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Weil die Bundesländer nicht genügend Betreuungsplätze schaffen, hängen mehr als 500 minderjährige . Flüchtlinge in Traiskirchen fest. Ein Besuch.

In der linken Hand hält sie eine Reisetasche, in der rechten einen zerknüllten Zettel. "Stazzione Traiskirchen“ steht drauf. "Bin ich hier richtig?“, fragen ihre Augen. Die Frau, keine 1,60 groß, in grünem Kleid und mit ängstlichem Blick, ist gerade angekommen. Vielleicht ist sie von ihren Schleppern in die Nähe des Flüchtlingslagers gebracht worden. Vielleicht hat sie sich auch in einer Privatwohnung frisch gemacht, bevor sie in die Badner Bahn Richtung Traiskirchen gesetzt wurden. "Bei Frauen ist das üblich“, sagt Franz Schabhüttl. Er leitet die "Erstaufnahmestelle Ost“, im Volksmund "Flüchtlingslager Traiskirchen“.

Seit 1991 sieht er Flüchtlinge ankommen. Zurzeit sind es besonders viele. Rund 45 Menschen, jeden Tag. Und fast die Hälfte von ihnen sind Kinder oder Jugendliche, die ganz alleine kommen. "Auch Acht- oder Neunjährige, die alleine vor dem Tor stehen, sind keine Seltenheit“, erzählt Schabhüttl. Der Jüngste, der in Traiskirchen lebt, und alleine auf der Flucht war, ist erst sechs Jahre alt.

Namensliste vom Bundesasylamt

Vor zwei Monaten war Mujtaba einer der Neuankömmlige. Wo genau er aus dem Lieferwagen rausgeworfen wurde, weiß er nicht. Er fragte sich durch, kam zu Fuß in Traiskirchen an. Mujtaba ist 16 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Er ist einer von 534 Minderjährigen, die zurzeit in Traiskirchen leben. Das ist ein trauriger Rekord: Seit zehn Jahren gab es nicht mehr so viele jugendliche Flüchtlinge. Alleine im August haben 228 unter-18-Jährige in Traiskirchen um Asyl angesucht. Zwei Drittel von ihnen kommen wie Mujtaba aus Afghanistan.

Eigentlich sollten Jugendliche wie er nur ein paar Wochen in der Erstaufnahmestelle bleiben. Hier stellen sie ihren Asylantrag. Nach spätestens 20 Tagen muss klar sein, ob Österreich dafür zuständig ist. Sobald die Jugendlichen zum Verfahren zugelassen sind, sollten sie innerhalb von zwei Wochen in Betreuungseinrichtungen der Bundesländer überstellt werden. Dort sollten sie über die Grundbedürfnisse hinaus versorgt werden: Unterstützung bei der psychischen Festigung, sozialpädagogische Unterstützung, eine Tagesstruktur mit Bildung, Freizeit, Sport und Gruppenaktivitäten. So steht es in der Grundversorgungsvereinbarung, die seit 2004 zwischen dem Bund und den Bundesländern gilt.

Doch diese Plätze gibt es nicht. Nur Wien und Niederösterreich erfüllen die ausgehandelte Quote. In allen anderen Bundesländern werden deutlich weniger minderjährige Flüchtlinge aufgenommen, als vereinbart. Ende August lebten etwa im Burgenland nur 18 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, in Vorarlberg 28, in Salzburg und Tirol je 46. In Kärnten nur einer.

Jeden Tag schickt das Bundes-asylamt eine Namensliste an alle Bundesländer mit der Identität von allen Asylwerbern, die einen Platz bräuchten. Familien werden gerne genommen. Ihre Kinder füllen die Schulen am Land. Für junge Burschen, zwischen Kind und Mann, gibt es kaum Plätze. "Mindestens 300 von ihnen sollten eigentlich nicht mehr in Traiskirchen sein“, schätzt Schabhüttl.

Niemand erklärt es ihm

Deshalb sitzt auch Mujtaba weiter in Traiskirchen und wartet, dass die Zeit vergeht. In seiner Schule war er Klassenbester, sein Englisch ist ausgezeichnet. In Traiskirchen setzt er sich jeden Tag in einen Deutschkurs, gemeinsam mit 25 anderen jungen Männern. Sonst hat er nicht viel zu tun.Mit seiner grünen "Aufenthaltsberechtigungskarte“ darf er den Bezirk Baden nicht verlassen. Warum er immer noch keine weiße Karte hat, wie seine gleichaltrigen Zimmerkollegen, die damit auch nach Wien fahren dürfen, weiß er nicht. Warum er zur Altersfeststellung musste, während anderen einfach geglaubt wurde, dass sie unter 18 sind, ebensowenig. Erklärt hat es ihm niemand.

Dorf ohne Eltern

Seit Anfang des Jahres ist eine Tochter der Schweizer Firma ORS vom Innenministerium mit der Betreuung der Flüchtlinge in Traiskirchen beauftragt. Sie will sich einen Schwerpunkt bei der Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen gesetzt haben: Es gibt tägliche Sprachkurse in drei Räumen. Damit sollen Bildungs- und Integrationsauftrag erfüllt werden. "Einmal in der Woche findet ein Kurs über das Leben in Österreich statt“, erklärt Schabhüttl. Mujtaba besucht auch den, insgesamt sitzen um die 60 Leute drin. "Wir lernen über die Bundesländer und wie man Fahrscheine kauft“, erzählt Mujtaba.

