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UNRUHE DER VERANTWORTUNG

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Ich verbrachte die Nacht in Orvieto in einem kleinen Palais, das zu einem Hotel umgebaut worden ist. Dicke Wände, - Gewölbe, große, -hohe ‘.Fenster,--uni;’in mein Zimmer zu gelangen,.muß ich Bdurch : einen .verstgpbten Balkon gehen-, die Mäuse rascheln. Von der Straße her dringen üie Laute flanierender Passanten. Mädchen, Soldaten, Burschen in schneeweißen Nylonhemden und engen Hosen ohne Umschlag schlendern dort unten entlang, stehen vor den Biars und an den Straßenecken, rufen einander lachend etwas zu. Dann wird alles still. Die Nacht nistet sich in den Mauem ein, vom Himmel weht es kühl. Unter meinem Fenster werden Schritte laut — ein Mann mit einem alten Hund. Lange konnte ich nicht einschlafen. Ich habe wohl zuviel Wein getrunken, und der simple und ein wenig sonderbare Gedanke läßt miCh nicht los, daß niemand auf der Welt weiß, wo ich mich zur Zeit befinde. Ich muß an die Menschen denken, die sich meine Freunde oder meine Feinde nennen, die mich auf dem Krakowskie Przedmiescie fragen, was es Neues gebe, die meiner überdrüssig sind und deren auch ich bereits ein wenig überdrüssig bin. Ich denke an alle, die in irgendeiner Weise über mich urteilen, die sich eine Meinung über mich gebildet haben, und ich denke an die, die ich beurteile und die ich charakterisiere. Jetzt trennen uns mehrere Gebirgsketten und viele Kilometer Asphalt, abgesehen von den Mauern, in denen ich eingeschlossen bin, von der Porta Maggiore, der Porta Cassia…

Nie gelingt es uns, vor uns selbst zu fliehen. Einen Ort, wo wir uns vor denen schützen können, die über uns urteilen und über die wir urteilen — einen solchen Ort gibt es nicht. Unser Bild, das wir in den fremden Augen hinterlassen haben, und das fremde Bild, das wir in unseren Augen mitnehmen — dieser doppelte Akt der Unfreiheit und Ungerechtigkeit, der uns über weite Räume verbindet, ist in letzter Instanz etwas, das man als Freiheit und Gerechtigkeit ansehen kann: Täglich wählen wir sie und täglich unterwerfen wir uns ihnen — der Gerechtigkeit und der Freiheit, die wir uns leisten können, auf die wir Anspruch haben.

Mein Verhalten auf dieser Reise ist unvorschriftsmäßig. Ich mache gar nicht den Versuch, das Land kennenzulernen oder Kontakte mit der Bevölkerung aufzunehmen, ich führe keine Gespräche mit den Bauern, ich verzichte auch darauf, das Rätsel zu ergründen, das ganz gewiß die Jugend hier darstellt. Kürzlich habe ich es ebenso abgelehnt, in die „Scheune“ zu gehen. Man bedeutete mir, dort tanze eine rätselhafte Jugend, und es lohne sich, sie kennenzulernen. Ich gehe nicht. Mag sie rätselhaft sein — aber ohne mich. Einst war auch ich rätselhaft, doch niemand wollte sehen, wie ich tanze. Muß es denn immer Scheunen geben, in die man getrieben Wird, um das Leben kennenzulernen? Vor sieben Jahren war der Bauer rätselhaft, heute ist die Jugend das Rätsel; früher wurde man bei der Ernteaktion ohnmächtig, heute beim Rock’n’Roll. Ich bin ein Mann in vorgerücktem Alter, ich habe dergleichen gründlich satt.

