Für die Eidgenossen ist das Wort „Regierungskrise“ ebenso ein Fremdwort wie der Ausdruck „Vertrauensvotum“ oder das „Kabinett“ und der „Minister“. All das kennt man in der Schweiz so wenig wie den Ministerpräsidenten und die Konsultationen zur Bildung einer neuen Regierung. Auch der Staatspräsident und der Bundeskanzler sind in Helvetien nicht das, was sie andernorts sind. Der Bundeskanzler ist keineswegs der Vorsitzende der Regierung, sondern ihr Sekretär, und statt eines Staatspräsidenten kennt man in Bern lediglich einen Bundespräsidenten, das heißt einen Vorsitzenden
Die Diskussion über das Verhältnis der Eidgenossenschaft zu den Vereinten Nationen scheint in ein neues Stadium einzutreten. Das erhellt daraus, daß die Frage eines UNO-Beitrittes in der Schweizer Öffentlichkeit seit einiger Zeit mit größerer Unbefangenheit als bis an- hin besprochen wird. Bundesrat Spühler, der neue helvetische Außenminister, hat in einer Rede vor den Delegierten der sozialdemokratischen Partei in Lausanne die Frage eines Beitritts der Schweiz zu den Vereinten Nationen erstmals offen in beitrittsfreundlichem Sinne erörtert. Gleichzeitig hat auch Nationalrat Furgler,
In der Leitung der schweizerischen Außenpolitik ist der umgekehrte Vorgang zu verzeichnen wie in Wien: in Bem ist das Politische Departement (so heißt in Helvetien das Außenministerium) von bürgerlichen in sozialistische Hände übergegangen. Als der mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei verbundene Minister Wahlen am Silvester 1965 den bisherigen Verkehrsminister Dr. Willy Spühler seinen Mitarbeitern als neuen Chef vorstellte, fragte sich die Schweizer Presse, ob dieser personelle und parteipolitische Wechsel an der Spitze des Außenministeriums auch einen Kurswechsel zur Folge
Die Taktiken des österreichischen Wahlkampfes sind in der Schweiz diesesmal einem Interesse begegnet, das über die Anteilnahme hinausgeht, mit der die Eidgenossen die politischen Vorgänge in den Nachbarländern zu verfolgen pflegen. Das hat seinen Grund darin, daß der österreichische Wahlkampf stark kontrastierte mit einigen in der Schweiz zur gleichen Zeit unternommenen Experimenten mit einem neuen, vom traditionellen Parteienkampf abweichenden Stil der Wahlwerbung.Die Suche nach ansprechenden Formen der Wahlwerbung ist in der Schweiz so alt wie der Ruf, die Partei möge, statt sich
In Helvetien ist bekanntlich manches anders als ringsum — wenigstens was die Politik betrifft. Nicht nur hat seine Majestät, der simple Bürger, mehr zu sagen als in manchem Lande die gekrönten Häupter. Nicht nur ist seine Meinung zu allen Verfassungsänderungen einzuholen, er kann auch, wenn er genug Unterschriften zusammenbringt, gegen jedes Gesetz, das das Parlament zu Bern beschließt, an die Bürgerschaft appellieren. Diesem Referendumsrecht entsprechend hat er auch ein Initiativrecht, durch das er im Verein mit 50.000 Mitbürgern eine neue Verfassungsbestimmung Vorschlägen kann,
Die Landesfarben der Schweiz sind Rot und Weiß. Bezogen auf die traditionelle Schweiz, bin ich versucht, diesen Farben die folgende (zugegebenermaßen höchst unwissenschaftliche) Deutung zu geben: Der Eidgenosse läuft rot an aus Scham, wenn er als Musterknabe ausländisches Lob vernimmt, und er wird weiß vor Ärger, wenn der Ruf seines Mustervaterlandes in Frage gestellt wird. Was nicht hindert, daß letzteres seit einiger Zeit häufiger als früher zu registrieren ist.Das gewandelte ImageWeniger (Eigen-)Lob und mehr (Selbst-)Kritik an Helvetia — in diese Stichworte kann ein Wandel des
Die Schweiz gilt als steiniger Boden für parteipolitische Experimente. Um so mehr ist neuen Parteien oder Bewegungen, die es zu Anfangserfolgen oder gar zu spektakulären Sitzgewinnen bringen, die Beachtung und Aufmerksamkeit der politischen Kreise sicher. Gelingt es jedoch einmal einer neuen Gruppe, auf den ersten Anhieb in irgendeinem städtischen oder kantonalen Parlament gleich eine zweistellige Zahl von Mandaten zu erobern, dann verwandelt sich das Interesse in Verblüffung. Und Grund zur Verblüffung hatten unlängst die Genfer Parteien; es gab dort am Abend des 24. Oktober, als das