"Jeder Jugendliche hat einen Betreuer“, sagt Schabhüttl. Insgesamt 33,5 Vollzeitbetreuer setzt ORS für die Minderjährigen ein. Wenn rund um die Uhr jemand da ist, kommen so auf jeden Betreuer 46 Jugendliche. "Ich wünschte, wir hätten um 1000 Menschen weniger in Traiskirchen“, sagt der Leiter bei einem Rundgang durchs Lager. Er zeigt den Fußballplatz, den Spielplatz, den Speisesaal mit 270 Plätzen. Den Fitnessraum, die Krankenstation, den Gebetsraum, den Kiosk. Traiskirchen ist wie ein Dorf. Rund 1500 Menschen leben hier. Ein Drittel von ihnen ist unter 18 und alleine gekommen. Es ist ein Dorf ohne Eltern.

In der Gemeinschaftszone hängt eine große Österreichkarte hinter Glas. Darauf klebt die "Transferliste“: Die Namen von allen, die in Unterkünfte überstellt werden. Heute sind es 115 Menschen. Einer davon ist ein Minderjähriger.

Im März stand auch Abduls Name auf der Liste. Damals wurde für den 15-Jährigen ein Platz in einer Betreuungseinrichtung der Diakonie frei. Nach drei Monaten in Traiskirchen wurde er zehn Kilometer nördlich, nach Mödling gebracht: "Ich habe mich sehr gefreut“, erzählt er in ausgezeichnetem Deutsch, das er seither gelernt hat: "Meine Zimmerkollegen haben gesagt, ich schulde ihnen etwas, weil ich so viel Glück hab.“

Seither teilt er sich ein Zimmer mit drei anderen Burschen, geht jeden Vormittag in die Schule, am Nachmittag macht er Taekwondo. "In Traiskirchen habe ich nur geschlafen. Jetzt kann ich viel mehr unternehmen“, sagt er. 38 Burschen zwischen 14 und 18 leben im Haus der Diakonie. Alle machen einen Deutschkurs oder gehen in die Schule. Rund die Hälfte besucht eine Förderklasse in einer Neuen Mittelschule mit Fokus auf Sprache, die eigens für die Diakonie-Burschen eingerichtet wurde. "Alle sind irrsinnig motiviert zu lernen“, weiß Sabine Schusser, die stellvertretende Leiterin des Hauses. Früher waren die Burschen im Normalfall nicht länger als vier Wochen in Traiskirchen, bevor sie nach Mödling zogen. Jetzt dauert es mindestens drei, oft sogar sechs Monate. "Wenn sie kommen, sind sie ziemlich erleichtert“, meint Schusser. "Dort sind sie sehr auf sich alleine gestellt und wissen nicht, wo und wie es weitergeht.“

Auch rechtlich ändert sich mit dem Umzug einiges für die Burschen: Erst wenn sie in einer Einrichtung des Bezirks wohnen, beantragt die Jugendwohlfahrt die Obsorge bei Gericht. Damit haben sie endlich jemanden, der für sie zuständig ist. Die Jugendlichen in Traiskirchen werden nur punktuell von der Jugendwohlfahrt betreut. Weil nicht vorgesehen ist, dass sie länger als ein paar Wochen bleiben.

Asylgipfel Ende Oktober

Mujtaba war sieben Monate in Griechenland, bevor er nach Österreich kam. Er hat diese Zeit fast vollständig in einem Keller verbracht. Er weiß, dass es Schlimmeres gibt, als in Traiskirchen zu warten. "Die Menschen hier bemühen sich. Sie sind freundlich und respektvoll zu uns“, sagt er.

Trotzdem: "Traiskirchen ist einfach keine Umgebung, wo Minderjährige sich lange aufhalten sollten“, sagt Christoph Pinter vom UNHCR, der das nicht funktionierende Unterbringungs-System scharf kritisiert. "Und man darf sich nicht darauf ausreden, dass Traiskirchen eben nicht konzipiert ist, um Minderjährige zu betreuen. Man muss auf die Situation, die wir jetzt haben, reagieren.“ Das hätte auch schon früher passieren können. Seit über einem Jahr steigen die Asylanträge von Minderjährigen. Reagiert haben darauf weder Bund noch Länder. Bis jetzt. In der vierten Oktoberwoche lädt der Bundeskanzler seinen Vize, die Landeshauptleute, die Innenministerin und den Verteidigungsminister zum Asylgipfel.

Bis dahin werden Mujtaba, die 500 anderen Jugendliche und die Neuankömmlinge weiter warten müssen. "Ich wünsche mir, dass ich endlich wieder etwas lernen kann“, sagt Mujtaba. Eines hat er schon mitgekriegt. Er weiß, warum er so lange warten muss: "Weil ihr in Österreich Föderalismus habt.“

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