Ich gehe also einfach umher, schaue mir dies und jenes an und fahre weiter. Bei dem Gedanken, daß ich darüber eine Reportage schreiben sollte, stehen mir die Haare zu Berge. Ich bemerke keine Probleme, ich vermag keine Schlußfolgerungen zu ziehen, ich habe keine fachlichen Interessen. Die Literatur ist kein Beruf, sie führt hin zum Beruf. Sie ist ein mit Ehrgeiz gepaartes Laster — Schrecklicheres konnte sich bisher niemand ausdenken. Getrennt läßt sich das noch ertragen. Man kann zum Beispiel Morphinist sein und ehrgeizige Ziele auf dem Gebiet des Maschinenbaus verfolgen. Jedoch rauschgiftsüchtig sein und zugleich Ambitionen auf dem Gebiet der Narkomanie hegen — das ist die Hölle. Und diese Hölle nennt sich künstlerisches Schaffen., Wie es heißt, sind seine Ergebnisse für die Welt von gewisser Bedeutung. Viel wurde darüber schon, geschrieben, bisher jedoch noch nichts Entscheidendes. In der Kunst beruht alles auf Ungewissem, auf dem Fehlen von Regeln; man weiß nicht so recht, woran man sich halten soll. Selbst solche Axiome wie Einheit von Inhalt und Form sind durchaus nicht stichfest. Man kann mit Fug und Recht behaupten, diese Einheit sei im Schuh verwirklicht, denn der Inhalt des Schuhs ist der Fuß, die Form des Schuhs ebenfalls der Fuß — aber ich habe ernsthafte Zweifel, ob das auch für Shakespeare zutrifft.

Da gibt es noch eine Reihe anderer ungelöster Probleme. Nehmen wir an, Sie schreiben einen Roman. Sie sind mit ihm zufrieden und haben nur noch einen oder zwei Monate daran zu arbeiten. Plötzlich erscheint ein Artikel, ln dem jemand den Beweis führt, der Roman als Gattung sei am Aussterben. Sie haben ihn noch nicht beendet, er selbst soll schon am Ende sein. Was tun? Das erfahren Sie natürlich nicht. Ihnen bleibt tödliche Ungewißheit. Hier läßt sich nichts nachprüfen. Kriterien gibt es nicht. Erfolg ist oft der Lohn der Mittelmäßigkeit, der Mißerfolg — das Schicksal des Genies. Ihre schöpferische Qual? Auch Graphomanen quälen sich — Dostojewski soll schnell und leicht geschrieben haben. Sie haben Eigenes zu sagen? Jeder glaubt, er hätte Eigenes zu sagen. Fast alle meine Bekannten, die nicht Schriftsteller sind, haben die Gewißheit, sie seien lediglich aus Zeitmangel nicht Schriftsteller geworden. Ihr Verhältnis zu den Schriftstellern ist daher voller Komplexe und voller Mißtrauen. Mit dem Cellospielen ist das eine andere Sache — das erfordert Übung, Mühe, Beherrschung der Technik, ganz zu schweigen von der Notenkenntnis. Doch das Schreiben? Jeder schreibt. Siebzehnjährige Gymnasiastinnen erlangen heute Weltruf, weil sie es in der Mathematikstunde vorgezogen haben, unter der Bank ihr Leben zu schildern. Man braucht nur etwas Zeit und etwas Mut. Unter diesem Motto sind die größten Werke entstanden. Im Bett denkt jeder, wenn er sie liest: „Während ich ins Büro mußte, hat der inzwischen aufgeschrieben, was ich schon lange fühlte, er hat nur ein bißchen dazuphantasiert.“ Dann gähnt der Leser, legt das Buch mitten in einer genialen Szene (an der der Autor mehr als einen Tag gesessen hat) weg und sagt am nächsten Tag im Büro: „Es lohnt sich, die Sache zu lesen.“ Auf diese Weise wird die Literatur Eigentum des Volkes, das heißt, jeder hält sich für ihren Miteigentümer, denn im Grunde seiner Seele fühlt er sich ein wenig bestohlen. Er hat seine Wahrheit gefunden, die ein anderer niedergesehrieben .hat, , ddow ? fes:

