Otto Basil, der die erste österreichische literarische Zeitschrift nach dem Krieg mit dem Titel„Plan" herausgegeben hatte, veranstaltete einmal im Monat öffentliche Redaktipnssitzun-gen, an der Gäste teilnahmen - junge Mitarbeiter, sowie reifere Autoren, die aus der Emigration heimgekehrt waren. In diesem Kreis lernte ich im Sommer 1946 Franz Theodor Csokor kennen, der in einer Uniform als englischer Kriegskorrespondent aus Italien kam, und beinahe gleichzeitig Hans Weigel, der, aus Zürich eingereist, einen schlichten grauen Anzug trug. Im Unterschied zu seinem unauffälligen
Nicht jedes Kind ist wirklich geborgen, aber Kindheit bedeutet doch Geborgenheit, die man mehr oder weniger schmerzlich verliert und die man dann als Erwachsener auf verschiedene Arten zu ersetzen versucht. Der Mensch ist ein schwaches und kränkliches Wesen, das sehr schwer mit sich selbst fertig werden kann. Deshalb wird ihm der Ersatz für die abhanden gekommene Geborgenheit der Kindheit schon in der Schule geboten, damit er sich später nicht verloren fühlt: die Geborgenheit des religiösen Dogmas und die Geborgenheit in der Gemeinschaft, die an die Stelle der Familie treten soll - die
Es widerstrebt mir entschieden, einen Nekrolog über György Sebestyen zu schreiben, weil ich damit gerechnet habe, daß er eines Tages die Grabrede über mich hal- ten würde, da er sieben Jahre jün- ger war. Das wäre bei ihm, der ein schneller und gescheiter Formulie- rer war, in guten Händen gewesen. So weiß ich nicht, wo und wie ich anfangen soll.Wir lernten einander bald nach dem Scheitern des ungarischen Aufstands von 1956 kennen, an dem er als Mitglied des revolutionären Petöfi-Kreises und Anhänger des später hingerichteten neuen unga- rischen Kanzlers Imre Nagy teilge- nommen
Es ist schon lange her, daß ich bemerkt hatte, mit mir selbst nicht identisch zu sein. Ich war drei oder vier Jahre alt und spielte Eisenbahn im Gang, der zur Küche, zur Speisekammer und anderen Nebenräumen führte. Die Lokomotive und die Waggons waren nackte Zwirnspulen, die meine Mutter mir geschenkt hatte; sie nähte als Frau eines Landarztes ihre und meine Kleidung selbst sowie verschiedene andere Sachen, die sie im Haushalt benötigte. Ich schob nun die rotbraunen Spulen hin und her, pfiff ab und zu, sehr dünn und unbeholfen — es war eher ein Schrei -, um das Kommen der Lokomotive
Hans Weigel ist für mich, ob es ihm paßt oder nicht, der letzte Mohikaner aus dem Stamm der jüdischen Intellektuellen Wiens, die einst das Kulturleben dieser inzwischen heruntergekommenen Metropole eines entschwundenen riesigen Vielvölkerreichs wesentlich geprägt haben.Ich lernte ihn im Sommer 1946 kennen, bei einer der öffentlichen Redaktionssitzungen der Zeitschrift „Plan“, die Otto Basil herausgab und ab und zu die präsumtiven Mitarbeiter zu einem Gespräch einlud.In diesem Sommer, in dem man voll hochfliegender Pläne daranging, aus Wien wieder einmal eine wahrhaft
Der unerschütterlichste Optimist von allen meinen jüdischen oder nichtjüdischen Freunden war Reinhard Federmann, und er blieb ein Optimist bis ans Ende seines Lebens vor etwas mehr als zehn Jahren, das er irgendwie selbst herbeigeführt hat. Obwohl er nach den Hitler'schen Rassengesetzen nur als ein sogenannter Vierteljude galt, war er ein Fremder in seiner eigenen Heimat, in der er geboren und aufgewachsen war, und dafür hatte er gute Gründe.Als die deutschen Truppen Österreich durch widerstandslosen Einmarsch an das Großdeutsche Reich anschlössen und von der Bevölkerung begeistert
Lord W. sitzt beim Frühstück, als der Butler eintritt und gemessenen Tons zwei Herren von Scot-land Yard ankündigt.Lord W. läßt die Herren bitten, lädt sie höflich ein, mit ihm zu frühstücken, und fragt nach einer Anstandspause: „Womit kann ich Ihnen dienen, meine Herren?”„Es handelt sich darum, My-lord, daß wir gekommen sind, um Sie zu verhaften.”„Mich verhaften? Aber warum denn, meine Herren?!”„Sie stehen im dringenden Verdacht, ihre Frau Tante vormittags ermordet und danach zerstückelt zu haben.”„Ich bitte Sie, meine Herren, von persönlichen Beleidigungen
