400 Bücher, 10.000 Frauen

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Als Georges Simenon den Kommissar Maigret erfand, hatte er gerade 48 Romane in einem Jahr geschrieben. Der genialste Vielschreiber aller Zeiten wurde vor 100 Jahren geboren.

Georges Simenon war ein manisch Getriebener, ob er schrieb oder ob er es trieb. 193 Romane und 51 Erzählungen erschienen unter seinem richtigen Namen, rund 200 weitere unter 18 verschiedenen Pseudonymen. In seinen produktivsten Jahren schrieb er 80 Seiten pro Arbeitstag. Er erfand so schnell wie er schrieb, und er schrieb ausdauernder als eine Schreibkraft. Von seinen Büchern wurden über 500 Millionen Exemplare gedruckt. Weniger Vertrauen verdient seine Behauptung, er habe mit 10.000 Frauen geschlafen. Seine zweite Ehefrau meinte, sie sei mit ihrer Schätzung nur auf 1.200 gekommen.

André Gide an Simenon, Februar 1948: "Vor zehn Tagen waren wir hier sämtlich von einer heftigen Simenonitis befallen. Sie hätten sicher gelacht, wenn Sie uns gesehen hätten, wie wir alle in einem Zimmer zusammenhockten und in Ihre Bücher vertieft waren (...) Ganz am Rande: Habe innerhalb von vierzehn Tagen zwölf Ihrer früheren Bücher gelesen. Das ist wie eine Krise - sie erwischt mich jedes Jahr."

Ordnungsstifter Maigret

Warum liebten und lieben Millionen Leser den Kommissar Maigret? Wegen seiner spannenden Kriminalfälle? Die fallen auch anderen ein. Es dürfte eher am Kommissar selbst liegen, dieser massigen, Väterlichkeit ausstrahlenden Gestalt, seinem Einfühlungsvermögen, mit dem er nicht nur Morde aufklärt, sondern auch alles versteht, an dieser archetypischen, Ordnung stiftenden Figur in einer Welt des allgegenwärtigen Verhängnisses und der hinter den Mauern lauernden Gewalt.

Ein Autor mit phänomenalem Erfolg war Simenon allerdings auch schon vor der MaigretErfindung. Allein im Jahr vor der Entstehung des ersten Maigret-Romans hatte er 48 Romane geschrieben, von denen einige Auflagen von mehreren Hunderttausend erreichten. Maigret, hoffte er, sollte es ihm ermöglichen, nur noch vier bis sechs Romane und nur noch 20 Seiten pro Arbeitstag zu schreiben.

Simenon an André Gide, Jänner 1939: "Ich bin wie besessen vom Menschen. Nicht so sehr von seinen Fähigkeiten - nein, von seinen Empfindungen. Von dem, was er sagt; von seinen geringsten Regungen, seinen Verhaltensweisen."

Mehr als Georges Simenon hat wohl kein Mensch je geschrieben. Er wurde ins Zeitalter der Schreibmaschine hineingeboren, technisch machte erst die Schreibmaschine einen Simenon möglich. Das Phänomenale dabei ist aber nicht nur die Quantität, sondern die Qualität bei dieser gigantischen Quantität.

André Gide an Simenon, 31. Dezember 1938: "Sie gelten als Unterhaltungsschriftsteller, dabei wenden Sie sich keineswegs an die breite Masse. Schon allein die Themen Ihrer Bücher, die feineren psychologischen Probleme, die Sie aufwerfen - das alles ist für einen Leser geschrieben, der zu differenzieren weiß."

Simenons zeitweise chaotisches Privatleben und sein manisch getriebenes Schreiben sind von seinen familiären Prägungen, Kindheits- und Jugenderfahrungen und von der Allgegenwart von Heimtücke und Gewalt im von Nationalitätenkonflikten zerrissenen, im Ersten Weltkrieg militärisch besetzten Lüttich nicht zu trennen. Sein 1974 geschriebener "Brief an meine Mutter" (die dreieinhalb Jahre vorher mit 91 Jahren gestorben war) ist nicht nur ein literarisches Glanzstück, sondern bietet auch manchen Schlüssel zum Verständnis Simenons.

Nachzulesen, ebenso wie der Briefwechsel mit André Gide, im "Simenon-Lesebuch" des Diogenes Verlages, der das Werk Georges Simenons in neuen Übersetzungen herausbringt: 200 Bände seit 1977, von denen derzeit 26 Maigrets und 31 "Non-Maigrets" lieferbar sind. Simenons Gesamtwerk, Krimis wie Nicht-Krimis, erlebt derzeit eine Renaissance, er steht gleichwertig neben den großen Romanciers.

Erblast als Ressource

Seine familiäre Situation bot kein Vorbild für den Maigret. Sie hatte eher mit den Milieus, in die der Kommissar gerät, zu tun, Abteilung bürgerliche Familien mit Leichen im Keller. Ein schwacher Vater, eine schwer gestörte Mutter, ein nach dem Konkurs seines Unternehmens in den Suff abgerutschter Großvater, ein Onkel, der seiner gutbürgerlichen Existenz eines Tages ade sagte und ein Leben als Clochard vorzog.

