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FILMERZIEHUNG

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UNSERE HEUTIGE WELT ist von Schlagworten durchsetzt. In ihnen spiegeln sich ebenso Tagesfragen wie weiter ausgreifende Probleme. Ein Erziehungsproblem schiebt sich in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund. Es läßt sich mit dem Schlagwort „Jugend und Film“ zumindest andeuten. Wie viele Seiten es auch haben mag, es bleibt in seinem Kern eine Erziehungsfrage. Wie kaum ein anderes Phänomen unseres technischen Zeitalters hat es der Film verstanden, die Jugend zu faszinieren. Er ist einer der quantitativ und qualitativ wichtigsten Miterzieher geworden. Auch einem unbeteiligten Erwachsenen muß der häufige, oft wahllose, ja hemmungslose Kinobesuch einer großen Zahl unserer Jugendlichen ins Auge fallen. Für die Bundesrepublik Deutschland haben Untersuchungen ergeben, daß sich der Filmbesuch Jugendlicher seit 193 5 mehr als verdoppelt hat. Viele Kinder und Jugendliche sehen sich mehrmals im Monat Filme an; zwei Drittel der Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren gehen regelmäßig, das heißt mindestens zweimal im Monat ins Kino. Im Durchschnitt treffen auf einen Jugendlichen 36 Filmvorführungen im Jahr, auf den Erwachsenen 171 So übt der Film einen meist unkontrollierten, aber wesentlichen Einfluß auf die körperliche und geistige Entwicklung unserer Jugend aus, er trägt bei den Jugendlichen entscheidend zur Herausbildung einer in sich abgeschlossenen Individualität bei. Diese „Individualität“ ist häufig ein Massenprodukt, gleichsam eine Ersatzindividualität vom Fließband, nur die Verhärtung verschiedenartigster widersprüchlicher Fremdeinflüsse, nicht etwa von innen her gewachsene Wesenseinheit, Persönlichkeit. Dies ist nicht zuletzt eine Auswirkung des Films. Er nährt mhi ji}s jas (Bch t und jede intellektuelle Einflußnahme in der Schule die Vorstellungswelt der Jugendlichen, prägt ihre Wunschbilder und wirkt auf längere Sicht schließlich so stark auf unbewußte Tiefenschichten ein, daß er vielfach gar nicht mehr „vergessen“ werden kann.

DIESE ANDEUTUNGEN machen hinreichend klar, daß es sich hier um ein echtes, brennendes Problem handelt. Zu einer Lösung können grundsätzlich drei Wege beschritten werden. Die Filmproduktion hätte die Möglichkeit, jugendgemäße Filme herzustellen, das heißt solche, die dem altersbedingten Interessenkreis der Kinder und Jugendlichen entsprechen, die innerhalb dieser Grenzen Fragen aufwerfen und in einer Weise beantworten, die geeignet ist, den Weg in das Leben zu erleichtern und zu helfen, es gut und anständig zu meistern. Leider regiert der Geschäftsgedanke weithin die Filmproduktion und sind etwa die Versuche von Mrs. Mary Field in England Einzelerscheinungen, die für uns vorerst wenig Hoffnung lassen. In gewissen Grenzen kann der Staat Jugendschutz gewähren, indem er für den Besuch von Filmen verbindliche Altersbeschränkungen auferlegt und dadurch für bestimmte Gruppen negative Einflüsse auf Entwicklung und Erziehung verhindert. In der Bundesrepublik Deutschland wird diese Aufgabe, im Auftrag der Innenministerien der einzelnen Bundesländer, von der sogenannten FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) ausgeübt, und zwar so, daß in dem Prüfungsausschuß hinsichtlich der Jugendfreigabe fünf Vertreter der öffentlichen Hand zusammen mit vier Vertretern der Filmwirtschaft über die Freigabe ab 6, 12, 16 oder 18 Jahren entscheiden. Durch das Jugendschutzgesetz haben diese Entscheidungen Rechtsverbindlichkeit. Jedoch könnten sie erst zusammen mit einer wirklichen Kontrolle der Filmtheater wirksam werden, und dazu erscheint die Einführung eines Lichtbildausweises für Jugendliche unerläßlich. So bleibt auch auf diesem Gebiet vieles zu wünschen übrig: ebenso wie die FSK in ihren Entscheidungen satzungsbedingt nur als Grobsieb wirken und vor schlimmsten Einwirkungen bewahren kann, bereitet die effektive Kontrolle des laufenden Kinobesuches der Polizei zunächst erhebliche Schwierigkeiten.