Sfhxifts,tejler wissen das; daraus — glaube ich — entspringt ihr Gefußt, der Gesellschaft htwös zu schulde». Tschechow schrieb auf dem Gipfel seines Ruhms in Briefen, daß ihn nach jedem veröffentlichten Werk hartnäckig ein Gedanke plage: Er glaubte, Mißbrauch zu treiben, einen Betrug an seinen Mitmenschen zu verüben. Das ist übrigens ein Ausnahmebeispiel moralischer Empfindlichkeit. Tschechow fühlte sich buchstäblich verantwortlich für das Übel, er war ein bekümmerter Schriftsteller, ein Schriftsteller mit Schuld- bewußtsein. Er haßte das Unrecht, wie andere ihre Feinde hassen. (Einst ging er mit einem Freund zur Jagd; sie kehrten mit einem Hasen zurück. Tschechow war gebrochen, er sprach kein Wort, aß nichts zu Mittag und bekam Fieber. Am nächsten Tag sagte er bitter zu seiner Frau: „Zwei alte Narren waren im Wald und haben ein wehrloses Geschöpf gemordet.“) Dem Schriftsteller das Recht auf das Schuldgefühl zu nehmen, die Unruhe der Verantwortung in ihm zu ersticken, das ist wohl die schlimmste Engherzigkeit ihm gegenüber. Leider bekommt er sie oft genug zu spüren.

Tschechows bedeutsamste Erzählung ist für mich „Krankensaal Nr. 6“. Erinnern Sie sich? Die Geschichte eines Arztes in einer russischen Stadt: In einem Krankensaal sind drei Patienten untergebracht, drei Geisteskranke — ein Intellektueller, der einen Monolog mit Gott und dem Gewissen führt, ein Beamter, der von einer krankhaften Ordenssucht befallen ist, und ein Bauer, ein halbes Tier, kotbeschmutzt. Sie alle prügelt der Aufseher, ein Soldat, mit dem Knüppel. Es fällt nicht schwer, den Sinn zu enträtseln. Der Krankensaal Nr. 6 ist das zaristische Rußland. Der Arzt, ein anständiger und denkender Mensch, vermag keine Ruhe zu finden, das Grauen in diesem Saal schlägt ihn in seinen Bann. Er führt lange Gespräche mit dem Intellektuellen, disputiert mit ihm über die Freiheit und über die Seele, bemüht sich, den beiden anderen zu helfen; vergebens. Er gerät dadurch nur in Verruf, die Menschen rücken von ihm ab, der Krankensaal Nr. 6 wird für ihn verbindliche Wirklichkeit — alles, was außerhalb liegt, verliert seinen Sinn. Schließlich tritt das ein, was eintreten mußte: Man steckt ihn in die Anstalt, er wird der vierte Patient des Krankensaals Nr. 6, der Aufseher prügelt ihn mit dem Knüppel.

Dies ist eine der gewaltigsten — realistischen — Methaphern in der Literatur. Die Versinnbildlichung wird hier mit den gewöhnlichsten Mitteln vollzogen, das Symbol wird durch eine einfache Situation aus dem Leben ausgedrückt. Was mich bei den großen Realisten so entzückt, ist die Fähigkeit, auf natürlichste Weise die Totalität in einem Teil der Totalität darzustellen — einen Prozeß in einem Ereignis, eine Erscheinung in einer Tatsache. Es gibt eine Literatur, und es hat sie immer gegeben, die diese Fähigkeit als überflüssig oder konventionell verwirft. Aber aus dieser Haltung ergibt sich ein Bruch, die Zerschlagung einer sichtbaren Dimension der Wirklichkeit; die normative Phantasie findet hier nicht in einer Konstruktion von Fakten ihre Verwirklichung, sondern umgekehrt — die Konstruktion der Phantasie wird zum normativen Fakt. Diese beiden Formen der Anschauung lagen stets in Widerstreit miteinander, schon lange trennt sie eine gegenseitige Abneigung. Wie mir scheint, bahnt sich bei uns eine scharfe Auseinandersetzung zwischen ihnen an. Man braucht darob nicht zu verzweifeln, so soll es sein. Man muß den Meistern, für die der Sozialismus ein allmähliches Heraa- reifen der Massen zum Verständnis der abstrakten Kunst bedeutet, ebenfalls Geduld widerfahren lassen. Die realistische Weitsicht ist tief im Menschen verwurzelt, doch es besteht auch ein nicht minder starkes Bedürfnis, die Grenzen der objektiven Wirklichkeit zu durchbrechen. Auf die Frage: „Was bedeutet das?“ — eine der wichtigsten Fragen in der Kunst — läßt sich aus der konkreten historischen Substanz eine Antwort formen, aber es ist auch möglich, eine Substanz zu schaffen, die nur subjetiv existiert. Gewiß ist dies eine der grundsätzlichen Teilungen in der Kultur: Das, was in mir ist, muß seinen Ausdruck finden in dem, was außerhalb meiner ist — das, was außerhalb meiner ist, muß zerstört werden, damit ich das ausdrücken kann, was in mir ist.

