Der Name des Mannes, der in seiner niederländischen Heimat und in Deutschland Orlandus Lassus, in Italien Orlando die Lasso und in Frankreich Roland de Lattre heißt, ist Symbol für die europäische Verbreitung und Gemeinsamkeit einer Kunstgattung: der aufblühenden A-cappella- Polyphonie. Diese wurde in der Zeit der Renaissance in den Niederlanden „erfunden“ und trat bald ihren Siegeszug durch alle europäischen Kunstländer an, wo sie sich mit den verschiedenen nationalen Kunstformen verband. So entstand im deutschsprachigen Raum das polyphone Lied, in Italien das Madrigal, in Frankreich das „Chanson“.
Sinn und besondere Begabung der Franzosen für die Realistik des Ausdrucks verliehen der neuen Kunstgattung charakteristische Züge, die auch die zeitgenössische französische Madrigalkunst bestimmen. So zeichnet zum Beispiel Clement Jannequin in einem vierstimmigen Chorsatz ein bewegtes und farbenprächtiges Bild der Schlacht von Marignan, so zaubern Costeley und Bertrand ländliche Szenen vor unser Ohr, ja fast schon vor unsere Augen. — Wie lebendig und elastisch diese Form auch in neuerer Zeit ist, beweisen die hauchzarten, stimmungsvollen Chonsätze eines Debussy näch Gedichten von Charles d’Orleans oder eines Florent Schmitt nach Ronsard. Doch auch neuere Dichter werden von zeitgenössischen französischen Komponisten vertont: etwa Paul Eluard mit einem Zyklus „Un soir de neige“ durch Francis Poulenc oder Claudel in der realistischen Art Darius MiTEauds.
Der Kammerchor „Ensemble vocal Marcel Courau d", der in zwei Konzerten die genannten Werke zum Vortrag brachte, wurde 1945 gegründet und ist gegenwärtig die einzige Vereinigung dieser Art in Paris. Er besteht aus zwölf Mitgliedern, die ein einzigartiges Ensemble bilden. Jeder der sechs weiblichen und männlichen Sänger hat das Format eines Solisten — ohne dessen Unarten. Das Ergebnis ihres Zusammenwirkens ist — sowohl was Tonschönheit, rhythmische Präzision und Deutlichkeit der Aussprache anlangt — verblüffend und kann zum Nacheifern empfohlen werden.
