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Was ist noch christlich im ÖVP-Programm?

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Die Volkspartei berät ein neues Programm. Ebenso die SPÖ. Dabei sind die ideologischen Konturen der Parteien weitgehend unscharf geworden. Wenigstens für eine breite Schicht von Wählern sind die Parteien beinahe austauschbar geworden. Prompt taucht auch der Vorwurf auf, daß im Programmentwurf der ÖVP das christliche Element nur noch in versteckter Form enthalten sei.

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Die Volkspartei berät ein neues Programm. Ebenso die SPÖ. Dabei sind die ideologischen Konturen der Parteien weitgehend unscharf geworden. Wenigstens für eine breite Schicht von Wählern sind die Parteien beinahe austauschbar geworden. Prompt taucht auch der Vorwurf auf, daß im Programmentwurf der ÖVP das christliche Element nur noch in versteckter Form enthalten sei.

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Es ist heute eine der schwierigsten Fragen, in welchem Maße in den sozialistischen Parteien noch das ursprüngliche Gedankengut wirksam ist. Diese Frage tangiert die christlich-demokratischen Parteien schon deswegen, weil auch sie bei ihrer Gründung im Jahre 1945 von einer antisozialistischen Frontstellung ausgegangen oder, positiv ausgedrückt, immer noch zur Verteidigung christlicher Werte angetreten sind. Da sich jede demokratische Partei auch an ihren politischen Gegnern orientiert, besteht zwischen den Parteien eine natürliche Wechselbeziehung. Eine Änderung in der ideologischen Grundsubstanz der sozialistischen Parteien mußte aus diesem Grunde auch auf die christlich-demokratischen Parteien zurückwirken. So schwierig es nun ist, heute den ideologischen Standort sozialistischer Parteien, etwa auch der SPÖ, auszumachen, steht doch zumindest fest, daß diese Parteien ihre früheren antichristlichen und antikirchlichen Positionen geradezu demonstrativ geräumt haben, in Österreich von dem Zeitpunkt an, als die SPÖ über das Konkordat von 1933 mit sich reden ließ. In jüngster Zeit hat sich bei Dr. Kreisky sogar der Brauch eingebürgert, sich bei seinen politischen Maßnahmen auf päpstliche Enzykliken zu berufen.

Das Interesse der Kirchen

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund würde es als ein Schritt nach hinten empfunden werden, wenn die ÖVP in einem Programm für die Zukunft in die Sprache früherer christlichsozialer oder auch nur in die Sprache ihrer eigenen früheren Programme zurückfallen würde. Man sollte daher von vornherein nicht erwarten, daß sie heute noch Kulturkampftöne anschlagen könnte. Sie muß sich in dieser Beziehung mit dem Profilverlust, den sie gegenüber der SPÖ erlitten hat, nicht nur abfinden, sondern es sogar begrüßen, daß man heute für bestimmte Forderungen nicht mehr auf die Barrikaden steigen muß. Das müßte sie schon deswegen tun, weil die Kirchen ein offensichtliches Interesse daran haben, in ihrem seelsorgerischen Wirken nicht durch parteipolitische Frontstellungen irritiert und gehemmt zu werden. Daher geht in erster Linie von den Kirchen selbst das Bestreben aus, das vorderhand eingegrabene Kulturkampfbeil nicht wieder ausgraben zu lassen. Erst wenn die SPÖ im Zuge der Gesamtreform des Strafrechts auf Forderungen bestünde, die wesentliche christliche Positionen bedrohen, würde sich für die Kirchen eine neue Situation ergeben — zunächst für die Kirchen, deren Engagement das diesbezügliche Engagement einer Partei erst folgen könnte, und dies selbst dann nur im Rahmen der freiheitlichen Ordnung, auf die demokratische Parteien verpflichtet sind.