Am Freitag, dem 16. Juli, hat der Bundesrat — bekanntlich die Schweizer Bundesregierung — die letzte Sitzung vor den Ferien abgehalten. Diese sind heuer auf bescheidene drei Wochen konzentriert. Während jeweils in früheren Jahren schon bald nach dem Schluß der Juni-Session der „reduzierte Betrieb“ im Bundeshaus einsetzte und die Bundesräte ihre Ferien so staffelten, daß von Anfang Juli bis Mitte August praktisch nur eine „Pikettmannschaft“ der Landesregierung in Bern an der Arbeit blieb, hat die stets wachsende Geschäftslast in den letzten Jahren dazu gezwungen, die
Auch die Kleinstaaten geraten Immer mehr in den Sog der stürmischen technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Atomzeitalters, die ein Abseitsstehen keinem mehr erlaubt — sofern er nicht hoffnungslos insHintertreffen geraten und zur Bedeutungslosigkeit herabsinken will. Eine Art von technischem und wirtschaftlichem Kolonialismus bedroht jene Völker, deren Verwaltung, Wirtschaft, Forschung und Politik mit den rasenden Fortschritten der modernen Zivilisation nicht Schritt halten.Zwang zum FortschrittFür ein kleines Land wie die Schweiz ergeben sich aus diesem Zwang
„Confoederatio Helvetica guberna-tur Providentia Dei et confusioni hominum“, heißt es jeweils, wenn e in der schweizerischen Innenpolitii mehr schlecht als recht zu und he: geht. Bekanntlich ist die Eidgenos-senschaft bisher immer noch „davongekommen“, je stürmischer aber di<Entwicklung auf allen Lebensgebieten vor sich geht und je weniger der Staat — auch der neutrale Kleinstaat — sich den neuen Problemen, Dimensionen und Forderungen, die sie an ihn heranträgt, entziehen kann, desto weniger Eidgenossen sind bereit, mit solch billigem Trost sich und den eigenen Staat darüber
In der satirischen Schweizer Wochenschrift „Der Nebenspalter“ koninte man jüngst den Vers lesen: „Man trifft in letzter Zeit bereits / Nur selten Schweizer in der Schweiz.“ Vom Kellner bis zum Hilfsarbeiter seien bald alle dienstbaren Geister ausländischer Herkunft. Einzig in der Armee sei man sicher, noch unter sich au sein.Eine Welle des Unbehagens hat im letzten Winter das Schweizervolk ob der Überschwemmung des Landes mit italienischen, spanischen, nordafrikanischen, griechischen und türkischen Arbeitern ergriffen. Die Malaise ist Ausdruck einer Abwehrreaktion eines seiner
Uber der Stadt Bern und dem „Bernbiet“ sind in den letzten August- und ersten Septembertagen rweimal schwere Gewitter niedergegangen. Nicht nur meteorologische, sondern auch politische. Die politischen trafen einmal das kantonale und das andere Mal das eidgenössische Bern, beide Male aber ge riet der Schweizer Wehrminister, Bundesrat Chaudet, in einen wahren Wolkenbruch.Die Schande von Les RangierWas hat das gemächliche Bern in einer einzigen Woche gleich zweimal so erschüttert, daß die Schweizer Presse zu den fettesten Schlagzeilen greifen mußte? Das eine Mal wurde Helvetien
Der Besuch, den der neue österreichische Bundeskanzler Dr. Josef Klaus in Begleitung seines Außenministers, Dr. Kreisky, vom 7. bis 9. Juli der Schweiz abgestattet hat, setzt eine von seinen Vorgängern inaugurierte Tradition fort. Der „Antrittsbesuch” von Dr. Gorbach in Bern ist den Schweizern noch in sympathischer Erinnerung. Wie Gorbach, so stellte auch Klaus seinen Freundschafts- und Höflichkeitsbesuch unter das Zeichen der Bekräftigung der Verbundenheit der beiden neutralen Alpenrepubliken im Herzen Europas.Mehr als ein HöflichkeitsbesuchBundeskanzler Klaus wurde von der
„Schwere politische Erschütterung“ — „Vertrauenskrise“ — „Strapazierte Demokratie“ — „Die bittere Pille“ — „Wer trägt die Verantwortung?“ — „Das geprellte Parlament“... so und ähnlich lauteten in den letzten Wochen die Überschriften der innenpolitischen Kommentare und Leitartikel in der Schweizer Presse von links bis rechts. Dem einmütigen Ausdruck des Unbehagens, ja des Unwillens in den Zeitungen entspricht das Gefühl der Verbitterung, das sowohl in den Gesprächen unterden Politikern und Parlamentariern wie auch in den Reden des Mannes der Straße sich
