6827718-1974_21_03.jpg
Digital In Arbeit

Wie bei Richard Wagner

19451960198020002020

Alles geschah sehr schnell, sehr unvermutet. Die sensationsgeladene Entlarvung des Agenten Guillaume, der dramatische Rücktritt Brandts, fast wie in einem reißerischen Film. Ebenso rasch vollzog sich die Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten, ganz gegen manche düstere Prophezeiung. Und rasch wurde das neue Kabinett Schmidt-Genscher aus der Taufe gehoben, wiewohl auch dieses die Auguren bereits scheitern gesehen haben. Bonn, so schrieb eine große Zeitung, wird nun wieder zur Tagesordnung übergehen.

19451960198020002020

Alles geschah sehr schnell, sehr unvermutet. Die sensationsgeladene Entlarvung des Agenten Guillaume, der dramatische Rücktritt Brandts, fast wie in einem reißerischen Film. Ebenso rasch vollzog sich die Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten, ganz gegen manche düstere Prophezeiung. Und rasch wurde das neue Kabinett Schmidt-Genscher aus der Taufe gehoben, wiewohl auch dieses die Auguren bereits scheitern gesehen haben. Bonn, so schrieb eine große Zeitung, wird nun wieder zur Tagesordnung übergehen.

Werbung
Werbung
Werbung

Wird es das? Kann es das? Niehl nur die Auguren, deren Meinung oft noch schneller wechselt als die Ereignisse es ohnehin tun, mögen das nicht glauben. Vielmehr argwöhnt man, erst die ersten Akte eines unwagnerisch-wagnerischen Bühnenspieles wenig weihevollen Stils miterlebt zu haben. Sozusagen die Geburt der Tragödie...

In diesen Tagen konnte man mit gelindem Schaudern eine besondere Art deutscher Gründlichkeit erleben. Wenn schon Skandal, dann einen gründlichen, wie es ihn noch nie gegeben hat und natürlich den allergrößten. Ein Spion über den ein Kanzler stürzte, scheint zu wenig: da muß noch ein Profumo her, ein Watergate, eine rote und andersfarbige Spinnen und viel Wein, Weib und Gesang. Gierig aufbereitet von einer präzisen Kolportage, die sich amerikanisch und politisch gibt, die aber nur der laue Rest mißverstandener Amerikanismen ist und das, was allenfalls Lischen Müller als politisch begreift.

Es war ja zu erwarten, möchte man sagen, daß dem Schlag ins Geschirr die Schiläge unter die Gürtellinie folgen würden. Dort, wo sonst jene Intimsphäre schützt, die das Private wohltätig abgrenzt vom nie zu sättigenden „öffentlichen Interesse“, wurde schonungslos bloßgelegt, wurden Zusammenhänge heute hergestellt, die morgen schon platzten, übermorgen aber wieder hervorleuchteten. Nachschau in Bilderalben, Archiven und dn prominenten Betten. Vermutungen von Geld, das aus Herrenportefeuilles in Damentäschchen wanderte, in Millionenauflage unters Volk gebracht. Psy-chalogisierende Erwähnungen von der Genußfreudigkeit an scharfen Schnäpsen. Angebliche oder wirkliche Dokumente, so genau kann man's nicht prüfen, wie Börsenpapiere gehandelt und nach Kurswert veröffentlicht. Hinweise auf Geheimdienstrivalitäten nicht nur zwischen BRD und DDR, nein, auch in der BRD selbst, mit jenem Hauch von „Staat-im-Staate“ versehen, der uns das Gruseln lehrt, und Gerüchte, immer neue Gerüchte, erfolgreich als ebensolohe getarnt und daher um so williger geglaubt. Spion allein ist eben nicht abendfüllend. Man sieht, die Deutschen haben ihren James Bond gelernt und bereichert. Mit dem Zitat „Mein Gott, was soll aus Deutschland werden“ überschrieb einst eine große Illustrierte eine Serie über Adenauer und Vergangenes. Die nächste Überschrift könnte lauten: „Mein Gott, was ist aus Deutschland geworden ...“ In Cafes, Restaurants und bei anderen Gelegenheiten bemerkt man der Bundesbürger zeigt Wirkung Vorerst sachte formulierte Zweifel „an denen da oben“ schlagen jählings um in Zweifel an der Demokratie. Wie soll denn das weitergehen? Da muß ja einer Ordnung machen Hat die Reprise der Weimarer Aufführung, die wir noch miterlebt haben oder doch wenigstens das Ende davon, bereits begonnen?

