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Die „Absolute“ — ein Traum?

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Während die Sozialistische Partei Österreichs in den Frühphasen ihrer Wahlwerbung unverrückbar an der absoluten Mehrheit als Wahlziel festhält und Kreisky sein persönliches politisches Schicksal an das Nicht-Zustandekommen einer Großen Koalition koppelt, wird den nüchternen Rechnern auch innerhalb der SPÖ immer klarer, daß eine Wiederholung ihres National- ratswahlerfolaes von 1971 heuer praktisch unmöglich ist. Und dies unter anderem deshalb, weil diesmal wesentlich mehr Stimmen notwendig wären, um mit derselben Zahl von Abgeordneten in den Nationalrat einziehen zu können.

Diesen Umstand hat die SPÖ teils der mit FPÖ-Hilfe (und zugunsten der FPÖ) in der Alleinregierungs- phase von 1970 durchgeführten Änderung der Wahlordnung, teils demoskopischen Umschichtungen zuzuschreiben, während der Trend/ der In den letzten Uandta{ Wahlergebnissen zum Vorschein kam, eher auf Verluste denn auf Stimmengewinne der Regierungspartei hinzudeuten scheint.

Die Hoffnung der ÖVP, die Furcht der SPÖ: Demoskopische Änderungen und politische Trends in Österreich wie auch in anderen Ländern (vor allem in der Bundesrepublik) kehren Sich, verstärkt durch die mehrheitsfeindlichen neuen Bestimmungen der Wahlordnung, mit gesammelter Wucht gegen den Gewinner von 1971.

Die Fortschritte der elektronischen Datenverarbeitung, die heute eine Nationalratswahl, einst das spannende Rechenabenteuer einer Nacht, bereits wenige Stunden nach der Schließung der Wahllokale dank verfeinerter Methoden der Hochrechnung zu einem „gelaufenen Rennen“ machen, ermöglichen es heute auch,, die Resultate vergangener Wahlen an Hand geänderter Bedingungen (Änderungen der Wahlordnung, Binnenwanderungen) durchzuspielen.

Dazu Professor Gerhart Bruckmann, Österreichs Top-Fachmann auf dem Gebiet der politischen Kybernetik: „Bekanntlich .wandern“ auf Grund der Volkszählungsergebnisse von 1971 vier Mandate von Ostösterreich ab (Wien minus 3, Nö minus 1; Oö, Slbg., Stmk und Tirol je plus 1). Wäre diese neue Mandatsaufteilung auf die Bundesländer bereits den Nationalratswahlen 1971 zugrunde gelegen, so hätte — bei gleichen Parteisummen! — die Mandatsverteilung nicht 93 : 80 :10, sondern 92 :79 :12 gelautet.“

Und damit hätte die SPÖ — was ja bekanntlich schon damals um ein Haar geschehen wäre — zwar eine theoretische absolute Mehrheit, aber keine echte absolute Mehrheit gehabt, da ja bekanntlich der Erste Nationalratspräsident, den diie stärkste Partei zu stellen hat, nicht mitstimmen kann, so daß es dm Plenum 91 :91 gestanden wäre. Das wiederum bedeutet, daß die SPÖ nach den bevorstehenden NationalratswaMen nicht einmal dann in den Besitz einer regierungsfähigen Mehrheit käme, wenn es ihr gelänge, dasselbe prozentuelle Stimmenergebnis wie 1971 zu erzielen.

Genau dies aber erscheint praktisch ausgeschlossen, wenn man bedenkt, daß der einzige echte Triumph, den die SPÖ bei Land- tagswahlen der letzten Jahre verbuchen konnte, aus zwei Gründen abgewertet wird. Erstens deshalb, weil der SPÖ-Sieg in Wien wohl in erster Linie der Attraktivität eines jungen, dynamischen, sympathischen „neuen Besens“ zuzuschreiben war, der heute nicht mehr so neu Ist wie vor etwas weniger als zwei Jahren. (Und fast zweieinhalb Jahre werden am Wahltag seit dem Amtsantritt Gratzens vergangen sein.) Zweitens und vor allem aber erfährt das Wiener Wahlergebnis durch die Abwanderung von drei Mandaten eine neue Gewichtung im Gesamtresultat.

In Anbetracht der äußerst knappen absoluten Mehrheit von einem einzigen Mandat gewinnt das steirische Landtagswahlergebnis vom 20. Oktober 1974 um so größere Bedeutung als ein Menetekel für die Regierungspartei, als ja bis zum Wahltag weniger als ein Jahr seit dieser Landtagswahl vergangen sein wird.

