Glauben an das Gute im Menschen

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Ihre Tagebücher bleiben im Gedächtnis: Der österreichisch-russischen Schriftstellerin Alja Rachmanowa zum 10. Todestag.

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Ihre Tagebücher bleiben im Gedächtnis: Der österreichisch-russischen Schriftstellerin Alja Rachmanowa zum 10. Todestag.

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Häufig befriedigen sie die voyeuristische Sensationslust des gehobenen Lesepublikums, von Erben und Nachlassverwaltern werden sie als kostbarer Schatz gehütet, und zuweilen sind sie dem Literaturexperten gar quälendes Programm wissenschaftlicher Pflicht-erfüllung. Kaum jemals stehen sie allerdings ausschließlich im Rampenlicht eines schriftstellerischen Îuvres. Die Rede ist von der literarischen Gattung der Tagebücher.

Die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa bildet hierin eine seltene Ausnahme, so wie sie überhaupt eine merkwürdige Erscheinung am literarischen Horizont darstellt: Dass sie die meistgelesene Autorin ihrer Zeit war, ihre Bücher eine Gesamtauflage von über 2 Millionen erreichten und in über 20 Sprachen übersetzt wurden, verdankt sie in erster Linie einer autobiographischen Tagebuchtrilogie, denn in ihr wirkt die Persönlichkeit einer außergewöhnlichen Frau.

Ihre magische Wirkung haben Rachmanowas Bücher bis heute auf verblüffende Weise beibehalten, und das, obwohl sie bei der zeitgenössischen Generation von Leserinnen und Lesern in Vergessenheit geraten sind, und obgleich der Leser von heute, der sie dennoch gefunden hat, unschwer erkennt, dass er es nicht mit einer der ganz Großen der Weltliteratur zu tun hat. Zu sehr sind die Aufzeichnungen dem Geschmack ihrer Zeit verhaftet, zu sehr befremdet heute das überschwengliche, scharf an Kitsch grenzende Pathos mancher Stellen.

Und dennoch, mit Nachdruck sei es gesagt: Alja Rachmanowa ist ein beeindruckendes Leseerlebnis und ein Geheimtipp. Ihre Bücher gehören zu jenen, die im Gedächtnis bleiben und die man weiterempfiehlt. Auch wenn die Zeit einiges zwischen das Werk dieser Schriftstellerin und den Leser des nächsten Jahrhunderts geschoben hat: Ihre Botschaft kommt immer noch an, denn sie ist zeitlos und alles andere als banal.

Das einzige ihrer Bücher, das man nicht im Antiquariat aufstöbern muss, sondern wieder im Buchhandel entdecken kann, ist der dritte Band ihrer Autobiographie, "Milchfrau in Ottakring", von Dietmar Grieser 1997 bei Amalthea neu herausgegeben. Es schildert die Geschichte der Flüchtlingsfamilie Hoyer-Rachmanowa, die aus der Sowjetunion ausgewiesen im Wien der zwanziger Jahre eine Existenz aufzubauen versucht. Der aus Salzburg stammende Arnulf von Hoyer, im Tagebuch als Otmar Wagner literarisch verfremdet, verbringt die Tage an der Universität und in der Bibliothek, um sein Studium nachzuholen. Seine junge Frau, die er als Kriegsgefangener in Sibirien kennen gelernt hat, sorgt hinter der Budel eines für geliehenes Kapital erworbenen Milchgeschäfts in der Währinger Hildebrandgasse für einen kärglichen Unterhalt. Die ehemalige Assistentin für Kinderpsychologie verkauft Milch und Buttersemmeln, teilt mit ihrem Mann und dem vierjährigen Sohn Alexander, literarisch Jurka, einen feuchten und fensterlosen Wohnraum hinter dem Geschäftslokal und kämpft erfolgreich gegen das Misstrauen und die Vorurteile, die Nachbarn und Kunden ihr als der Fremden aus Russland entgegenbringen. Wie sie es seit ihrer Kindheit gewohnt ist, vertraut sie ihrem Tagebuch alles an: ihre Not im fremden Land, ihre schmerzliche Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und ihre ausführlichen Beobachtungen der Vorstadtschicksale im Wien der Zwischenkriegszeit, die ihr täglich im Geschäft begegnen.