Dahinter ist man ja sehr rasch gekommen, daß Spione unser politisches Leben begleiteten wie der Schatten das Licht. Schließlich, so beruhigten sich einige, hat es Agenten sogar in den höchsten Rängen der diversen Diktaturen diverser Farben gegeben. Und dies, obwohl in solchen Systemen nicht erst mühselig nachgewiesen werden muß, daß einer ein Spion ist, sondern beinahe jedermann beweisen muß, daß er keiner ist, was einen großen Unterschied macht. Aber der „Fall Guillaume“ hat eine andere Dimension, eine zusätzliche deutsche Dimension. Sie zeigt das krasse Mißverhältnis — und Mißverständnis — von „Ostpolitik“ im allgemeinen und „Ostpolitik“ zwischen BRD und DDR. Daher auch der zähe Glaube, der von der Koalition wie eine Hoffnung umklammert wird, daß sich die DDR hier wieder einmal „quergelegt habe“ ohne Wissen, vielleicht sogar-gegen den Willen „der Russen“.'““ ™'.„-,-

Wer die gesamtdeutschen Verhältnisse kennt, weiß indessen, daß im östlichen Spionagesystem, das es ebenso gibt wie ein westliches und viele andere, das Gebiet der Bundesrepublik dem Staatssicherheitsdienst der DDR überantwortet wurde, wobei in Ostberlin nur einige sowjetische Verfoindungs- und Kontrollinstanzen bestehen, die an den „Materialien“ entweder profitieren oder zu diesen gewisse Wünsche äußern. „Die Russen“ hatten also beim Guillaume gewiß nicht die Hand direkt im Spiel. Doch anzunehmen, sie hätten nichts gewußt, oder es wäre gegen ihren Willen auf Kollisionskurs gesteuert worden, etwa um die Beziehungen Moskau-Bonn zu stören, ist naiv. Wie man ja auch annehmen kann, daß alles, was Guillaume berichtet hat — und das war wohl zur Zeit der Bonner Ostverhandlungen von höchster.Aktualität und einiges davon wird von großer Langzeitwirkung sein —, Moskau nicht unibekannt geblieben ist.

Ist also der „Fall Guillaume“ — in dem gewiß nicht nur der Zufall Regie geführt hat — ein „Schlag gegen die Ostpolitik“, und wenn er das ist, woran man kaum zweifeln darf, führten diesen Schlag die Russen oder haben sie ihn „führen lassen“?

Vermutungen dazu gibt es viele in Bonn. Sie reichen von der These, Widersacher Breschnjewscher Entspannungspolitik in Moskau selbst — sowjetische Falken also — hätten sich hier, freudig unterstützt von der DDR, bemerkbar gemacht, bis hin zu der Annahme einer „globalen ideologischen Strategie“. Letztere besagt, daß die Sowjets nun einmal keinerlei Liebe zu sozialdemokratischen Regierungen empfinden, des häretischen und infizierenden Charakters wegen, der diese beseele. So hätten sie es auf deren Scheitern oder doch auf deren Gesichtsverlust abgesehen. Wenn dadurch das Heraufkommen „bürgerlich-kapitalistischer“ Regierungen gefördert werde, um so besser. Diese seien einerseits in Dingen des Geschäftes erfahrenere und angenehmere Partner, anderseits nach der im Marxismus herrschenden Lehre ohnedies unrettbar verloren, da ja aller Kapitalismus unablässig innere Widersprüche produziere.

