Die Suche nach den verlorenen Illusionen

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"Wir waren seit fünf Monaten nicht mehr drüben", sagt Olga. Sie sitzt mit ihrem achtjährigen Sohn Nikita auf dem Bett und erzählt vom Krieg: "Wir hatten ein Haus in der Nähe von Donezk, das verfällt jetzt. Die Lage war unerträglich. In unserem Dorf standen die Panzer, es wurde gekämpft. Das einzige, was wir mitgenommen haben, waren ein Fernseher und ein Computer." Vor zwei Jahren flüchtete Olga mit ihren drei Kindern aus dem umkämpften Donbass in der Ostukraine in die "frontnahe" Stadt Wolnowacha. Hier lebt die Familie in einer kleinen Wohnung. Olga hat einen Job gefunden, sie erhebt statistische Daten für eine staatliche Stelle. "Job-und Wohnungssuche waren nicht einfach, aber jetzt geht es", meint sie und Nikita strahlt neben ihr. Leicht haben sie es nicht: Der Großteil des Einkommens geht für die Miete drauf. Schulbücher sind Mangelware, sie müssen kostspielig kopiert werden. Olga kennt hier einige Leute "von drüben". Zurückgehen käme derzeit nicht in Frage: "Es gibt dort keine Arbeit, immer wieder wird geschossen. Wir wünschen uns nur, dass es aufhört."

10.000 Tote, Millionen Flüchtlinge

Der Konflikt im Donbass hat seit Februar 2014 laut UNO-Angaben mehr als 10.000 Tote gefordert, Millionen sind geflüchtet. Die Krise begann nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Die russischsprachigen Gebiete um Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine wollten sich daraufhin von Kiew abspalten. Die im Minsker Vertrag von 2015 unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs vereinbarte Waffenruhe ist fragil, sie wird beinahe täglich irgendwo gebrochen. Viele Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten sind oft nur mit wenigen Habseligkeiten weiter westlich gestrandet.

"Für unsere Stadt waren die Flüchtlinge eine große Herausforderung", erzählt der Bürgermeister von Wolnowacha, Serhij Demtschenko. "Vor Ausbruch des Konfliktes lebten hier 22.000 Menschen. Plötzlich mussten Tausende zusätzlich untergebracht und versorgt werden." Heute gehe es vorrangig darum, dass das Zusammenleben gut funktioniere. Eine Herausforderung für Wolnowacha seien auch die rund 50.000 Menschen, die jeden Monat aus dem Donbass über die Demarkationslinie hierher kämen, um ihre Pensionen abzuheben und ihre Bankgeschäfte zu erledigen.

Hilfe in dieser schwierigen Situation kommt von der lokalen Caritas, sie wird dabei von Welthaus und der Caritas im westukrainischen Iwano-Frankiwsk unterstützt. Die Flüchtlinge werden mit dem Allernötigsten wie Lebensmittel, Hygieneartikel, Heizmaterial und Bekleidung versorgt. Unterstützung erhalten sie auch bei der Wohnungs-und Jobsuche und bei Behördenwegen. Für die Kinder bietet das engagierte Team außerhalb der Schulzeiten ein umfangreiches Betreuungsangebot.

Blühende Korruption

Die soziale Lage in der Ukraine ist nach wie vor äußerst prekär. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet rund 120 Euro im Monat. Davon werden noch 20 Prozent Steuern abgezogen. Beim Durchschnittslohn gibt es regionale Unterschiede. In der westukrainischen Region um Iwano-Frankiwsk etwa verdient man im Schnitt rund 180 Euro. Wie man mit diesem Einkommen über die Runden kommen kann, wenn viele Dinge des täglichen Bedarfs beinahe so viel kosten wie in Österreich, bleibt ein Rätsel. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei zehn Prozent. Tatsächlich dürfte sie jedoch deutlich höher sein, meinen unsere Projektpartner, Natalia Kosakewic und Wolodymyr Tschornyj, viele Menschen ohne Job seien gar nicht erfasst.