Beide Haltungen oder Anschauungsweisen sind berechtigt, sind schöpferisch, beide ordnen die Wirklichkeit, verleihen ihr einen moralischen und philosophischen Sinn. Jede von ihnen möchte am liebsten die andere auslöschen, doch in der Kunst ist Platz für beide.

Aber ich langweile Sie heute. Die Moral oder die Haltung des Künstlers sind bei uns bereits entwertete Begriffe — anderthalb Jahre haben das ihre getan. Was soll man von Ethik schwätzen in Zeiten, da Mechanismen mit moralischen Reflexen ausgestattet werden können, während dem Menschen Kragenweite Und Schuhgröße, Adresse und Geburtsdatum genügen: Jede Woche können ihm sechs magische Zahlen, die in der Presse veröffentlicht werden, die garantierte Erlösung auf Erden bringen. Wir betreten die Abteilung des Divertissements — Ablenkung der Aufmerksamkeit. Die Publizisten verlangen Unterhaltung fürs Volk; hinweg mit dem Moralisieren. Attraktion vor dem Einschlafen heißt die Losung der Propagatoren der Säkularisation.

Film, Fernsehen, Radio und Comics. Niemand, der seiner Sinne noch mächtig ist, kann die neue Instrumentation der Masseneinwirkuhg unterschätzen. Die Leinwand, der Lautsprecher und die Zeichnungen mit Untertiteln sind in der Lage, mehr Menschen zu erziehen als moralisierende Romane. Ich möchte darauf hinweisen, daß der Roman einst ausschließlich die Aufgabe hatte zu unterhalten, sentimental zu fabulieren; die Philosophie, die Psychologie, die moralische Sittenstudie wuchsen erst später ins Anekdotische. Heute beobachten wir eher einen umgekehrten Prozeß: Der Film reißt die Fabel an sich, die exakten Wissenschaften die Philosophie, die moderne Soziologie, die Psychologie und die Moral. Drei Großmächte teilen den Roman unter sich auf. Was wird von ihm übrigbleiben?

Zur bestimmten Stunde am Abend versammelt sich ganz Verona vor den Fernsehgeräten. Das gleiche geschieht in Perugia und in Ravenna, in Udine, Padua und Assisi. In Bars, Tavernen und Cafes versammeln sich Familienmitglieder und Nachbarn — und das Fernsehgerät ist an die Stelle des Spinnrads oder des Kamins gerückt. Die Stühle werden in Reihen aufgestellt, die ersten Plätze nehmen Kinder und Großmütter ein, die dahinter die Eltern, die Bekannten und Verwandten. Die Stunde der Wunder beginnt: Chef und Bedienung erstarren hinter dem Büffet — kehrt in einem solchen Moment ein zufälliger Kunde ein, dann nimmt er sogleich in der letzten Stuhlreihe Platz, oder er stiert, am Büffet lehnend, wie benommen auf den Bildschirm. Die Kinder lecken Eis, die Greisinnen dösen, die gebannt zuschauenden Mädchen lassen sich von den Burschen umfangen. Ähnliches spielt sich zur gleichen Zeit in Rom in „Doney’s“ großem Cafe an der Via Vittorio Veneto ab, mit dem Unterschied, daß hier das Publikum besser angezogen ist: Die Großmütter sitzen in Pelzstolen, ihr Haar ist lila gefärbt und ihre Fingernägel schimmern silbern. Der Zauber jedoch wirkt in gleicher Weise. Millionen von Zuschauern sind zwei oder drei Stunden lang wie erstarrt. Es ist ein Zustand angenehmer Gedankenlosigkeit, Konzentration ahne Anstrengungen, Gefühle ohne Risiko. Die Langeweile verflüchtigt sich, der Gedanke an das Altem und an den Tod wird vermittels einer Knopfdrehung ausgeschaltet, unerfüllbare Sehnsüchte und gesellschaftliche Unterschiede finden ihre Kompensation in der bewegten, leuchtenden Mattscheibe, auf der alles für alle geschieht.