Während“ man die erstgenannte These vorzugsweise aus dem Munde von Politikern der Unionsparteien hört, wird die letztere vor allem von ideologiekundigen Sozialdemokraten herumgereicht. Doch auch eine dritte Ansicht läßt sich vernehmen. Sie argwöhnt, die Regisseure des „Falles Guillaume“ könnten weiter, womöglich sogar sehr weit im Westen sitzen; sie hätten Guillaume einfach „auffliegen“ lassen, um Brandt und den Deutschen, aber nicht nur diesen, anschaulich vorzuführen, was alles eine „neue Ostpolitik“ noch mit sich bringt.

Alles ist möglich. Und alles wird für möglich gehalten. Denn Fälle wie dieser rechtfertigen nahezu mühelos jede Spekulation. Und eine Regierung, die, säße sie fest im Sattel, wäre sie genügend erfolgreich, hätte sie nicht mit Schwierigkeiten schier unüberwindlicher Art zu kämpfen und stützte sie sich auf in sich feste Parteien, wäre natürlich nicht über Herrn Guillaume gestolpert. Da wäre die Entlarvung eines Spiones bloß eine Episode, eine peinliche zwar, aber dennoch bald vergessen.

Man kann in Bonn von Meinungsumfragen hören, die noch vor der Affäre veranstaltet worden sind. Danach hat die SPD einen kaum für möglich gehaltenen Tiefstand (unter 40 Prozent) erreicht, die CDU-CSU hingegen habe sich an die Höchstmarke (fast 60 Prozent) herangearbeitet, die FDP verzeichne maßvollere Gewinne. Aber auch sie konnte nicht wettmachen, was die SPD verlor, woraus sich trübe Aussichten für die sozial-liberale Koalition ergeben. Sei dem wie immer — befragt ist noch nicht gewählt und bis 1976 verstreicht noch viel Zeit — die zuletzt erzielten Wahlresultate sprechen für sich auch dann, wenn man davon ausgeht, daß Landeswahlen keine Bundeswahlen sind. In einem Zustand wie diesem konnte der „Fall Guillaume“ nicht ohne weit über ihn hinausreichende Folgen bleiben.

Daß Willy Brandt seit längerem Ermüdungserscheinungen zeigte und mitunter den Eindruck großer Einsamkeit inmitten von Freunden und Feinden erweckte, ist jedermann gegenwärtig. Aber darauf allein Ist sein Rücktritt nicht zurückzuführen. Sicherlich wurde durch das, was Guillaume weitergegeben hat, seine Position und seine außerordentliche Handlungsfähigkeit schwer erschüttert und wahrscheinlich auch seine innenpolitische, denn vieles davon kommt via DDR in die BRD zurück! Aber das letzte auslösende Moment war sicher dies:

In den Augen der Öffentlichkeit und angesichts der unglaublich schlampig gehandhabten Sicherheitsbestimmungen waren zwei Kabinettsmitglieder „unmöglich“ geworden — Ehimke und Genscher. Ehmke allein zurücktreten zu lassen, wäre der SPD nicht beizubringen gewesen, schon weil sie diesfalls die „Alleinschuld“ auf sich hätte fallen gesehen. Genscher aber dachte nicht daran, zurückzutreten; vielmehr gedachte er nach Aufrücken des Parteivorsitzenden Scheel zum Bundespräsidenten dessen einzig denkbarer Nachfolger zu sein. Hätte er zurücktreten müssen, wäre daran auch die sozial-liberale Koalition gescheitert, ohne daß irgend jemand hätte sagen können, was dann hätte werden sollen. Also Neuwahlen, die wieder angesichts der Meinungsbefragungen wenig ratsam schienen? So trat Brandt zurüok, ermöglichte damit, daß auch andere „ohne Gesichtsverlust“ aibtraten und „rettete die sozial-liberale Koalition“, wie man aus der „Bundesbaracke“, dem SPD-Hauptquartier in Bonn, hören konnte.

