Von der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit

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Die Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi waren in ihrem Schaffen stark von asiatischen Traditionen beeinflusst - und stehen damit exemplarisch für einen kulturhistorischen Trend.

Wenn heute Reisebüros speziell in der kalten Jahreszeit die Anziehungskraft des Orients nützen, dann greifen sie auf Sehnsuchtsbilder zurück, die seit gut 150 Jahren im Umlauf sind. Der Orient galt seit spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts als Inspirationsquelle für Künstler. Waren es zunächst islamische Kulturen wie in Ägypten, die eine Folie für westliche Fantasien abgaben, wurde durch die Weltausstellungen in Paris und Wien auch Asien interessant. Bilder Van Goghs und Monets stehen für diese Mode. Debussy wiederum war von dem javanischen Gamelan-Orchester inspiriert, das er bei der Weltausstellung 1889 gehört hatte, und Puccinis "Madame Butterfly“ setzte Japan auf der Opernbühne in Szene. Es dominierte die Faszination des Exotischen und das Zitat - so vertont Mahler im "Lied von der Erde“ Nachdichtungen altchinesischer Lyrik.

Suche nach dem "Geistigen in der Kunst“

Einflussreicher war jedoch der Transfer von Ideen und Texten, der mit dem Ausbau der britischen Kolonialmacht zu Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte. Das Christentum hatte in seiner Erscheinungsform als Staatskirche für die europäische Avantgarde seine Legitimationskraft verloren. Die Suche nach dem "Geistigen in der Kunst“ - wie Kandinsky seine programmatische Schrift von 1912 übertitelte - brachte viele Künstler ins Umfeld der Theosophischen Gesellschaft, einer 1875 in New York gegründeten Vereinigung, die zur einflussreichsten Vermittlerin zwischen "Ost“ und "West“ auch für die Avantgarde-Kunst wurde. Die These, dass es nicht um Objekte oder Töne geht, sondern um die Schwingungen, aus denen die Welt besteht und entsteht, wurde vielfach aufgegriffen - etwa von Klee, Mondrian oder Schönberg.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit der Beschleunigung der Globalisierung bekommt die Beschäftigung mit asiatischen Traditionen eine andere, intensivere und persönlichere Form. Es geht nun zunehmend nicht um Exotismus, sondern um die Aushandlung neuer, postkolonialer Identitäten im Bereich der Kunst. Die beiden Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi sind zwei gute Beispiele, die aus unterschiedlichen Ausgangslagen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Cage beginnt sich ab Anfang der 1950er-Jahre vor allem unter dem Einfluss des Zen-Philosophen D. T. Suzuki mit asiatischen Philosophien zu beschäftigen. Dabei sind für den Musiker Cage zwei Aspekte wichtig: erstens die Entdeckung der Stille. Die Pause als Stilmittel verselbständigt sich als Inhalt, und es wird deutlich, dass es die absolute Stille nicht gibt - nicht einmal in einem schalltoten Raum, wie Cage erfuhr. Denn da wird das Rauschen des eigenen Körpers hörbar. Das berühmte Stück 4’33” setzt dies um. Die österreichische Erstaufführung dieses Stücks dürfte um 1986 in einer Lehrveranstaltung über Zen-Buddhismus an der Universität Wien, abgehalten von der Autorin dieser Zeilen, stattgefunden haben: vier Musiker, die ihre Instrumente an- und wieder absetzten - dazwischen Hüsteln, Stühlescharren und Straßenlärm von draußen. Stille und Klang behindern einander nicht, sondern gehen ineinander über. Das zweite wichtige Moment für Cage ist die Entmachtung des Komponisten-Ichs, die er durch das chinesische Orakelbuch Yijing erreichen will. Dessen Permutationen geben die Strukturen für Kompositionen vor, die nicht dramatisch sind und "den Geist nüchtern und ruhig und damit empfänglicher für das Göttliche machen“ - wie Cage dies z. B. in der indischen Musik gehört hat.

Weg vom Intellektualismus

Diese doppelte Bewegung - weg vom Komponisten-Subjekt und von einer emotionalen, dramatischen Musik - vollzieht auch Giacinto Scelsi, ein in den 1980er-Jahren sehr prominenter italienischer Avantgarde-Komponist. Unter dem Einfluss asiatischer Philosophien wandte sich auch Scelsi von der normativen europäischen Musiktradition ab. Zunächst studierte er bei Skrjabin- und Schönberg-Schülern, kam aber davon rasch ab. In der folgenden Schaffenskrise machte Scelsi Bekanntschaft mit der damaligen europäischen Alternativ-Szene. Als Meister der Mystifikation bezieht sich Scelsi zwar immer wieder auf die "asiatischen Meister“, die er auf Reisen kennengelernt habe, doch aus genauer Lektüre seiner Aufzeichnungen erfährt man, dass dies meistens "Westler“ waren oder, wie z. B. Jiddu Krishnamurti, Inder, die schon lange im Westen lebten. Er sei nicht Komponist, sondern nur ein Mittler, erklärt er wiederholt; die Musik solle der spirituellen Entwicklung dienen. Einflussreich war für ihn offenbar unter anderem die bis heute wichtige Ästhetik des indischen Philosophen und Yogi Abhinavagupta (950-1020). Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, ohne Intellektualismus und Emotionalisierung, ist ein Charakteristikum vieler zeitgenössischer Suchbewegungen. Vielleicht haben Scelsi und Cage da etwas vorweg erkannt und umgesetzt.

Die Autorin hielt zum Thema im November einen Vortrag bei der Tagung "The Cage After“ der Fondazione Scelsi/Rom

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