So sieht heute die Einwirkung auf die Massen aus. Das Fernsehgerät ist eine Jahrmarktbude, in der das Volk alle möglichen Weltwunder bestaunen kann. Vor dieser Kiste mit der magischen Scheibe bilden sich neue Beziehungen heraus; die heutige Menge ist naiv, zutraulich, man kann sie erziehen, solange sie das nicht merkt — die „Bibel für Nichtlesende“ muß verständlich sein. Die Macht und die Tragweite dieser Einwirkung sind den Regierungen völlig bewußt, der Papst gibt Stellungnahmen zum Thema Fernsehen ab, führende Staatsmänner der Großmächte gewähren Fernsehinterviews, die Sprecher sind die Diktatoren der öffentlichen Meinung. Fügen Sie Tausende von illustrierten Magazinen, Western und Kriminalgeschichten, Hörspielen, Filmen und Sketches hinzu — und dann fragen Sie doch bitte, ob in der heutigen Welt die Literatur überhaupt noch notwendig ist.

„Krankensaal Nr. 6“ wurde vor fünfzig Jahren von der russischen Intelligenz gelesen — heute würde die Erzählung als Fernsehspiel oder als Hörspiel die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erreichen. Das Szenarium zum Film „La strada“‘ ist gute Literatur, der Film, der daraus entstand, hat alle Merkmale eines Kunstwerkes, und ich meine, er ist keinesfalls unter Flauberts „Einfalt des Herzens“ einzuordnen. Jetzt erleben wir das Phänomen, daß eine bestimmte Gattung Literatur durch die neue künstlerische Sendetechnik mit Beschlag belegt wird. Wenn die Konstruktion der Fakten, der Dialog und die Situation heute auf dem Bildschirm eine stärkere Aussagekraft besitzen als gedruckt, wenn sich die philosophische Anschauung an der Einsteinschen Gleichung dort genauer ausdrücken läßt als im Monolog eines Helden, wenn neue sozial-psychologische Prozesse Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und Tests geworden sind — dann frage ich mich, wie müßte das Buch aussehen, das literarische Prosawerk, das heute gedruckt erscheint. Gibt es außer dem Film und dem Fernsehen, außer dem Magazin und der Sensation, außer der exakten Wissenschaft und der soziologischen Analyse noch ein Gebiet, auf dem der Schriftsteller etwas zu sagen hat, ohne andere Gebiete zu dublieren — als souveräne, autonome, erstrangige Gestalt? Ich schreibe heute für zwei Dutzend Bekannte, meine Bücher fallen in einen Brunnen, ich weiß nicht, wer sie liest. Und über etwas anderes schreiben als über das, was ich zu sagen habe, kann ich nicht. Ich komme mir vor wie ein zerlumpter Mexikaner, bald werden die Kinder auf der Straße mit Fingern auf mich zeigen. Solche und ähnliche Geständnisse würden Sie heute von so manchem Schriftsteller zu hören bekommen, der sich — anstatt, wie es die Vernunft erforderte, dem Massenbedarf nachzugehen — darauf versteift, Recht zu sprechen über die sichtbare Welt.