Aber es ist nicht erst Wien, das die Tochter aus wohlhabendem Haus das Arrangement mit der Armut lehrt: Gegenstand der ersten beiden Tagebuchbände "Studenten, Liebe, Tscheka und Tod", mit deren Herausgabe im Jahr 1931Alja Rachmanowa schlagartig bekannt wird, sind die Revolutionswirren von 1917 und der Bürgerkrieg in Sowjetrussland. Aus Perm im Ural, wo sie aufgewachsen ist und ein Literatur- und Psychologiestudium an der Universität begonnen hat, muss sie mit ihrer als "bourgeoiser" Klassenfeind verfolgten Familie vor den Bolschewiken nach Sibirien fliehen. Die Rückkehr nach Perm gemeinsam mit ihrem Gatten, den sie 1921 in Irkutsk geheiratet hat, kann für sie jedoch keine endgültige sein. Der österreichische Aristokrat, der seiner Frau zuliebe als Dozent für Deutsch und Sprachwissenschaft an der Universität Perm im bolschewistischen Russland bleiben möchte, wird mit seiner Familie im Proletarierstaat nicht geduldet. Das mag ein Glück gewesen sein. Denn der Vater, dessen Verhaftung Alja Rachmanowa zweimal miterleben musste, wird später erschossen, die Mutter stirbt den Hungertod, und von den beiden Schwestern hat sie ab den dreißiger Jahren keine Nachricht mehr.

Alja Rachmanowa, die ein Leben lang darunter litt, ihr geliebtes Russland nie mehr wieder sehen zu können, war eine der ersten, die der westlichen Welt in ihren minutiös protokollierten Tagebüchern ein authentisches und ergreifendes Zeitdokument vorlegte. Die Bedeutung dieser Aufzeichnungen kann vielleicht erst jetzt, in der Distanz zur ideologischen Polarisierung während der Zeit des Kalten Krieges richtig eingeschätzt werden. Denn der große Zuspruch der fünfziger und sechziger Jahre - den Roman "Die Fabrik des neuen Menschen" kürte ein französischer Akademiepreis zum "besten antibolschewistischen Roman" - war ebenso von politischen Motiven mitgetragen wie der plötzlicheVerlust des Interesses an ihren Büchern seit den siebziger Jahren nach der Studentenbewegung.

Heute hingegen lässt sich die Frage nach dem stellen, was geblieben ist. Zum einen: eine bestürzende Dokumentation der Schrecken und Gräuel eines totalitären Regimes, das den Menschen zur Bestie macht, ein schauerliches Zeugnis von Verbrechen an der Menschenwürde, vorgeführt am erlebten Kosmos einer Einzelnen. In Rachmanowas Tagebüchern findet man jenes Stück Geschichte, wonach man etwa in Künstlerbiographien einer Zwetajewa oder Achmatowa - auch - sucht, wo aber immer das persönlich Tragische der genial Begabten mitverwoben ist. Und man stößt auf jenes wertvolle Material, um dessen Wertschätzung sich die Sozialgeschichtsforschung seit den siebziger Jahren verdient gemacht hat, als man begonnen hat, den Alltag des "kleinen Mannes" in Interviews und Aufzeichnungen als Forschungsgegenstand ernst zu nehmen.

Zum anderen aber offenbart sich uns hier über den Wert als Dokumentation hinaus eine tiefgehende allgemein menschliche Dimension. Schon sehr früh hat Galina Djurjagina erfahren, welche außergewöhnliche Anziehungskraft sie auf andere Menschen ausübt: Eine Kommilitonin erklärt der Siebzehnjährigen: "Ihre Seele ist wie ein Schwamm, Alja. Sie trinken die Seele der Menschen in sich hinein. Wenn man Sie sieht und in Ihre Augen blickt, so ist der erste Wunsch, Ihnen alles zu sagen."

Nicht nur die Kollegen und die Bekannten in Russland schütten Alja Rachmanowa ihr Herz aus, auch die Kunden im Milchladen vertrauen sich schon nach kurzer Zeit der Fremden an, und ihre ergriffenen Leser breiten in Briefen ihren persönlichen Kummer vor ihr aus, auf den sie gewissenhaft reagiert. Ihre Ausstrahlung beruht auf geradezu dostojewskijschem Verständnis für den Menschen. Rachmanova handelt aus tiefer Liebe zu ihm, aus tiefem Mitgefühl und einem unverbrüchlichen Glauben an das mögliche Gute in jedem Menschen, wenngleich sie in einer fortwährenden inneren Auseinandersetzung das, was sie an Entsetzlichem mitangesehen hat, gegen ihr ideales Bild hält. Und sie schöpft aus einer tiefen Religiosität, die in ihrer Selbstverständlichkeit selbst den säkularisierten Leser zu beeindrucken vermag. An Dostojewskij gemahnt aber vor allem ihre Auseinandersetzung mit dem, was Leiden bedeutet.