Die Leser der „Furche“ werden mit Helvetizismen wie „Landi“ und „Expo“ wenig anzufangen wissen. Unter dem Kosenamen „Landi“ ist den Schweizern die „Schweizerische Landesausstellung 1939“ von Zürich in einer ans Sentimentale grenzenden liebevollen Erinnerung, und die„Expo 64“, die „Exposition Nationale 1964“. in Lausanne ist deren Nachfolgerin. Wie jene am Vorabend und zu Beginn des zweiten Weltkrieges in aller Munde war, so ist die „Expo“ des Jahres 1964 das nationale Ereignis von heute. Für die Schweiz sind die alle 25 Jahre stattfindenden Landesausstellungen
In der Dezembersession des eidgenössischen Parlaments hat der Bundesrat, die Landesregierung, Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation angekündigt, nachdem seit Monaten von Behörden und Presse das Klagelied über den Kaufkraftschwund des Frankens gesungen und immer lauter die Forderung erhoben worden war: „Es muß endlich etwas gegen die Inflation getan werden.“Die Schweiz steht heute an der Spitze der Teuerung, der Lebenskostenindex steigt unaufhaltsam und immer rapider. Allein im Jahre 1963 hat sich die Lebenshaltung um fünf Prozent verteuert, obwohl Behörden und Industrie durch
Schlechtes über die Schweiz zu sagen, sei ein europäischer Zeitvertreib, hat einmal ein Belgier gesagt. Die Schweizer haben dies bislang gelassen hingenommen, weil das Schlechte, das ihnen ihre Nachbarn und (heimlichen) Freunde immer wieder unter die Nase rieben, eigentlich gar nicht so schlecht, sondern vielleicht viel eher eine Art übertriebener Tugend ist. Jedenfalls nichts Lasterhaftes. Denn was kritisiert die Welt an der Schweiz? Sie kritisiert den helvetischen Hang zum Perfektionismus. Sie bewundert (und haßt zugleich) die Putzwut der Schweizer Frau und die Sauberkeit der Dörfer.
Die Eidgenossenschaft ist eine direkte Demokratie, und zwar die einzige, in der das direkte Mitsprache- recht der Bürgerschaft bei der Gesetzgebung konsequent durchgebildet und verfassungsmäßig verankert ist. Alle Änderungen an der Verfassung hat dasParlament dem Souverän vorzulegen, und das Recht, Verfassungsänderungen vorzuschlagen, steht nicht nur dem Parlament, sondern überdies den Kantonen und der Bürgerschaft zu, die mit dem Mittel der Initiative eine Revision der, Verfassung veranlassen können- Außerdem können 30.000 Bürger gegen Gesetzeserlasse des Parlaments die
„Das Moskauer Atomstopp-Abkom- men hat die österreichische Öffentlichkeit überrascht und auch noch lange verblüfft, nachdem Einzelheiten über diesen Wendepunkt in den Ost-West-Beziehungen bekannt geworden sind.Dręim. hintereinander, während einer parteiliche Organ .Tageszeitung” jfro- kodilstränen darüber, wie peinlich Bonn vom amerikanisch-britisch-sowjetischen Schritt berührt sei. Das tönte, wie wenn das ÖVP-Blatt bedauerte, daß man nun in Sachen Hallstein-Doktrin, EWG und NATO umdenken müsse..So zu lesen in einem Kommentar des schweizerischen Pressedienstes zur
In seinem Mitte der dreißiger Jahre erschienenen Buch „Bedürfnis nach Größe“ hat der Westschweizer Dichter C. F. R a m u z geschrieben, in kleinen Ländern haben große Gedanken keinen Platz. Das Schlimmste an diesem Umstand sei, daß die Kleinstaatler selber dies gar nicht bemerken, sie halten, meinte Ramuz, ihre Kleinheit und Kleinlichkeit noch für eine besondere Tugend, ja verwechseln sie mit einer Art von Größe und spinnen sich in ihren ideenleeren Nützlichkeitskult ein. Dieser lasse sie zum Beispiel große geisteswissenschaftliche Leistungen für reinen Luxus halten, und
In der Schweizer Presse konnte man In der letzten Zeit Meldungen der folgenden Art lesen:, „Angehörige des .Front de Liberation Jurassien' (FLJ), der Jurassischen Befreiungsfront', haben in Bourrignon eine Militärbaracke inBrand gesteckt. Der Holzbau brannte vollständig aus. Nur die Grundmauern stehen noch. In großen Buchstaben steht darauf in roter Farbe das Zeichen ,FJL': Neben dem Zeichen wurde die Bezeichnung .Zone 3' entdeckt, was darauf schließen läßt, daß die jurassische Untergrundbewegung in Gruppen operiert, von denen jede für ein bestimmtes Gebiet verantwortlich