ber die miserable Situation der Literatur hierzulande sowie der Menschen, die sie produzieren, ist schon eine ganze Menge gesagt worden. Ich werde mich darauf beschränken, über meine Erfahrungen zu berichten, die ich als Mitbegründer, Mitarbeiter und zeitweiser Leiter der Interessengemeinschaft österreichischer Autoren gemacht habe.Die Erfolge unserer deutschen Kollegen, die sich in ihrem Schriftstellerverband zusammengeschlossen hatten, / machten uns klar, daß uns in Österreich eine Organisation fehlte, die uns alle zusammen erfassen und vertreten könnte.So gründeten Hilde Spiel, mein
Wien, die Metropole der Donaumonarchie, war vor dem Ersten Weltkrieg ein Anziehungspunkt für eine Vielzahl von Emigranten und Revolutionären aus allen Teilen Europas, die nach Kriegsausbruch in alle Windrichtungen verstreut wurden und in der Folge das Gesicht unseres Jahrhunderts entscheidend prägten. Einer von ihnen war Trotzki, der vor 100 Jahren, am 7. November 1879, in Janowka geboren wurde. Unser Beitrag über Trotzkis Aufenthalt in Wien ist dem Drehbuch von Milo Dors Fernsehfilm „Wien 1913 - Bahnhof der Geschichte“ entnommen.
Wenn man die großen Namen der Weltliteratur unseres Jahrhunderts aufzählt, muß man Andre Gide als einen der Gestalter des literarischen Weltbildes unserer Zeit nennen. Er gehörte zu jenen großen Alten, die aus dem neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert hereinragen und von einer gewaltigen Tradition Brük-ken zum heutigen Geistesleben geschlagen haben.Andre Gide wurde am 22. November 1869 in Paris geboren. 1947 wurde ihm der Nobelpreis für sein Lebenswerk verliehen. Es ist ein umfangreiches, vieldeutiges Werk, dessen Mannigfaltigkeit späteren Generationen die Versuchung nahelegen mag, es
Ich habe in meinem Leben genug Spieler gesehen, um zu wissen, daß es zwischen einem Gelegenheitsspieler, der ab und zu sein Glück auf die Probe stellen will, und einem Berufsspieler, der sich nie auf sein Glück allein verlassen darf, einen gewaltigen Unterschied gibt. Ein Gelegenheitsspieler fordert in seinem Leichtsinn oder von der Leidenschaft gepackt das Schicksal heraus, auch wenn er gerade eine Pechsträhne hat, ein Berufsspieler wird da äußerst vorsichtig, er zieht sich zurück und geht erst dann zum Angriff über, wenn er merkt, daß die Karten ihm wieder gewogen sind; er weiß,
Mit dl^en Ausländem ist es ein Kreuz, glauben SSe mir. Ich kann ein Lied davon singen, weil ich sozusagen beruflidi mit ihnen zu tun habe. Ich vermiete nän:üich Zimmer an Ausländer. Mein Mann 1st schon seit Jahren leidend und hat deshalb nur eine kleine Pensdon. Mein Sohn geht seinen künstlerischen Neigungen nach. Die äußem sich hauptsächlich darin, daß er alle Augenblicke eine andere Frau heiratet. Die einzige Bedingung, die er seinen Hei-ratskandddatinnen stellt, ist ein gutes Klavier, das sie zu Hause stehen haben müssen, damit er komponieren kann. Da es in Wien noch immer genug
Es wird sich schon herumgesprochen haben, daß der Beruf eines Schriftstellers weder begehrenswert noch besonders lukrativ ist. Ein sicheres Einkommen^ Sozialversicherung und Pensionsberechtigung kann man irehon von vornherein streichen, Di« zuweilen spektakulären Anfangserfolge mancher Autoren können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es bei einem Schriftsteller beträchtlich länger dauert, biis er zu einem echten Ansehen oder gar Geld kommt als bei irgend einem anderen intellektuellen oder halbintellektuellen Beruf: Abgesehen von den Massenunterhaltern finden hauptsächlich jene Schriftsteller Beifall, die dem Gegner opponieren. Wenn sie verfolgt oder eingesperrt werden, können sie mit einer über die jeweils halbe Welt verbreiteten Anteilnahme rechnen. Wenn sie tot sind, erstreckt sich diese Angelegenheit manchmal auch auf die eigene halbe Welt. Zeit ihres Lebens zählen sie in ihrer Heimat wenig, so daß jeder mit ihnen umspringen kann, wie er will.