Bei diesen Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten ist es kein Wunder, dass die Korruption in der Ukraine gewaltige Ausmaße angenommen hat. Ein Beispiel aus dem Alltag erfahren wir auf der Fahrt nach Mariupol: "An bestimmten Tagen werden im Internet die Fahrkarten für die Eisenbahn zum Kauf freigeschaltet. Kurz darauf sind alle Tickets weg, sie wurden 'intern' gekauft. Man kann sie dann zu überhöhten Preisen am Schwarzmarkt kaufen", erzählt Natalia.

Wie angespannt die Sicherheitslage nach wie vor ist, merkt man an den zahlreichen Straßensperren, die wir passieren müssen. Meistens geht es nach den üblichen Fragen - "Wer seid ihr, wohin wollt ihr?"- rasch weiter über schnurgerade Straßen. Der Blick erstreckt sich über scheinbar endlose Wiesen und Felder. Als wir einen kurzen Stopp am Straßenrand machen, mahnen uns die Projektpartner zur Vorsicht. Erst zwei Tage zuvor sei jemand bei der Feldarbeit auf eine Mine getreten und gestorben.

Die Hafenstadt Mariupol liegt am Asowschen Meer im Osten der Ukraine, unweit der Grenzlinie zu den abtrünnigen Republiken. Das Leben und die Luft in der 450.000-Einwohner-Stadt sind geprägt von zwei riesigen Stahlfabriken, eine davon steht mitten in der Stadt. Tag und Nacht raucht es aus zahlreichen Schloten. Sobald man vor die Tür geht, atmet man die giftige Luft ein. Die Folge seien überhöhte Krebsraten und viele Fälle von Asthma, meint Wolodymyr. Er zeigt uns das YouTube-Video einer internationalen Kampagne mit dem Titel "Hört auf damit, unsere Kinder zu vergiften". Bisher blieb der Appell weitgehend ungehört. Das liegt wohl auch daran, dass in den beiden Stahlwerken 40.000 Menschen arbeiten. Aswostal gehört zum Imperium von Rinat Achmetow, dem reichsten Ukrainer. Seit Jahren spielt er bei den politischen Entwicklungen in der Ukraine eine Schlüsselrolle. Und er ist bei weitem nicht der einzige Oligarch mit engen Verbindungen zu den oft wechselnden Machthabern.

Desinteresse an Politik

2019 finden in der Ukraine Präsidentschafts-und Parlamentswahlen statt. Zahlreiche Wahlplakate säumen die Straßen. Wir möchten wissen, wie die Stimmung im Land ist. "Ein Großteil der Bevölkerung ist mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Die Menschen sind abgestumpft und regen sich nicht mehr auf", sagt Wolodymyr. Es sei ihnen nicht bewusst, dass sie Einfluss auf die Politik üben könnten. Der amtierende Präsident Petro Poroschenko, ein Oligarch, der sein Vermögen mit Schokolade, Schiffsbau, Rüstung und TV-Sendern gemacht hat, wirbt mit dem Slogan "Armee, Sprache, Glaube". Er regiere autoritär und sei nicht sonderlich beliebt, meinen unsere Partner: "In der Bevölkerung kommt es nicht gut an, dass er auf den Malediven urlaubt, während sich das Leben hier kaum verbessert." In den Umfragen führt die ehemalige Premierministerin Julia Timoschenko. Auf den Wahlplakaten verkündet sie, dass die Zukunft der Ukraine in Europa liege. Timoschenko hat 2004 die "Orange Revolution" angeführt. Es folgten Machtkämpfe, der Umsturz 2014 und ein Bürgerkrieg. Viele Hoffnungen in eine politische Wende seien zerstört worden, meint Maria Dubrakova von der Caritas. Illusionen habe sie heute keine mehr.

Welthaus stellt die Ukraine in den Fokus der heurigen Adventsammlung und bittet um Spenden für Winterpakete. Infos: graz.welthaus.at

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