dass gerade durch die Veröffentlichung des Ryan Reports im Mai, der die bis in die 1930er Jahre zurückreichenden Missbrauchsfälle festhält (DIE FURCHE berichtete), ein kritischeres Verhältnis zur Kirche entstanden sein müsste. Zwar gingen Tausende Anfang Juni in Dublin auf die Straße, um ihre Solidarität mit den über 40.000 Opfern zu zeigen, aus den Schlagzeilen war das Thema aber bald wieder verschwunden. Die Aufregung legte sich bei Mensch und Medien. Und das, obwohl sich seither ständig weitere Opfer bei der Polizei melden.

Tatenloses Zusehen

Zahlreiche Kirchenvertreter und Ordensleute, nämlich jene, die sich weigerten, Schuld einzugestehen und Konsequenzen zu ziehen, können durchatmen. Die Kräfte innerhalb der Kirche, die für eine vollständige Aufklärung und Entschädigungszahlungen an die Opfer eintreten, scheinen sich nicht durchsetzen zu können. Es ist schwer verständlich, wie Missbrauch in diesem Ausmaß überhaupt passieren, vor allem aber so lange vertuscht werden konnte. Auch in Irland steht diese Frage weiterhin im Raum. Offensichtlich hatten weder Staat noch Kirche Interesse an der Aufklärung der Fälle, und auch heute ist fraglich, inwieweit der Wille zur Klärung da ist. Dennoch ist die Untätigkeit von Kirche und Behörden noch keine ausreichende Erklärung. Bis zur Veröffentlichung einer Fernsehdokumentation in den 1990er Jahren, die Missbrauch in katholischen Kinderheimen thematisierte, gab es nie einen Aufschrei, der Wellen schlagen hätte können. Den Opfern wurde, sofern sie über die Misshandlungen sprechen konnten, schlicht und einfach nicht geglaubt. Sie wurden als Einzelfälle oder Lügner abgestempelt. Zu groß war das Vertrauen der Iren in ihre Kirche. Der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin, einer derer, die sich für einen offenen Umgang mit der Thematik einsetzen, schrieb in einem Artikel für die Irish Times: „Jeder, der Kontakt mit Leuten hatte, die als Kinder in einem solchen Heim waren, wusste, dass die Lebensumstände der Kinder dort, milde ausgedrückt, sehr schlecht waren. Die Information war da.“ Trotzdem wurde über 60 Jahre lang kein Wort darüber verloren.

Täter wurden im besten Fall versetzt, wenn sie zu auffällig wurden. Rechtliche Konsequenzen gab es kaum. Erklären lässt sich das zum Teil durch die außergewöhnliche Stellung der Kirche in der Bevölkerung und ihre historische Beziehung zum Staat. Die katholische Kirche ist bis heute in einer besonderen politischen Machtposition, da sich das Sozialsystem Irlands stark auf kirchliche Organisationen stützt, was wiederum auf die Entstehungszeit der Irischen Republik zurückgeht. Der Katholizismus hat als unterdrückte Religion während der englischen Besatzung eine gewisse Unantastbarkeit, ja beinahe den Status des absolut Guten erlangt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1921 hatte das irische Volk erreicht, worum es so lange kämpfen mussten: Freiheit und Selbstbestimmung. Damals wurde eine irische Identität konstruiert, deren fixer Bestandteil der Katholizismus ist. Und bis heute zelebrieren die Iren die Erinnerung an ihre so schmerzvolle Geschichte: Die jungen Männer, die für die Freiheit des Landes gestorben sind, die Zeiten von Hunger und bitterster Armut und natürlich der Moment des Sieges, als die irische Republik ausgerufen wurde, werden in Liedern besungen und jedem Kind wird davon erzählt. Teil dieser Befreiung war eben auch die Möglichkeit, den katholischen Glauben offen zu leben. Die Kirche übernahm damals viele Aufgaben des jungen Staates, darunter die Versorgung von Waisenkindern.

Vielleicht wird es also erst vor dem geschichtlichen Hintergrund des Landes verständlich, dass die Kirche als Institution nie hinterfragt oder gar angezweifelt wurde. Sie hat sich aber auch den modernen Gegebenheiten angepasst und blieb dadurch selbstverständlicher Bestandteil im Leben vieler Iren. Denn als das Land in den 1990er Jahren einen Wirtschaftsboom erlebte, der es vom Armenhaus Europas zu einem Musterbeispiel für die positive Globalisierung werden ließ, ging die Kirche diesen Schritt mit.

Twitter und das Evangelium

Dieser Glaubensalltag, der zwischen traditioneller Ehrfurcht vor der Institution Kirche und einem globalisierten Lifestyle zu balancieren scheint, wirkt auf Außenstehenden zunächst etwas befremdlich. In der Studentenkirche der University of Limerick, einer der größten Bildungseinrichtungen des Landes, sind es etwa große gelbe Schaumstoffbuchstaben, die verkünden: „Alleluja – He is alive.“ Vor Beginn der Messe und während der Kommunion schallen meditative Klänge aus Lautsprechern, wie man es aus Asia Spas oder Yogakursen kennt. Die Gemeinde selbst singt nicht. In der Predigt spannt der Priester den Bogen zwischen dem Evangelium und „Jugendthemen“ wie Alkoholkonsum, Schönheitsoperationen und der Internetplattform Twitter. Zur Prüfungszeit steigt die Zahl der Kirchgänger rasant an, es wird um gute Noten gebetet, Kärtchen mit „Prüfungsgebeten“ werden verteilt. Den Prinzipien des freien Marktes entsprechend, hat sich das Angebot der Kirche der Nachfrage der Jugendlichen angepasst.

Der Geschmack wird getroffen, altmodisch ist Kirche hier sicher nicht. Tiefgründig aber auch nicht. Ob eine solche Oberflächlichkeit ausreicht, wenn unter den Iren doch einmal ein Prozess des kritischen Hinterfragens einsetzen sollte? Nächste Woche wird ein weiterer Bericht, der 450 Fälle von Kindesmissbrauch durch katholische Ordensleute festhält, publiziert. Der Untersuchungsbericht der Diözese Dublin, in dem erstmals Namen von Tätern genannt werden, wird aber vermutlich für ein Erwachen auch nicht ausreichen.

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