Eine genauere Analyse der steirischen Landtagsresultate macht den interessanten Umstand sichtbar, daß sich genau jener Trend, der die SPÖ 1970 zum relativen und 1971 zum absoluten Wahlsieg geführt hat, jetzt gegen sie kehrt. Genau jene Schichten, die damals die Sozialisten auf den Schild hoben, haben sich auch am deutlichsten von ihr abgekehrt. Setzt man die Resultate der letzten steirischen Landtagswaihlen dm Indexvergleich gleich 100, so konnte die SPÖ 1974 nur in einem einzigen Wahlkreis ihr damaliges Resultat mit Index genau 100 gerade halten — und dieser eine Wahlkreis ist ein ausgeprägt agrarischer: Deutsohlandsberg. Mit einem Index von jeweils 93 Prozent in Leoben, Bruck an der Mur und Mürzzuschlag, 80 in Feldbach, 91 in Judenburg usw. hielt sich die SPÖ ln verstädterten Regionen mit hohem Anteil an Industriearbeitern besonders schlecht — und soweit sie sich hielt, hielt sie sich äuf Kosten der FPÖ, die in Peldfoach halbiert wurde und in Leoben 82, in Bruck 82, in Mürzzuschlag 87 Prozent erzielte.

Hingegen konnte die ÖVP mit größter Deutlichkeit in den hochindustrialisierten . Regionen der Steiermark besonders große Zuwächse und immer noch deutliche, aber geringere in den agrarischen Regionen erzielen, wobei sie nur im äußersten Süden kleine Zugewinne in der Größenordnung von 0,7 Prozent (Deutschlandsberg) bis 103,9 Prozent (Radkersburg) erzielte, im obersteirischen Industrierevier aber auf Indexwerte von 115 in Bruck an der Mur sowie Mürzzuschlag, 117 in Leoben, 114 in Judenburg, 106 in Knittelfeld, und macht weniger als 121 in Liezen emporschnellte. In Graz erzielte sie immerhin 110 In- dexpunkte — es war das beste steirische Volksparteiergebnis seit 1945, und ein Sieg nicht dank den angestammten • agrarischen Wählerschichten, sondern ein Durchbruch in jene Schichten, die 1971 der SPÖ zum Sieg verhalfen.

Eine sehr ähnliche Entwicklung war in Vorarlberg festzustellen, wo die ÖVP ebenfalls am 20. Oktober ihr bestes Ergebnis seit 20 Jahren erzielen konnte. Auch hier ging es der FPÖ noch schlechter als der SPÖ. Fiel die SPÖ in Bregenz auf 97 und in ■ Bludenz auf 99 Prozent ihrer Indexwerte von 1969 zurück, während sie sich in Feldkirch genau halten und in Dornbirn sogar 2,5 Prozent gewinnen konnte, brachte es diie FPÖ in Bregenz auf 64, in Bludenz auf 63, in Feldkirch auf 61 und in Dornbirn auf einen Landesrekord von 73 Prozent ihrer letzten Landtagswahlergebnisse.

Auch hier gewann die ÖVP am stärksten in den industrialisierten Gebieten, doch ‘ist dieser Trend hier nicht so signifikant: 111 Prozent in Bludenz, 113 in Bregenz, 114 in Feldkirch und 115 in Dornbirn.

Dabei erübrigt sich die Fragestellung, ob diese Resultate auf Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft mit den hohen Inflationsraten, auf Verschleiß des Regierungs-Charismas oder auf eine Entwicklung in Richtung auf höhere Wechsel wähler- anteile zurückzuführen ist, denn jede Stimmenumschichtung bedeutet Einübung in ein mobileres Wahlverhalten, bedeutet Schmelzprozeß an den großen Lagern. Offenbar findet in Österreich seit mehreren Jahren eine starke Aufweichung verkrusteter politischer Strukturen und Wahlverhaltensmuster statt, aber offensichtlich nicht im Sinne eines sozialistischen Wunschdenkens in Richtung auf automatisch steigende sozialistische Anteile durch Abwanderung von Agrarbevölkerung in die Industrie und damit aus dem kirchlichen in den gewerkschaftlichen Einflußbereich, sondern eher in der Richtung auf ein englisches Wahl- verhalten, das durch eine Institutionalisierung des Regierungswechsels gekennzeichnet ist.

Wenn der Wähler etwas will, dann ist es offensichtlich eine Konzentration der Verantwortung — „dritte Kräfte“ sind, ob man es erfreulich oder traurig findet, in Österreich immer weniger gefragt. Doch genau der Trend zu überzeugenden Mehrheitsbildungen wurde durch die Änderung der Wahlordnung verlangsamt und zum Teil Wirkungslos gemacht. Wenn man etwas mit großer Wahrscheinlichkeit Voraussagen kann, dann dies, daß aus den kommenden Nationalratswahlen weder die eine noch die andere Großparted mit einer absoluten Mehrheit hervorgehen dürfte — weil absolute Mehrheiten heute wesentlich schwerer zu erringen sind als vor der Änderung der Wahlordnung.