Da es sich bei dem ganzen Problem, wie gesagt, um eine Erziehungsfrage handelt, muß seine Lösung noch von einer dritten Seite angestrebt werden: von der Pädagogik durch „Filmerziehung“. Verstehen wir uns recht: die ohnehin überbürdete Schule soll nicht mit einem weiteren „Fach“ oder „Unterrichtsprinzip“ belastet werden, weil der Staat des Problems nicht Herr zu werden vermag. Die Pädagogik strebt auch nicht von sich aus — der Verfasser ist selbst Lehrkraft an einer Oberschule — in falscher Weise nach „Modernität“ und Aktualisierung ihrer Fächer. Doch wer heute erziehen will, darf den Kopf nicht in den Sand stecken und so tun, als gäbe es den unkontrollierten Miterzieher Film nicht, er muß der Tatsache ins Auge blicken, daß eine pädagogische Stellungnahme zum Problem Jugend und Film heute unerläßlich ist. Wer erziehen will, muß sich mit dem Film — vielleicht als mit einem notwendigen Uebel — erzieherisch auseinandersetzen. Der alte Grundsatz erweist seine Gültigkeit, daß erzieherische Werte und Ideale nur von ständig verschiedenen Gesichtspunkten aus und in immer neuer Form verwirklicht werden können, wie ja auch ihre Feinde stets in wechselndem Gewände auftreten.

FILMERZIEHUNG - was soll das nun sein? Natürlich nicht Anleitung zu vermehrtem Kinobesuch! Filmerziehung will hinführen zu wachem Filmsehen, zu richtigem, das heißt sachgemäßem Filmverstehen und zur selbständigen Beurteilung des im Film dargestellten Themas. Sie will also den Spielfilm, wie er in den Kinos läuft, nicht einen rein sachlichen Unterrichtsfilm, als günstigen erzieherischen Ansatzpunkt, als Mittel zur Erziehung nützen. Dieser Weg der Lösung des Problems Jugend und Film ist deshalb-so wichtig„ wjil,allein er dazu führt, daß es “von innen her durch die Jugendlichen, nicht von außen her für sie gelöst wird.

Welche Arbeitsmöglichkeiten bieten sich nun? Filmerziehungsarbeit wird heute in vielen Filmklubs geleistet, die sich freilich in ihrer meist exklusiven Art nur an eine kleine Zahl wenden und ihr Augenmerk in erster Linie auf die Filmgestaltung, das heißt auf Filmkundliches richten. Erziehung ist das nur bedingt. Auf breiterer Basis arbeiten die „Jugendfilmkreise“, jedoch weniger intensiv. Hier werden besonders ausgesuchte Filme vor Kindern und Jugendlichen gezeigt, manchmal auch anschließend besprochen. Wenn es gelänge, vor allem den Filmbesuch der

Kinder auf diese Vorstellungen zu beschränken und nicht nur, wie es meist der Fall ist, den zusätzlichen Besuch eines, freilich guten Filmes zu bieten, dann könnte auf diesem Gebiet viel erreicht werden.