Bei meinen römischen Bekannten polnischer Abstammung fand ich im Regal ein paar vertraute Bücher, darunter den „Fremden“ von Camus. Eingezw’ängt zwischen die Erzählungen Moravias und eine vergilbte Geschichtspublikation eines Warschauer oder Krakauer Verlages, erinnerte mich der Band sogleich an den Abend im Hotel vor genau zehn Jahren, als ich ihn zum erstenmal las — weder ein Roman noch eine Novelle, weder ein Essay noch ein Tagebuch, und doch die Aufmerksamkeit fesselnd bereits mit den ersten Sätzen, ihrer einfachen, konzentrierten Kraft moralischen Denkens. Man liest das Buch in einem Atemzug, mit beklommenem Herzen, und man erlebt es wie einen Kataklysmus. In dieser Erzählung von dem kleinen Beamten, der einen Araber getötet hat, gibt es eine Fabel, es gibt sogar eine Liebesgeschichte — auch Philosophie und Psychologie. Aber der Sinn, die Bedeutung dieses Buches entspringen seiner Form — einer Form, die in ihrem unpersönlichen Subjektivismus erschreckend ist — diesem „Ich“, das’ zugleich Zeuge und Berichterstatter seiner eigenen Katastrophe ist. Man könnte aus dem Buch ein Film- oder Fernsehszenarium machen. Mehrere Millionen Zuschauer würden sich dann sein Skelett ansehen können; der Titel „Der Fremde“ zeugt ebenfalls von einer gewissen Kongruenz zwischen seiner Sicht der heutigen Menschheitsprobleme und einigen Thesen der modernen Soziologie. Aber den Hieb, den man beim Lesen dieser hundert Seiten empfängt, den konnte nur ein Schriftsteller führen.

Ein Mensch, der die Wahrheit über sieh selbst sagen will, ist anderen Menschen fremd; zwischen ihnen gibt es nichts, was sie verbindet. Die einfachsten Regungen, die Sinne, die Wahrnehmungsfunktionen — das ist alles, die ganze Wahrheit über den Menschen. Er ist ein einsames Wesen, und er gleicht änderen ebenso wie er allen anderen fremd ist, allein gelassen mit seinem Gesichtssinn, seinem Gehör und seinem Tastgefühl, eingeschlossen in seine Physiologie. Kein Mensch existiert gesellschaftlich, solange er keine Tait vollbracht hat, die eine gesellschaftliche Beurteilung erforderlich macht. Das Innere des Menschen ist ein Raum, der frei von moralischen Gefühlen ist. Erst eine Tat, die gegen die Ordnung des Systems verstößt, stellt den Menschen ins grelle Licht der Gesetze. Die atomisierte Welt unabhängiger Existenzen verwandelt sich dann in eine gewaltige Maschine der Gerechtigkeit, die ihn vor die Wahl stellt: Lüge oder Tod.