Die Frage, wie sozialistisch sozialistische Parteien noch sind, stellt sich aber nicht zuletzt auf gesellschaftspolitischem Gebiet. Haben wir es bei der SPÖ heute tatsächlich, wie vielfach angenommen wird, mit einer Art linker Volkspartei zu tun, einer sozialen Reformpartei mit nur graduellen Ideologischen Unterschieden gegenüber der ÖVP? Die Situation ist in dieser Hinsicht, will man sich vor Übertreibungen hüten, zumindest sö labil, daß der Rekurs auf die christliche Gesellschaftslehre nach wie vor am Platze ist. Fragt man in diesem Zusammenhang, was noch christlich ist im ÖVP-Programm, dann werden Anhänger einer pluralistischen Gesellschaft durchaus auf ihre Rechnung kommen. Sie werden zwar nicht in jedem Punkt über die christliche Gesellschaftslehre stolpern, aber zugeben müssen, daß sie in ihrer Substanz auch im Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm der ÖVP enthalten ist.

Wesentliche Positionen

Expressis verbis wird nur an einer Stelle der Bezug des Programms zur christlichen Gesellschaftslehre hergestellt. Sie lautet: „Unsere politische Ordnungsvorstellung geht vom christlichen Menschen- und Geseli-schaftsbild aus und stützt sich auf die in der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommenden natürlichen Rechte des Menschen.“ Außer der Berufung auf das christliche Menschen- und Gesellschaftsbild liegt hier also auch noch ein Bekenntnis zum Naturrecht vor, das als eine wesentliche Position der christlichen Gesellschaftslehre bezeichnet werden kann.

Es gibt daneben aber noch mehrere Aussagen, denen man ohne Mühe ihr Herkommen von der christlichen Gesellschaftsiehre anmerkt. Etwa:

„In den Reihen der ÖVP haben alle Platz, die, ohne utopische Vorstellungen von einem Paradies auf Erden, menschliche Not überwinden und das Zusammenleben der Menschen harmonischer gestalten wollen.“

„Die im Gegensatz zum völligen Wertneutralismus für eine Orientierung der Politik an weltanschaulichsittlichen Grundsätzen eintreten.“

„Für die ÖVP ist der bestimmende Höchstwert ihrer Politik die menschliche Person, die als Träger schöpferischen Denkens und verantwortlichen Handelns den unveräußerlichen Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung besitzt. Der Mensch kann deshalb für uns niemals bloßes Mittel, sondern immer nur letzter Zweck der Politik sein.“

„Über diese Auffassung des Menschen hinaus bildet der überweltlich verankerte Humanismus des christlichen Menschenbildes die stärkste Herausforderung an unsere Politik. Diese läßt uns die über die materielle Existenz hinausweisende Bestimmung des Menschen erkennen.“

„Die ÖVP bekennt sich zu einer Gesellschaftsreform, die jeden einzelnen in der Rolle des Partners sieht und die Gesinnung der Partnerschaft zwischen den Generationen und Geschlechtern, zwischen den Leistungsstarken und den Leistungsschwachen und zwischen den sozialen und regionalen Gruppierungen der Bevölkerung fördert.“

Genug der Zitate. Jedenfalls finden in ihnen folgende grundsätzliche und fundamentale Positionen ihren Niederschlag: Das Bekenntnis zu den natürlichen Rechten des Menschen, mit dem jeder Positivismus, der nur vom Staat gesetzte Rechte anerkennt, abgewiesen ist; der Wille zu einem ständigen Ringen um die Harmonisierung der Gesellschaft, mit dem jedem Perfektionismus und Determinismus eine Absage erteilt wird; das Bekenntnis zu einer wertorientierten Politik, das zu jedem weltanschaulichen Materialismus in einem eindeutigen Gegensatz steht; die Auffassung des Menschen als Person, mit welcher der Gebrauch des Menschen als Träger einer blo-

ßen gesellschaftlichen Funktion abgelehnt wird; eine Sicht des Menschen in transzendentalen Bezügen, mit der jede Wertung des Menschen als alleiniges Produkt der Geschichte abgewiesen erscheint; das Bekenntnis zur solidarischen Verbundenheit aller Menschen, mit dem das freie Spiel der Kräfte in seine sittlichen Schranken gewiesen ist.

Nur „Politik aus christlicher Verantwortung“?