Filmerziehung geschieht weiterhin in beschränktem Umfang durch die sogenannten „Schulfilmveranstaltungen“. Ein- bis zweimal im Schuljahr werden vom Ministerium eigens genehmigte Spiel filme während der Unterrichtszeit besucht und anschließend, ebenfalls im Unterricht, ausgewertet. Hier wird den Lehrern Gelegenheit geboten, sich sozusagen amtlich mit dem Gebiet der Filmerziehung vertraut zu machen. Auch „Filmberatungsdienste“ — am weitesten verbreitet sind die kirchlichen Filmdienste — arbeiten filmerzieherisch. Zwar erstreckt sich ihre Wirkung nur auf diejenigen, die guten Willens sind, aber ihre besondere Möglichkeit besteht darin, daß sie durch ihre ausgezeichneten Einstufungen, die sich immer mehr Vertrauen erwerben, den Besuch schlechter Filme überhaupt verhindern können und so imstande sind, einen spürbaren Einfluß auf den Kassenerfolg eines Filmes und damit auf die Filmproduktion auszuüben.

Ich möchte aber auf eine weitere Möglichkeit der Filmerziehung hinweisen, von der noch zuwenig Gebrauch gemacht wird: auf das Filmgespräch. Es kann lebendiger und nachhaltiger erziehen als die beste gedruckte Besprechung. Die ideale Form wäre das Gespräch zwischen

Eltern und Kind über einen gemeinsam besuchten Film. Man verstehe mich recht: Je mehr eine Familie intakt ist. desto weniger wird der Spielfilm ein schwieriges Erziehungsproblem darstellen. Glückliche Familien! Aber die meisten Eltern müssen sich heute mit der Tatsache abfinden, daß ihre Kinder sehr häufig Filme besuchen. Verbote allein helfen nicht, ganz abgesehen davon, daß sie leicht umgangen werden können und Konfliktstoff stauen. Wenn die Eltefri,“statf äeriTiim als'Mrtefzierief zu'leug-' nen, verschiedentlich Filme mit ihren Kindern besuchen und sich anschließend darüber aussprechen würden, könnte das nicht nur eine der 'besten Formen von Filmerziehung, sondern kann das wirksame Erziehung überhaupt sein.

Dem Berufserzieher bietet sich eine andere Form des Filmgespräches an: das Gruppengespräch, vor allem mit Jugendlichen etwa ab 16 Jahren. Der Verfasser hat diese Form als freie Arbeitsgemeinschaft an einer Oberschule mehrere Jahre erprobt. Hier gilt es, nach dem gemeinsamen Besuch eines der laufenden Spielfilme, Inhalt und Gehalt des Filmes zu klären, dazu anzuregen, den Film in seiner spezifisch optisch-akustischen Gestaltungsiorm, also „filmisch“ (wie etwa ein Drama dramatisch) zu betrachten und zu werten. Man wird versuchen, ein im Film angeschnittenes Problem herauszugreifen bzw. es von den Jugendlichen herausgreifen lassen, und wird es mit Vorsicht und unmerklich pädagogisch auswerten.

FÜR SOLCHE FILMGESPRÄCHE gibt es grundsätzlich drei erzieherische Möglichkeiten.

Sie können einmal formale Schulung und Erziehung sein. Gerade diese Möglichkeit ist besonders wichtig. Sehen, verstehen und deuten lernen heißt doch: seine Sinne schärfen, fein-' fühliger und aufgeschlossener werden, also: die innermenschlichen Kontaktflächen vergrößern. Da Filmgespräche ein kritisches Vorgehen darstellen, erziehen sie zu größerer eigener Standfestigkeit. Sie helfen, besonders in der Form der Diskussion, sich abwägend ein Urteil zu bilden und seinen eigenen Standpunkt in der Welt klarer zu erfassen. Mit Recht kann man das Erziehung zur Persönlichkeit nennen. Aber auch dem Film gegenüber sind diese Diskussionen formale Schulung. Schon wenn es gelingt, den Jugendlichen anzugewöhnen, daß sie sich nach einem Film fragen, was er eigentlich wollte, und ob das, was er aussagte, wirklich „stimmt“, ist sehr viel gewonnen — vielleicht das meiste! Nicht durch Vermittlung von film-kundlichem . Wissen, zum Beispiel, wie ein Film gemacht wird oder mit welchen Tricks er arbeitet, soll die Bannkraft des Films schon während der Vorführung gebrochen werden. Die Frage heißt vielmehr, ob durch Filmgespräche der Faszinationskraft des Films auf die Dauer entgegengewirkt werden kann. Dies ist zu beiahen. Es mag vorerst genügen, wenn der Jugendliche auf dem Heimweg beginnt, an den Film, dem er zwei Stunden ganz verfallen war, kritische Fragen zu stellen. Wird Filmerziehung längere Zeit durchgeführt, so wird auch die momentane Ueberwältigung durch den ablaufenden Film nachlassen.

