Emotionen und VERSTAND

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Das Filmfestival Locarno zeichnete den Südkoreaner Hong Sang-Soo aus - und ist ein Ort von Ambivalenzen zwischen Kunst und Kommerz.

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Das Filmfestival Locarno zeichnete den Südkoreaner Hong Sang-Soo aus - und ist ein Ort von Ambivalenzen zwischen Kunst und Kommerz.

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Was das Filmfestival von Locarno bei jeder seiner Ausgaben eindrucksvoll zeigt, ist, dass es abseits des gängigen Begriffs des Kinos als Ort der Unterhaltung auch einen überaus lebendigen zweiten, bisweilen verborgenen Zugang zur Rezeption von Filmen gibt: Es ist eine Kombination aus Bauchgefühl und Verstand, die viele Arbeiten in Locarno erst lebendig werden lässt. Fehlt der Verstand, bleibt so manche Arbeit ein Rätsel, wirkt verkopft oder kompliziert; fehlt das Bauchgefühl, fällt das Durchsitzen schwer: Kino, das nur auf intellektueller Ebene berührt, aber nicht auf emotionaler, funktioniert nicht. Weder im Mainstream noch in der Kunst.

Aufregende Filme

Insofern ist die Entscheidung, den Südkoreaner Hong Sang-Soo in diesem Jahr mit dem Goldenen Leoparden auszuzeichnen, ziemlich passend auf eine Filmschau wie Locarno, bei der die Ambivalenzen zwischen Intellekt und Emotion, zwischen Kunst und Kommerz stärker herausgestrichen werden als anderswo. Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter des Festivals, hat sein Augenmerk wieder stärker auf das Spröde, das Irritierende gelegt, anders als sein Vorgänger Olivier Père, der Locarno auch dem Mainstream öffnen wollte.

So sind bei Chatrian die Stargäste rarer geworden (in diesem Jahr kam Edward Norton), die Filme dafür auffallender. Nehmen wir also den Träger des Hauptpreises: In "Right Now, Wrong Then" vollführt Hon Sang-Soo quasi einen doppelten Anlauf, um die älteste Geschichte des Kinos zu erzählen: Boy Meets Girl. In diesem Fall trifft der bekannte, fiktive Filmemacher Ham Chun-su (Jeong Jae-yeong) auf eine junge Künstlerin namens Yoon Hee-jung (Kim Min-hee). Sie erkennt ihn zunächst nicht, doch beim gemeinsamen Kaffeeplausch und im Gespräch über Kunst kommt man einander näher. Chun-su, bald heillos verliebt, bekommt das Mädchen am Ende aber nicht. Dafür eine zweite Chance: Der Tag beginnt in der Mitte des Films einfach erneut - "Und täglich grüßt das Murmeltier" auf Koreanisch.

Boy Meets Girl

"Right Now, Wrong Then" schlüsselt auf, wie schwer sich Menschen tun, einander kennen und lieben zu lernen - und wie sehr man sich, trotz des ganzen Geredes, doch missverstehen kann. Stilistisch mit seinen typischen Zooms und seinen theatralischen Figurenanordnungen versehen, hebt Hong Sang-soo zu einer künstlerischen Auseinandersetzung über die Liebe an. Ein Film, wie er den Locarnesi gefällt.

Religion und Rätsel

Auch der mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnete "Tikkun" von Avishai Sivan aus Israel weiß zu gefallen: Haim-Aaron (Aharon Traitel), ältester Sohn einer streng gläubigen orthodoxen Familie, erschrickt nach einer plötzlichen Erektion unter der Dusche dermaßen, dass er von seinem Vater reanimiert werden muss. Danach ist nichts mehr wie es war: Haim-Aaron beginnt, an Gott zu zweifeln und schlägt sich die Nächte um die Ohren. Auch sein Vater bleibt ratlos: Hat er Gottes Wille durch die Wiederbelebung unterwandert?

Der Schwarzweiß-Film zeigt viel Gespür für die Nöte, die Religion und Gesellschaft auf junge Menschen ausüben können. Auf der Suche nach Identität und Selbstbestimmung mündet der Film fein austariert in einem Spannungsfeld zwischen Humor und Verstörung.

Als bester Regisseur wurde in Locarno heuer Andrzej Zulawski aus Polen ausgezeichnet. Zulawski, bei uns am ehesten wegen seines Films "Nachtblende" mit Romy Schneider bekannt, zeigt in "Cosmos" eine surreal-skurrile Versuchsanordnung: Die zwei Studenten Witold (Jonathan Genet) und Fuchs (Johan Libereau) nehmen sich eine kleine Auszeit in einer Pension, doch deren Mitarbeiter sind allesamt höchst seltsam. Im Wald finden sie einen Spatzen, der an einer Schnur erhängt wurde, und auch sonst passieren einige Absonderlichkeiten. "Cosmos", nach 15 Jahren Zulawskis erste Arbeit, ist geprägt von geschwätzigen Szenen und theaterhaften Auftritten, von wüsten Handlungssprüngen und plötzlichen Szenenwechseln. Vielleicht muss man bei diesem Film erst noch genauer hinsehen, um zu entscheiden, welche der beiden Rezeptionsebenen hier stärker gewichtet werden sollte: Das Hirn oder der Bauch. Andererseits: Locarno gibt gern Rätsel auf, und nicht jedes Rätsel braucht eine Lösung.

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