Die Tagebuchaufzeichnungen des ersten Bandes beginnen mit ihrem siebzehnten Geburtstag, ein halbes Jahr, bevor die Ereignisse des Revolutionsjahres 1917 Russland von unten nach oben kehren werden. Noch lebt die Arzttochter in behüteten Verhältnissen, befindet sich höchstens im inneren Zwiespalt, weil sie einerseits ihre Mutter mit ihren "proletarischen Neigungen" befremdet - indem sie es etwa vermeidet, sich vom Stubenmädchen beim Ankleiden helfen zu lassen, oder der Köchin anbietet, das Gemüse vom Markt zu holen -, andererseits aber zur radikalen studentischen Untergrundorganisationen mit differenzierter Kritik auf Distanz geht. Aber schon jetzt empfindet sie ihr Leben als unausgefüllt, weil es "allzu glücklich" sei.

Entbehrungen und Schicksalsschläge wird sie bald darauf - wie alle in dieser Zeit - im Übermaß kennen lernen, und diese beschränken sich nicht auf ihr Leben in Russland. Nach der bedrückenden Wiener Zeit folgen die glücklichsten Jahre der Familie in Salzburg. Arnulf von Hoyer erhält eine Stelle als Mittelschullehrer, und seine Frau beginnt ihre schriftstellerische Karriere.

Auf die Anfrage des Verlegers Otto Müller nach seinen Erlebnissen in Sowjetrussland bietet Arnulf von Hoyer die Tagebuchaufzeichnungen seiner Frau in eigener Übersetzung an, die binnen weniger Jahre über 30 Auflagen erreichen. Die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zwischen der Schriftstellerin und dem Übersetzer all ihrer Bücher scheint eine außergewöhnlich glückliche Verbindung gewesen zu sein, die es beiden ermöglicht hat, auch das Schwere der nun folgenden Jahre zu bewältigen.

1937 wird die Russin von der NSDAP als unerwünschte Autorin eingestuft, ausschlaggebend ist ihr religiöser Hintergrund und ihre Verbindung zum katholischen Klerus. Dessen ungeachtet wird man später ihre Bücher ohne ihre Zustimmung als antibolschewistisches Propagandamittel an der Ostfront einsetzen.

Weit schlimmer aber als das Publikationsverbot trifft sie ein neuer Schicksalsschlag: der Tod des einzigen Sohnes, der - so die tragische Ironie des Schicksals - als Angehöriger der deutschen Wehrmacht in den letzten Kriegstagen bei Wiener Neustadt durch die Hand eines Soldaten der Roten Armee stirbt. Die Besatzungszeit, in der die Sowjets das Verbot für ihre Bücher bis 1950 aufrecht erhalten, schürt in der Exilrussin neue Ängste: Die russischen Originalmanuskripte werden auf Wunsch ihres Mannes verbrannt, was für die Nachwelt besonders bedauerlich ist, da ihrem Werk mit einer zeitgemäßen Übersetzung sicherlich gedient werden könnte. Zum dritten Mal lässt Alja Rachmanowa Hab und Gut zurück und emigriert mit ihrem Mann in die Schweiz, wo sie bis zu ihrem Tod in Ettenhausen im Thurgau lebt. Sie stirbt am 11. Februar 1991 im hohen Alter von 93 Jahren.

Im schriftstellerischen Labor des "schreibenden Paares" entstehen weitere 12 Bücher: Künstlerbiographien zu Dostojewskij, Puschkin, Tschechow und Tschajkowskij, vor allem aber historische Romane, die Frauenschicksale in den Mittelpunkt rücken: über Sonja Tolstaja und ihre Ehe mit dem großen Schriftsteller, über die Mathematikerin Sonja Kowalewskaja und über die Beziehung zwischen Turgenjew und der Sängerin Pauline Viardot.

Ihr Lebensweg hat Alja Rachmanowa Glück und Leid in außergewöhnlich hohem Maß geboten. Schicksalsschläge - so die Botschaft ihrer Bücher - begreift sie als etwas, woran man wachsen kann, wenn man die Verbitterung nicht zulässt. Das ist es, was sie ihren Leserinnen und Lesern mitteilen möchte, und was ihr in den Tagebüchern am authentischsten und unaufdringlichsten gelingt. Man findet sich in ihnen nicht nur wieder, man findet Bewältigungsstrategien für den Umgang mit dem eigenen Leben.

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