Die zweite erzieherische Möglichkeit für Filmgespräche ist inhaltlicher Art. Sie besteht darin, vor verzerrten Vorstellungen von Welt und Mensch, vor allem vor falschen Leitbildern (zum Beispiel Edelgangstertypen) zu bewahren und negative Einwirkungen des Films zu entschärfen. Dieses Ziel wird immer dann erreicht, wenn es in der Diskussion gelingt, lebensunwahre Darstellungen zu entlarven, schiefe ;Weitungen ins Lot zu bringen und so zunächst' vor ral'scner eigenerEStelIungnahme zu bewahren. Dies ist freilich beim heutigen Stand der Filmproduktion ein Hauptziel!

Aber wir wollen nicht verkennen, daß durch den Film manchmal auch zu unmittelbar positiven Werten erzogen werden kann. Die Situation ist hier für den Erzieher besonders günstig. Die Teilnehmer sprechen im allgemeinen sehr frei und lebhaft, denn sie alle gehen von einem gemeinsamen Erlebnis, dem Film, aus. Gebiete werden erschlossen, die vom Unterricht aus nicht oder schwer zugänglich sind. Das Problem steht lebendig und aktuell vor Augen, es wird nicht, weil es „an der Reihe“ ist, durchgenommen. Schließlich ist es möglich, sich sozusagen über einen „objektiven Fall“ zu unterhalten und selbst scheinbar aus dem Spiel zu bleiben, wenn das Verhalten von Filmpersonen beurteilt wird. Das räumt Hemmungen hinweg. Die Jugendlichen sind sich nicht voll bewußt, wie sehr sie sich doch mit den Filmgestalten identifizieren und in eigener Sache sprechen. Dies zeigt, was für einen günstigen Ansatzpunkt ein Film psychologisch für die Erziehung zur rechten Lebenshaltung bildet.

JEDER ERZIEHER sollte'jedoch die Grenzen seiner Möglichkeiten klar sehen. Der Film erfaßt unmittelbar in seiner Einwirkung oder mittelbar im Filmgespräch nur einen Sektor des Menschlichen. Daher muß Filmerziehung stets als Teilerziehung deutlich erkannt werden. Nicht alle Filme lassen sich diskutieren. Viele Dinge lassen sich (überzeugend oder überhaupt) optisch nicht fassen, können also durch den Film gar nicht berührt werden. Vieles, was ein Film andeuten oder darstellen kann, entzieht sich der Aussprache in Form der Gruppendiskussion. (Hier liegen die besonderen Möglichkeiten der Gespräche zwischen Eltern und Kind.) In der Gruppendiskussion sind die Bereiche der Intimsphäre des einzelnen, der Schamhaftigkeit im vollsten, weitesten Sinne, zu achten, dürfen nicht grob angetastet werden. Für Prüderie und feiges Totschweigen lassen Filmdiskussionen sowieso keinen Raum. Schließlich sind Erziehungsbereiche, wie die zur Muße und einer aktiv-kontemplativen Haltung, dem Film schon wegen seiner Struktur als sehr rasches Erlebnisdiktat fast unzugänglich. Hier kann weder mit dem Film noch unmittelbar gegen ihn, sondern nur ohne ihn erzogen werden.

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