Der Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm der ÖVP begnügt sich also nicht mit der Formel von einer „Politik aus christlicher Verantwortung“, die ja nichts weiter als eine Motivierung politischen Handelns in sich schließt und jedem Subjektivismus hinsichtlich des Inhalts dieses Handelns Tür und Tor öffnet; er steht vielmehr eindeutig auf dem Boden einer normativen Ordnung und definiert auf diese Weise auch, was unter christlicher Politik zu verstehen ist. Man hat es sich in den letzten Jahren ja leider angewöhnt, im Christentum nur das humanistische Ethos zu sehen, das in ihm zweifellos, sogar in äußerst konzentrierter Form, enthalten ist, aber den Beitrag des Christentums zur Ordnung der Gesellschaft bei weitem nicht erschöpft. Das führt dann zu jener Schwarmgeisterei, die eine Verbindung zwischen Christentum und Marxismus ohneweiteres für möglich hält, ja, sogar davon ausgeht, daß das Christentum eine Unterstützung durch den Marxismus nötig habe, der allein einen konkreten Humanismus verkörpere, weil er die Gesellschaft in das Korsett von Institutionen presse, mit deren Hilfe allein die Gleichheit aller verwirklicht werden könne.

Tatsächlich liegt auch heute keine grundsätzliche Schwierigkeit vor, die christliche Gesellschaftslehre gegenüber Liberalismus und Sozialismus abzugrenzen. Die Schwierigkeit liegt in der Abgrenzung gegenüber einer politischen Praxis, insbesondere der sozialistischen Parteien, die nach außen hin heute jeden Bezug zum Sozialismus vermissen läßt — der gleichfalls nur noch als Humanismus hingestellt wird — und auf Reformen ausgewichen ist, die aus der Sicht der christlichen Soziallehre manchmal sogar noch besser theoretisch untermauert werden können. Dr. Kreisky hat es daher heute nicht schwer, mit Zitaten aus päpstlichen Sozialenzykliken zu prunken. Die wirklichen Sozialisten erblicken aber auch heute noch in dieser Reformpolitik nur eine Etappe zum sozialistischen Endziel, dessen Erreichung mit einem Schlage klarmachen würde, daß zwischen dem Sozialismus und der christlichen Soziallehre nach wie vor fundamentale Unterschiede bestehen. Sie bestehen ganz einfach deswegen, weil der Sozialismus die Freiheit des Menschen im Namen seiner Gesellschaftskonstruktionen vereinnahmt, wogegen jedes christliche Gesellschaftskonzept nur von der Selbstverantwortung des Menschen ausgehen kann.

Dieser Seitenblick auf den demokratischen Sozialismus ist notwendig, um die christliche Position der ÖVP, wie sie sich im Entwurf zu ihrem neuen Grundsatzprogramm spiegelt, deutlich herausarbeiten zu können. Der Entwurf ist in diesem Sinn gewiß nicht ganz lupenrein — es tauchen in ihm vereinzelt auch Begriffe auf, die man eher der Linken zuordnen würde —, aber in seinem jetzigen Wortlaut ausreichend, um die ÖVP gegenüber dem demokratischen Sozialismus abzugrenzen. Diese Abgrenzung kann gerade heute nicht auf der Basis humanistischer Ideale erfolgen, weil darin zwischen ÖVP und SPÖ keine gravierenden Unterschiede bestehen, es sei denn im Willen zur Realisierung solcher Ideale.

Evolutionärer Weg zum Sozialismus

Im übrigen wird immer wieder behauptet, daß die Phase der Entideo-logisierung durch eine Phase der Reideologisierung abgelöst worden sei, für die etwa die Neue Linke als Beweis angeführt werden kann. Ihre ideologischen Positionen bedeuten, von Österreich aus gesehen, das mit dem Au~tromarxismus in der Zwischenkriegszeit bereits eine erste Renaissance des Marxismus erlebt hatte, eine zweite Renaissance des Marxismus, von der zumindest die sozialistische Jugend etwas abbekommen hat, wofür man nur die Jusos in der BRD als Beispiel anzuführen braucht. Diese Jugend — und zumindest Anklänge an die Jusos kann man auch bei der Jungen Generation der SPÖ konstatieren — argumentiert heute aus dem Bewußtsein, daß für den demokratischen Sozialismus die Stunde geschlagen habe, in der er sich wieder zu seinen ursprünglichen Zielsetzungen bekennen müsse. Wer möchte da behaupten, daß heute kein Bedürfnis mehr nach der Herausstellung christlicher Gesellschaftspositionen bestehe?