Das Veto General de Gaulles gegen die Aufnahme Großbritanniens ir die EWG hat unter der Kuppel des Berner Bundeshauses wohl Über' raschung und Enttäuschung, aber nichKonsternation und Erbitterung ausgelöst. Die zuständigen Stellen des Wirtschaftsministeriums (Volkswirtschaftsdepartement) und des Außenministeriums (Politisches Departement)sind recht wortkarg und üben nach außen äußerste Zurückhaltung in der Kommentierung des Geschehenen. Über das, was nun vorgekehrt werden soll, hüllen sie sich gänzlich in Schweigen. Die einzige Verlautbarung der Landesregierung bildet bisher eine
Es ist wohl mehr als Zufall, daß in letzter Zeit nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen westeuropäischen Staaten der Ruf nach einer politischen Schiedsrichterrolle des Staatsvolkes laut wird. Fast zur gleichen Zeit, als in Wien die Österreichische Volkspartei ihre Initiative für eine Stärkung der direkten Demokratie der Öffentlichkeit bekannt machte, veranstaltete General de Gaulle in Frankreich eines seiner berühmten Plebiszite und ließen sich in Deutschland Stimmen vernehmen, welche anregten, über Streitfragen, die den normalen Lauf der Politik immer wieder hemmen, das
Der Vorstoß der österreichischen Volkspartei zugunsten der Einführung des sogenannten „Volksauftrags“ in das demokratische System Österreichs stellt Behörden, Politiker und Bürgerschaft dieses Landes vor die Notwendigkeit, sich mit der direkten Demokratie — ihrem Wesen, ihren Möglichkeiten und auch ihren Gefahren — auseinanderzusetzen. Da der Vorschlag der ÖVP durch das schweizerische Vorbild nicht unwesentlich beeinflußt worden ist, sind vielleicht die Überlegungen eines Schweizers, der das Funktionieren einer direkten Demokratie seit Jahren aus der Nähe verfolgt und
Das eidgenössische Parlament hat eine der aufregendsten Sessionen der letzten Jahre hinter sich. Das liegt weniger an den teilweise sehr gewichtigen Sachgeschäften, die ihm zum Entscheid vorgelegt wurden, und die unter anderen Umständen wohl Viel mehr rote Köpfe und temperamentvolle Voten verursacht hätten, als es für dermalen der Fall gewesen ist. Den Grund der Spannung bildet vielmehr die Bundesratersatzwahl, die am Donherstag der zweiten Sessionswoche vorzunehmen war. Um diese Spannung, die für die schweizerische Demokratie typisch war, zu verstehen, muß man nicht nur die besonderen
Es war in Gesprächen über die europäische Einigung eine Zeitlang last zur Mode geworden, vom „Modellfall Schweiz“ zu reden. Damit war wohl gemeint, daß die föderalistische Lösung, welche die Eidgenossen gefunden haben, um das harmonische Zusammenleben von vier Völkern in einem Staat zu gewährleisten, für den europäischen Zusammenschluß als Muster dienen könne. Die Schweizer sind mit der föderalistischen Formel „Soviel Freiheit der Teile wie möglich und soviel Bindung ans Ganze als nötig“ gut gefahren. Doch wäre man im Irrtum, schlösse man, von diesem helvetischen
„Der Wirklichkeitssinn des Schweizer Volkes hat gesiegt“ — „Atomwaffenverbot von Volk und Ständen abgelehnt“ — „Pour la libette de defendre la liberte“ — „Der Anschlag auf unsere Landesverteidigung abgewiesen“ — „Wir binden uns die Hände nicht“ So und ähnlich lauteten am 2. April die Schlagzeilen der Schweizer Zeitungen. Sie galten dem Ergebnis der Abstimmung vom ersten Aprilsonntagüber ein Ätomwaffenverbot, desser Aufnahme in die Bundesverfassung durch eine Volksinitiative verlangt worden war. Als man am Sonntagnachmittag die Urnen öffnete, wurder ihnen
„Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ So steht's in Schillers „Wilhelm Teil“, und das Wort ist auf das schweizerisch-österreichische Verhältnis gemünzt. Die „Frommen“, das sind (natürlich!) die Eidgenossen und der böse Nachbar ist der Österreicher. Der Österreicher von dazumal. Am Anfang der Eidgenossenschaft stand ja die Todfeindschaft der freiheitsdurstigen Urschweiz zur österreichischen „Besatzungsmacht“. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich das Verhältnis von Grund auf gewandelt, und wenn in Europa heute zwei