Die Begegnung mit Mladen hat in mir einen richtigen Schock ausgelöst. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ihn seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen habe. Als ich ihn das letzte Mal sah, ich glaube, er kam gerade von Bogdan, den ich besuchen wollte, und stieg eilig die Treppe herunter, war er eben dabei, den Widerstand zu organisieren. Wir tauschten auf der Treppe, er an die Wand gelehnt, ich ans Geländer, ein paar Höflichkeiten. Ich wollte ihn überreden, einige französische Gedichte zu übersetzen, für eine Anthologie französischer Lyrik, die ich für die Zeit nach dem Krieg
Als der greise Komponist mit jugendlichem Schwung einen seiner bewährten Walzer zu dirigieren begann, wußte Mladen Raikow, daß seine Sache endgültig verloren war.Hofrat Thaler, der Mann, dessentwegen er auf diesen Ball gekommen war, stand auf, verbeugte sich eckig vor der Frau des Komponisten, einer schwarzäugigen, etwas üppigen, aber noch jung wirkenden Schönheit, führte sie zur Tanzfläche und fing dort an, sich mit ihr zu drehen, steif, auf den Fußballen hüpfend und mit einem konzentrierten, beinahe verbissenen Gesichtsausdruck; offenbar nahm er seine Rolle als Kavalier sehr
Obwohl ich allenthalben allen erfolgreichen Politikern gegenüber sehr mißtrauisch bin, muß ich offen zugeben, daß drei ältere Herren dieses Gewerbes mich in den letzten Jahren immer wieder angenehm überraschen, weil sie bei allem Starrsinn, der dem Alter eigen ist, den Mut zur Revision ihrer ursprünglichen Pläne aufbringen und dazu noch die Kraft, diese Revision bis zu einem gewissen Grad, das heißt soweit es die Umstände erlauben, auch durchzuführen. Die drei älteren Herren, die ich meine — von denen einer uns in den letzten Wochen nun für immer verlassen hat —, die drei
Es ziemt sich nicht, bei einem so feierlichen Anlaß zu lügen. Mein erster Kontakt mit der „Furche“ hat bei mir Ärger ausgelöst. In der Nummer vom 23. Oktober 1948 las ich eine Kritik von Friedrich Heer über die Aufführung von Shaws „Andro-klus und der Löwe“, in der auch folgender Satz stand: „Shaw zieht also in seiner Komödie die Summe aus dem zweihundertjährigen Zersetzungswerk, das etwa bei Voltaire beginnt und bei Alfred Rosenberg einen Kulminationspunkt erreicht.“ Voltaire und Alfred Rosenberg in einen Topf zu werfen, war wirklich ein starkes Stück. Ich setzte mich
Als sie die Tür hinter dem Mann schloß, ging sie in die dunkle Ecke, in der die Ikone einer serbischen Mater dolorosa aus dem 15. Jahrhundert hing. Das war ihr Lieblingsbild. Die italienischen Madonnen der Spätrenaissance waren vielleicht schöner, sie liebte sie aber nicht. Sie bewunderte zwar die Meisterschaft, mit der sie gemalt waren, aber ihr jungfräuliches, süßliches Lächeln sagte Miroslava wenig zu. Die byzantinischen und die serbischen Maler des 14. und 15. Jahrhunderts wußten mehr um Leid, waren doch ihre Länder damals dem tödlichen Verfall geweiht und der brutalen