Dazu wiederum Professor Bruckmann: „Der beabsichtigte Effekt dieser Änderung war, Kleinparteien, deren Mandatszahl aus nur wenigen Grundmandaten, aber aus (relativ) vielen Restmandaten zusammengesetzt ist, günstiger zu stellen; konkreter Nutznießer war die FPÖ. Der unbeabsichtigte Nebeneffekt war jedoch, daß das Wahlsystem damit seine Monotonie verloren hat, d. h. es kann nun sehr häufig Vorkommen, daß eine Partei für einen Stimmengewinn mit einem Mandatsverlust bestraft wird (oder, umgekehrt, bei einem Stimmenverlust ein Mandat hinzugewinnt). Damit ist den Zufälligkeiten der Wahlarithmetik in weit größerem Ausmaß als bisher Tür und Tor geöffnet.“

Bruckmann sieht für die Nationalratswahl 1975 sogar eine reale Chance für die KPÖ, mit relativ sehr geringen Stimmengewinnen wieder (und wenn, dann mit zwei Abgeordneten) ins Parlament zu kommen.

Hingegen sind die Aussichten auf eine absolute Mehrheit auch für die ÖVP geringer denn je. Eine Wiederholung der Wahlergebnisse von 1966, die damals der ÖVP die absolute Mehrheit gebracht haben, würde diesmal bedeuten, daß die absolute Mehrheit knapp verfehlt würde. Sicher ist nur, daß die FPÖ

diesmal weniger denn je befürchten muß, zerrieben zu werden — selbst bei starken Stimmenverlusten etwa in der Größenordnung von einem Fünftel könnte sie noch auf acht Mandate hoffen. Andersherum würden ihr aber starke Stimmengewinne auch nicht viel bringen — vor allem dann, wenn es sich um einen Zugewinn, „teurer“ Grundmandate handelt.

Welches Kopf-an-Kopf-Rennen der Großparteien bevorsteht, geht aus einer Berechnung Professor Bruckmanns hervor, in der er die Landtagswahlergebnisse zwischen 1971 und 1974 auf die kommenden Nationalratswahlen überträgt und von SPÖ-Gewinnen in Wien und Burgenland, der ÖVP in den übrigen Bundesländern ausgeht und die Bundesländer Kärnten und Tirol, in denen keine Landtagswahlen statt-

ranaen, in aen wesiosierieiciusciieii Trend einordnet. Er gelangt zu einem rechnerischen Ergebnis von 86 SPÖ-Mandaten, 85 ÖVP-Mandaten und 12 freiheitlichen Abgeordneten. Womit es, siehe den neutralisierten Nationalratspräsidenten, zwischen den Großparteien in der Praxis pari stünde und ein Regieren Ohne FPÖ für die einen wie für die anderen unmöglich wäre.

Langer Rede kurzer Sinn: In drei aufeinanderfolgenden Nationalratswahlen kam es zu einem dramatischen Trendumkehr von einer ÖVP- Alleinregierung über eine sozialistische Minderheifcsregierung, die zur Lebensretterin der Freiheitlichen wurde, zu einer SPÖ-Alleinregierung. Diese Entwicklung führte aber auch zu einem neuen, mündigeren, mobileren Wählerverhalten, wobei man sich auf seine Hochburgen und Anhängerschaften immer weniger verlassen kann. Der Trend zum Zweiparteiensystem mit starken Einparteienregierungen wurde aber durch die Wahlreform gestoppt, und da es schwieriger geworden Ist, absolute Mehrheiten zu erringen, wird Österreich das Schauspiel des Buhlens um die Gunst der FPÖ kaum erspart bleiben, solange dieses auf Partnerschaft einer Großpartei mit den Freiheitlichen maßgeschneiderte Wahlsystem besteht. Auf eine Änderung aber besteht wenig Chance, so oder so.

Bleiben die großen internationalen Trends, die allenfalls so stark auf das Wahlverhalten der immer bewußter ihre Entscheidung abwä- genden österreichischen Wähler durchschlagen könnten, daß dadurch dramatische Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die doch noch zu einer absoluten Mehrheit einer Partei führen. Wie es ‘gegenwärtig in Europa aussielrtfr würde sich ein solcher Trend von außen wohl nur zugunsten der ÖVP auswirken. Denn allenthalben in Europa spricht man gegenwärtig von der Tendenzwende. Vom Umschwung zu konservativeren Leitbildern. Wobei Österreichs Konservative das Glück haben, von keinem Buhmann, auf den sich die Gegenseite einschießen könnte, belastet zu sein.

Eines Tages wird man im geschichtlichen Rückblick vielleicht feststellen, daß sich Österreich erst in dem Jahrzehnt von 1966 bis 1975 als moderne Demokratie etabliert hat — als moderne Demokratie in dem Sinne, daß keine Großpartei Erbmehrheiten in der Tasche hat, keine sich auf Dauer von der vollen Regierungsverantwortung ausgeschlossen zu fühlen braucht. Wie immer die kommende Nationalratswahl ausgeht: Für Abwechslung dürfte sozusagen im Abonnement gesorgt sein. Zumindest dann, wenn nicht das Wahlglück durch Dauerbündnisse des einen oder anderen Großen mit dem einzigen Kleinen korrigiert wird. Was zumindest auf die Dauer unmöglich erscheint.

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