Nichts signifikant Neues, aber …

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Whistleblower („Pfeiferl-bläser“) heißt auch das neudeutsche Wort für die „Verräter“, die Missstände öffentlich machen. Daniel Ellsberg etwa hat 1971 mit der Preisgabe der Pentagon-Papiere nachhaltig zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen.

Noch ist nicht bekannt, wer für den Verrat jener 92.000 US-Dokumente über den Afghanistankrieg namhaft gemacht wird, die – nach der Sichtung durch die New York Times, den britischen Guardian und den Spiegel – auf der Interplattform Wikileaks nachzulesen sind. Schon die schiere Masse der Informationen löste manche Begeisterung aus – der Vergleich mit Daniel Ellsbergs Jahrhundert-Tat war schnell zur Hand.

Nichts Neues über Afghanistan?

Doch ein Vergleich kann auch ordentlich hinken. Als Schlüsseltext für eine neue Sicht auf die Vorgänge mag der Kommentar des Afghanistan-Experten Andrew Exum dienen, den die New York Times letzten Montag veröffentlichte. Exum, durchaus US-Militär-affin, wies dort darauf hin, dass die Dokumente mitnichten etwas Neues offenbaren würden: Wer nur ein Drittel der Afghanistan-Artikel in seiner lokalen Zeitung gelesen hätte, würde durch die Papiere nichts signifikant Neues erfahren. Exum zitierte dazu den Leitartikel des Guardian zur Causa, dass die Veröffentlichung eine „von den uns bekannten Darstellungen unterschiedliche Sichtweise“ offenbaren würden. Exum gallig: „Wer immer das geschrieben hat, hat die Afghanistan-Artikel in seiner eigenen Zeitung nicht gelesen.“

Die hier umrissene Kritik an den Vorgängen soll darauf hinweisen, dass die Wahrheitsfindung gerade in Zeiten der unbegrenzten Information – wer kann 92.000 Dokument lesen? – eine verflucht komplexe Sache ist. Exum weist zu Recht auch darauf hin, dass viele der Dokumente Momentaufnahmen sind, die in einen Kontext eingeordnet werden müssen. Dazu sind aber Kenntnisse nötig, die ihrerseits sehr komplex sind und erst erworben werden wollen.

Der Zeitgenosse hat es also schwer, zu einer verantwortlichen Sicht auf die Ereignisse zu gelangen. Jeder ist gehalten, seine eigene Strategie zu entwickeln. Voran sollte ein dreifaches Misstrauen stehen: 1. gegenüber den Mächtigen (im gegenständlichen Beispiel: Was einem das Pentagon über Afghanistan weismachen will, muss nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen); 2. gegenüber vermeintlich authentischer Information aus dem Web (Was besagt eine einzelne Schilderung aus den 92.000 Dokumenten über die Vorgänge tatsächlich – und kann das ein User Tausende Kilometer weit weg wirklich beurteilen?); 3. gegenüber den Medien (Ist auf deren Expertise Verlass? Haben nicht auch Medien Nebenabsichten?).

Eine ethische und politische Frage

Fazit: Dem Medienkonsumen-ten heute muss auch solch eine kritische Mediennutzung zugemutet werden. Aber wenn die Medien ihre Wachhund-Funktion (oft mit „vierte Gewalt“ umschrieben) behaupten wollen, brauchen sie die Lobby ihrer Nutzer. Und die dürfen sich zum einen nicht mit der Sicht- und Darstellungsweise eines einzigen Mediums zufrieden geben – es ist eine der Segnungen des Internets, dass man sich mit etwas Aufwand darin sehr wohl verschiedene Sichtweisen auf eine Wirklichkeit aneignen kann.

Zum anderen geht es wesentlich darum, dass die Medienmacher auch dazu befähigt werden, Informationen in den richtigen Kontext zu stellen und – um beim Beispiel zu bleiben – einen kompetenten Kompass durch die 92.000 Dokumente anzubieten. Dass dies in Zeiten von journalistischem Personalabbau weltweit und lokal sowie der Schimäre, alle Information sei gratis zu haben, immer schwieriger wird, sollte wachen Zeitgenossen bewusst sein. Und dass die Mediennutzer im ureigenen Interesse an gesellschaftlicher Mitgestaltung Teil einer Lobby für Qualitäts-Medien und -Journalismus sein sollten. Und das gehört zu den ethischen wie politischen Herausforderungen dieser Tage.

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