Maigret mit seinen geordneten kleinbürgerlichen Verhältnissen, mit seinem maßvollen Umgang mit dem Alkohol, der Simenon nicht immer gelang, steht für vieles, was Simenon gern gewesen wäre. Wieder einmal wurde die familiäre Erblast zur Ressource eines Dichters.

André Gide an Simenon, 9. Juni 1942: "Ein Ratschlag: Vorsicht mit unvollendeten Sätzen, mit den berühmten drei Pünktchen; ein einfaches Stilmittel, das jedoch durch den übermäßigen Gebrauch, den Sie davon machen, jegliche Wirkung verliert. (...) Sie schulden uns Großes. Ich ahne es im voraus; ich warte darauf."

Der Roman "Die Glocken von St. Bicètre" dürfte eines jener Bücher gewesen sein, die Simenon nach Meinung des Nobelpreisträgers der Welt schuldete. Er beschreibt darin die Wochen, in denen ein vom Gehirnschlag betroffener Zeitungsverleger im Zustand völliger Hilflosigkeit beschließt, ein anderer zu werden, und wie er genesend immer mehr von diesem Vorsatz abrückt, um das Spital als genau derjenige zu verlassen, der er war. Die Glocken der nahen Kirche St. Bicètre strukturieren die Zeit.

Ein großer Teil von Simenons Romanen waren Nicht-Krimis, "gewöhnliche Romane". Nach Maigrets Geburt wurden sie allgemein als "Non-Maigrets" bezeichnet. Manche sind schwach, manche hervorragend, wobei er keineswegs an den besseren länger schrieb.

André Gide an Simenon, 11. Dezember 1944: "Mein ganzer Vortrag zielt überhaupt darauf ab, zu zeigen - zu beweisen -, dass Sie weit bedeutender sind, als gemeinhin angenommen."

Simenon kämpfte schreibend gegen die Schatten seiner Kindheit an, schrieb ein Leben lang mit immer neuem Personal und immer neuen Konstellationen an derselben Geschichte. Auch als reicher Mann klagte er über die Notwendigkeit, genug Geld zu verdienen. Rationalisierte er damit seinen Schreibzwang? Oder hatte auch sein Geldverdienen Zwangscharakter? Die Mutter litt lebenslang unter der Angst, im Alter Not zu leiden, gab aber vom Geld, das ihr der Sohn schickte, nichts aus. Sie häufte es insgeheim an - und gab es ihm vor ihrem Tod einfach zurück. Ihr besonderer Liebling war Georges nie gewesen. In zwei Maigret-Romanen, ("Maigret und das Schattenspiel" und "Maigret und die Bohnenstange") morden alte Frauen um des Geldes wegen - sie wollen es einzig und allein für sich.

Simenon war ein hervorragender Geschäftsmann und hinterließ ein Milliardenvermögen, wurde aber im Alter immer wunderlicher. Er verbrachte die späten Jahre mit Teresa, einem ehemaligen Dienstmädchen seiner zweiten Frau Denyse, in einem kleinen Haus in Lausanne. Er besaß ein Schloss, das er aber ebenso wenig betrat wie seine Bibliothek, wo in einem großen Raum 18.000 verschiedene Ausgaben seiner Werke in 200 Sprachen standen, oder seine zahlreichen Wohnungen. Die Wände seines Hauses waren kahl, obwohl er eine bedeutende Kunstsammlung mit Werken von Matisse, Picasso und vielen anderen besaß. Die Räume waren abends vom kalten Licht nackter Neonröhren erfüllt, als wollte er Gespenster vertreiben, und in einem gewissen Sinn war sein lebenslanges manisches Schreiben auch ein Kampf mit Gespenstern gewesen.

Warum bist du gekommen?

Dass ausgerechnet sein Bruder jung habe sterben müssen, hatte die Mutter einmal zu Georges gesagt. "Warum bist du gekommen?", fragte sie ihn auf dem Totenbett. Im "Brief an meine Mutter": "Soweit ich zurückdenken kann, hast du immer und überall nur Lüge und Eigennutz gewittert." Auch Simenons Verhältnis zu seinen Kindern war eingedunkelt. Eines der späten Gespenster war die Tochter, die Selbstmord begangen hatte. Sein letztes Buch waren die als Brief an die tote Tochter geschriebenen Memoiren.

Manisch getrieben wirkte er auch in seiner lebenslangen Suche nach dem Glück. Hatte er es wieder einmal gefunden, wurde er auf geradezu rührende Weise zum Romantiker. Auch André Gide hatte er einst gestanden, die große Liebe gefunden zu haben.

André Gide an Simenon, Februar 1948: "Was für Sie neu ist, ist keineswegs neu in der Literatur. (...) Ich glaube, Sie haben Ihr neues Glück noch nicht verdaut, noch nicht verarbeitet (...) und angesichts dieser außerordentlichen Bereicherung fehlt Ihnen der Abstand, um es richtig einzuschätzen und in Ihre Arbeit einfließen zu lassen."

Allzu eindringlich, um völlig glaubwürdig zu sein, versicherte der alte Maigret, wie glücklich er mit seiner Teresa sei. Seine Kinder erfuhren erst aus dem Radio, dass er am 4. September 1989 gestorben und bereits eingeäschert worden war. So hatte er es verfügt.

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