Welcher Staat Israel?
Für die jüdische Theologie ist Israel der Ort, wo die Liebe zwischen Juden und Gott besonders deutlich wurde. Das ist so, wie wenn ein Liebespaar immer wieder zu dem Baum zurückkehrt, in dessen Schatten sich die beiden erstmals ihre Liebe gestanden und geschworen haben. Deshalb sollten wir uns auch erinnern: Die Wiederbesiedlung Palästinas durch Juden hat nicht erst 1948 begonnen. Nach Israel gehen und dort leben, diese Sehnsucht hat sich durch die jüdische Geschichte hindurchgezogen, auch als in Palästina noch kein jüdischer Staat existierte.
Die Staatsgründung war nicht religiös fundiert: Nach der Schoa sollte es ein sicherer Hafen sein für alle. Eigentlich hatten die Gründer des Staates Israel ein sozialistisches Experiment vor. Wenn orthodoxe Juden heute darauf dringen, dass in den Stadtbussen Jerusalems Männer und Frauen getrennt sitzen, stößt das bei vielen Juden nicht nur in der Diaspora auf Befremden. Die Diskriminierung nichtjüdischer Minderheiten und die Herabwürdigung von Frauenrechten sind Beispiele, dass die Solidarität von Juden wie Nichtjuden mit dem Staat Israel auf eine gefährliche Probe gestellt werden. Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der israelischen Gesellschaft nimmt in den letzten Jahrzehnten weiter zu.
Das allein erklärt nicht den Wahlerfolg von Jair Lapid und seiner 2012 gegründeten Jesch Atid-Partei. Viele Israelis besinnen sich auf die Werte, die bei der Staatsgründung beschworen wurden - Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten stützten. Unter Bibi Netanjahu war davon wenig zu spüren. Die Treue und Anhänglichkeit der Juden in der Diaspora muss Israels neue Regierung hüten und pflegen. Denn Israel ist sowohl ein jüdischer Staat als auch ein Staat aller seiner Bürger: darunter Juden, Christen und Muslime.
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin
