"Niemand schätzte Situation richtig ein"

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"Wichtiger war mir, eine gewisse Stimmung herüberzubringen, wie sich das damals zugetragen hat. Mir ging es darum, die nachfolgenden Generationen mit dieser Geschichte vertraut zu machen."

Paris in den 1990ern

Laut -und oft mit Theaterblut -versuchen die Aktivisten von "Act Up Paris" das öffentliche und politische Schweigen zu Aids zu brechen.

Der Film "120 BPM" lenkt den Fokus auf die Aids-Aktivisten von "Act Up Paris" (Aids Coalition to Unleash Power), die sich Anfang der 1990er zusammenschlossen und sich erst einmal finden mussten. Da finden ausufernde Debatten statt, wie man mit der gerade aufkeimenden Krankheit Aids umgehen soll. Im Zentrum steht die Liebe der Protagonisten Sean und Nathan. Der aus Marokko stammende französische Regisseur Robin Campillo engagierte sich in den 90ern jahrelang selbst bei Act Up. Auf Basis seiner persönlichen Erfahrungen zeigt er die damaligen kontroversen Debatten und spektakulären Aktionen der Gruppe.

Die Furche: Welche Erfahrungen brachten Sie aus der Zeit bei Act Up in "120 BPM" ein?

robin campillo: Als schwuler Mann habe ich die 1980er-Jahre mit der ständigen Angst vor der Krankheit gelebt. Als ich Anfang der 90er ein Interview mit Didier Lestrade gesehen habe, einem der Gründungsmitglieder von Act Up Paris, da wusste ich: Da muss ich mich engagieren. Er sprach von einer Aids-Gemeinschaft, bestehend aus unmittelbar Betroffenen der Krankheit, ihrer Angehörigen und Freunde sowie den Medizinern, die mit HIV zu tun hatten. Lestrade erklärte, dass diese Gemeinschaft keine öffentliche Unterstützung erhalte, dass die Gesamtgesellschaft sich für ihre Situation überhaupt nicht interessieren würde. Mit dieser Rede hat er ein Schweigen gebrochen, das über ein Jahrzehnt lang den Diskurs über die Epidemie in Frankreich bestimmt hatte. Ich musste da einfach mitmachen.

Die Furche: Stecken in "120 BPM" auch einige autobiografische Aspekte aus Ihrem Leben?

campillo: Ich habe natürlich versucht, einige der Erfahrungen von damals zu rekonstruieren, aber im Grunde erzähle ich eine rein fiktive Geschichte. Die wahren Begebenheiten, die ich einfließen ließ, habe ich sehr frei nachempfunden, das war eine ganz bewusste Entscheidung. Denn viel wichtiger war mir, eine gewisse Stimmung herüberzubringen, wie sich das damals zugetragen hat. Als Inspiration dienten mir eher die generellen Spannungen innerhalb der Gruppe damals als einzelne historische Figuren. Mir ging es darum, die nachfolgenden Generationen mit dieser Geschichte vertraut zu machen.

Die Furche: Ist der Film also eigentlich das Porträt einer bestimmten Zeit?

campillo: Anstatt einen pittoresken Film über die Vergangenheit zu drehen, wollte ich mich auf die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart fokussieren. Die Schauspieler in den Kostümen zu sehen, hat bei mir automatisch das Gefühl ausgelöst, in die Zeit von damals zurückzureisen. In diesem Zusammenhang war auch die Frage zentral, welche Art von Kommunikationsmittel die Figuren verwenden. "120 BPM" zeigt eine Zeit, in der es keine Mobiltelefone, kein Internet und keine sozialen Netzwerke gab; es war eine Zeit, in der Organisationen nicht wie heute die Möglichkeit hatten, ihre Bilder und Themen über das Internet zu verbreiten. Stattdessen spielte das Fernsehen die bestimmende Rolle.

Die Furche: Was ist Ihnen von der damaligen Zeit, als Sie selbst ein Jugendlicher waren, am stärksten in Erinnerung geblieben?

campillo: Eigentlich das Gefühl, dass Aids meine Jugend ruiniert hat. In vielerlei Hinsicht. Denn ich habe damals damit aufgehört, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, aus Angst vor der Krankheit. Man hat dieser Krankheit emotional alles untergeordnet. Es gab auch viele, die die Warnungen einfach in den Wind geschlagen und die Krankheit ignoriert haben. Jeder ist anders damit umgegangen. Als mein erster Freund starb, da war es so, als hätte er gar nie existiert. Aids hat alle ausgelöscht. Es war ein ganz seltsames Gefühl von Ohnmacht, mit der ich nie umzugehen gelernt habe. Das ist auch der Grund, weshalb ich den Film gerade jetzt, mit einigem zeitlichen Abstand, gedreht habe. Damals war kaum jemand in der Lage, die Situation, die Aids mit sich brachte, auch nur ansatzweise richtig einzuschätzen. Bisher hat dies meines Wissens noch kein Film thematisiert. Ich glaube, darin liegt das wichtigste Argument für den Film.

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