Die Frage „Was ist noch christlich im ÖVP-Programm?“ zielt jedoch auch noch auf den Umfang der diesbezüglichen Aussagen. In diesem Zusammenhang ist freilich anzumerken, daß im wesentlichen nur Positionen der christlichen Gesellschaftslehre im Entwurf aufscheinen. Neben den Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, auf die in diesem Entwurf Rücksicht genommen wird, gibt es sicher noch andere Bereiche, für die eine spezifisch christliche Aussage fehlt. Man denke nur an die Fragen der Ehe, Familie und Schule, in denen sich der Entwurf mehr oder minder ausschweigt. Die Entscheidung darüber ist aber nicht erst in Verbindung mit dem nunmehr zur Debatte stehenden Grundsatzprogramm, sondern bereits anläßlich der Beratungen über das Klagenfurter Manifest gefallen. Im Entwurf zu diesem Manifest stand noch der Satz: Die ÖVP bekennt sich zum Christentum. Er ist später durch den Satz ersetzt worden: Die ÖVP bekennt sich zur christlichen Soziallehre, womit eine deutliche Einschränkung vorgenommen wurde.

Von einer pluralistischen Partei wie der ÖVP, in der eine Vielfalt von Strömungen, auch von weltanschaulichen Standpunkten, zusammengefaßt ist, kann kaum verlangt werden, daß sie sich für eine dieser Auffassungen entscheidet und obendrein noch dafür eintritt, daß der Staat zu ihrem Hüter bestellt wird, ein Staat, der es im Staatsvolk gleichfalls mit einer Fülle weltanschaulicher Einstellungen und Moralauffassungen zu tun hat. Es gibt eben auch noch den Bereich des menschlichen Gewissens, in welchem der einzelne jene Entscheidungen zu treffen hat, die seinen jeweiligen weltanschaulichen und religiösen Bindungen gerecht werden. Dieses Gewissen aber wird von den Kirchen mehr denn je als letzte Instanz des Menschen hervorgehoben. Dann gibt es aber auch ein Recht, nach seinem Gewissen zu handeln.

Hier stoßen alle Parteien an die Grenzen, die durch die Selbstverantwortung des Menschen gezogen sind. Wenn man den Satz akzeptiert, daß der Staat nur Daseinshilfe leisten kann, aber keine weltanschauliche Instanz repräsentiert und dem Menschen daher seine intimsten Entscheidungen — über seine Religion und Weltanschauung — weder abnehmen kann noch darf, dann wird man auch einen Bereich menschlicher Alleinverantwortung respektieren müssen. In den Jahrzehnten der Entstehung der christlichen Parteien, an denen heute noch vielfach Maß genommen wird, stand letztlich die Freiheit der Kirchen zur Debatte, also die elementare Freiheit zur Verkündung ihres Glaubens. Wenn die ÖVP für eine pluralistische Ordnung eintritt, dann tritt sie damit gleichzeitig für diese Freiheit, also für die Möglichkeit der Kirchen ein, ihrer Sendung uneingeschränkt dienen zu können. Sie hat obendrein noch kein bloß neutrales Verhältnis zu den Kirchen, sondern weiß um ihren fundamentalen Beitrag zur sittlichen Gesundheit eines Volkes. Eine größere Verantwortung als die für die Sicherstellung dieser Freiheit aber können demokratische Parteien nicht tragen.

In dem Bekenntnis zu einer pluralistischen Ordnung, das die ÖVP auch im Entwurf zu ihrem neuen Grundsatzprogramm ablegt, ist gleichzeitig die Chance der Kirchen eingeschlossen, ihrem Auftrag dienen zu können. Die wirklichen politischen Entscheidungen aber fallen immer noch auf gesellschaftlichem Gebiet. Nur wenn hier die Front der Freiheit hält, wird auch alles andere dazuge-wonnen werden können.

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