Hinter diesem schmalen Bändchen stehen scheußliche Erfahrungen. Es ist darin nicht die Rede von Völkermord und von politischen Verbrechen, vom Faschismus oder vom Krieg, jedoch die gezeigte Welt ist eine verwüstete Welt und der Mensch ein Wesen mit zerbombtem Inneren. Camus hat die tiefe Grube enthüllt, in der die Menschheit kriecht, den Trichter, der an Stelle der verschütteten Begriffe und Werte entstanden ist. Der „Fremde“ bedeutet die endgültige Kompro- mittierung der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen, die Demaskierung der wirkenden Normen beim Zusammenprall mit der individuellen Wahrheit und dem individuellen Schicksal. Ein schmerzhafter Schnitt wurde hier vollzogen, der die Schuld von der Gerechtigkeit trennt. Ein Mensch, der getötet hat, muß verurteilt werden, doch seine Schuld hat nichts gemein mit dem gesellschaftlichen Strafvollzug, man verurteilt einen anderen — und für etwas anderes Die wahre Schuld liegt zwischen den Menschen, in dem falschen Seinsprinzip, in der schlechten Konsistenz des Daseins. Vor der Gesellschaft ist der einzelne immer schuldig, denn er ist immer ein Fremder. Gott und Ich sind zwei Unbekannte, zu denen der Mensch keinen Zutritt hat — sie enthüllen sich ihm gewiß im letzten Aufblitzen des Messers, im Morgengrauen, am Tage der Hinrichtung… Ein Dutzend Jahre danach vollendete Camus seinen Eingriff. Er schrieb den „Fall“. In diesem Buch mordet niemand: Ein Mädchen stürzt sich von einer Brücke in einen Fluß, ein Passant hört das Aufklatschen im Wasser, in dem der Körper versinkt — aber er bleibt nicht stehen. Hier wird niemand verurteilt werden, obwohl ein Verbrechen geschehen ist. In dieser kurzen Szene ist jedoch wieder das Messer auf geblitzt. Die wahre Schuld vollzieht sich außerhalb des Bereichs der Gesetze, jeder von uns ist ein nicht entlarvter potentieller Mörder, das Leben des modernen Menschen trennt nur eine dünne, morsche Wand vom Verbrechen.

Zweihundert maschinengeschriebene Seiten — mehr zählen diese beiden Bändchen zusammen keinesfalls. Wieviel wird darin jedoch gesagt! Sie finden manchen Ihrer eigenen Gedanken und manche Ihrer Empfindungen wieder, die den letzten zwanzig Jahren unseres Lebens entsprangen, in dem gewisse Erinnerungen heute bereits nicht mehr angenehm wirken. Wir besitzen eine wahrhaft menschliche Fähigkeit zu vergessen; die Erinnerung an eigene Niederlagen verflüchtigt sich in uns schon beim ersten Windstoß. Die Zeit des Schriftstellers jedoch besitzt die besondere Eigenschaft, daß alles in ihr gleichzeitig währt und sie aus allem Vergangenen eine nie enden wollende Gegenwart schafft. Vielleicht beruht darauf die Stärke des Schriftstellers, aber auch sein Handikap; daria liegt seine Gesittung.

Kazimierz Brandys (geb. 1916) lebt in Warschau und gehört zu den polnischen Schriftstellern von übernationalem Rang. Er emigrierte nicht, verzichtete auf literarische Experimente und ließ sich weder zum Hofnarren noch zum Märtyrer des Sozialismus machen. Wie um die Emigration nachzuholen, machte Brandys eine Reise durch Italien. Aus Rom, Florenz, Venedig, Siena und aus den Provinzen schickt er Briefe an eine Warschauer Freundin. Seine Briefe berichten von der unvorschriftsmäßigsten italienischen Reise, die sich denken läßt. Übrigens denkt Brandys auch dort, wo die Allgemeinheit, lieber fühlt oder nur registriert. Er betreibt dabei weniger das billige Geschäft der Bloßstellung und schon gar nicht das des mechanischen Nonkonformismus, sondern macht Front gegen das Funktionieren von Resignation, Gleichgültigkeit und jedweden Dogmatismus. Alles wirkt auf geradezu bestürzende Weise polnisch: diese Vaterlandsliebe, dieser heimliche Glaube an Europa und an private Gesinnung, an entwicklungsfähige Kultur, dieses ungehemmte Fabulieren abseits aller Anpassung an Branchenkunst und nationalen Standard. Bekenntnisse eines geborenen Skeptikers enthalten diese Briefe: zu Polen, zu Europa, zur Kunst, zum Menschen, zum Geist — zu diesen tief suspekt gewordenen Welttatsachen, die oft nur noch als Zeitereignisse anmuten. — In Polen wurden die „Briefe an Frau Z.“ ein großer Erfolg. 1964 erhielt das Werk in Italien den „Premio Elba". Die vorbildliche deutsche Übersetzung von Caesar Rymarowicz ist im Insel-Verlag erschienen.

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