Die CDU-CSU-Opposition, die Wahlen nicht erzwingen kann, hielt sich weise zurück. Wohl auch in der Hoffnung, daß Fortsetzungen des Gruselstückes auch das Kabinett Schmidt-Genscher lädieren könnten und dn der Erwartung, die mißliche Lage überhaupt werde zum Koalitionsverschleiß das ihre beitragen. Es darf auch angenommen werden, daß die Unionsparteien dies nicht für jene Zeit halten, zu der es ratsam wäre, in eine Regierung (über Wählen oder über eine Koalition) zu gehen.

Recht unterschiedlich wird in der SPD beurteilt, wie und ob es Willy Brandt gelingen kann, die SPD selbst wieder in Ordnung zu bringen. Schmidt gilt in der Partei als „Rechter“ und sein Verhältnis zu den „Jusos“ ist sehr belastet. Aber nicht die „Jusos“ sind das Hauptproblem. Dieses wird vielmehr durch jene (wie man sie nennt) „Gauchisten“ geschaffen, unter denen sich starke kommunistische Kader befinden dürften. Die KP, schon ganz zu Beginn•• der Bundesrepublik verboten, brachte ihre Illegalität nicht tatenlos zu. Vielmehr, so wird behauptet, habe sie es verstanden, sich auch an der Basis und in die Kader von SPD und DGB einzunisten, wo sie nunmehr „sozialistisch getarnt“ auf Störung und, vielleicht sogar, auf Spaltung der SPD hinarbeite. Anlässe dazu wären genügend viele zu erwarten: Lohn- und Inflationsfragen, Steuer- und andere Politik, das weite Feld der Sozialpolitik und eine Regierung (samt großer Regierungspartei), die einerseits unter Zeitdruck und Erfolgszwang steht, anderseits unpopulären Sachzwängen unterliegt und dabei an Ansehen „nach rechts hin“ zurückgewinnen möchte, was sie bisher verlor.

Zunächst allerdings erwartet sich die SPD eine „mildtätige Wirkung“ jener Woge von Mitleid und Sympathie, welche vorerst Brandt weiterträgt. Solche Wogen freilich rollen auch bald wieder aus. Aber wenn es beitrüge, die demnächst stattfindenden Wahlen in Nordrhein-Westfahlen und dann die ün Hessen zumindest zu „verschönen“, wäre schon etwas gewonnen. Zur Verbesserung des arg angekratzten Images Brandts könnte auch beitragen, was man in der SPD erhofft: seine Wahl zum Vorsitzenden der „Sozialistischen Internationale“. Olof Palme deutete das schon an und wenn, so sagt man in Bonn, auch Dr. Kreisky mitmachen würde, wäre es geschafft. Freilich immer unter der Voraussetzung, daß der „Fall Guillaume“ nicht noch Überraschungen hergibt, die Brandt in Mitleidenschaft zögen.

Sehr rasch machte sich Bonn wieder an die Arbeit. Aber das Klima hat sich verändert Polarisation und Konfrontation, überaus weit gediehen in der BRD, befruchten alles, was sonst nur eine Auseinandersetzung am Rande geblieben wäre, zu einer Art „politischen Kampf um's Überleben“. Das verleiht dem einstigen „Bundesdorf“ jene Bühnenatmosphäre ä la Richard Wagner, in der Untergänge aller Art nicht mehr nur geprobt, sondern tatsächlich vorgeführt werden sollen.

Von außen: Keine angenehmen Aussichten für Europa, das ja mitunter auch schon einer brennenden Nibelungenhalle nicht unähnlich ist.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung