Plündern, um zu essen

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Die Landlosen und Kleinbauern in Brasilien sehen in Zeiten der Dürre und der steigenden Arbeitslosigkeit keine andere Wahl, als Supermärkte und staatliche Lebensmitteldepots zu plündern. Die brasilianischen Bischöfe und die Landlosenbewegung unterstützen diese Plünderungen. Joao Stedile, einer der Köpfe der Landlosenbewegung, war vor kurzem in Österreich.

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Die Landlosen und Kleinbauern in Brasilien sehen in Zeiten der Dürre und der steigenden Arbeitslosigkeit keine andere Wahl, als Supermärkte und staatliche Lebensmitteldepots zu plündern. Die brasilianischen Bischöfe und die Landlosenbewegung unterstützen diese Plünderungen. Joao Stedile, einer der Köpfe der Landlosenbewegung, war vor kurzem in Österreich.

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dieFurche: Herr Stedile, wie schätzen Sie die derzeitige Situation der Landlosen in Brasilien und die ihrer Bewegung, des Movimento Sem Terra, ein?

Stedile: Brasilien durchlebt zur Zeit aufgrund der schlechten wirtschaftliche Situation eine starke soziale Krise. Am stärksten betroffen davon sind die Kleinbauern und die Landlosen. Während dieser Regierungsperiode haben etwa 400.000 Kleinbauern ihr Land verloren und 1,2 Millionen Angestellte im ländlichen Bereich haben ihren Job verloren. Die Folge davon ist eine stärkere Migration in die Städte. Wegen der gesunkenen Preise der Rohprodukte ist auch das Einkommen im ländlichen Bereich sehr gefallen. Die Landlosen setzen sich mit vermehrter Kraft zur Wehr. Derzeit haben wir 300 Landbesetzungen durch 55.000 Familien. Unser Kampf besteht darin, Druck auf die Regierung auszuüben, die Wirtschaftspolitik zu ändern und endlich eine Agrarreform durchzusetzen. Doch weil die Großgrundbesitzer selbst in der Regierung sitzen, verweigert diese sämtliche Reformen. Die sozialen Spannungen steigen ständig, und juridisch ist den Großgrundbesitzern nicht beizukommen. Im März dieses Jahres sind zwei unserer Anführer des Bundesstaates Para ermordet worden. Ich könnte von mehreren Justizfällen oder Klagen berichten, wo die Großgrundbesitzer praktisch straffrei davonkommen.

dieFurche: Präsident Fernando Henrique Cardoso hat bei seinem Amtsantritt bezüglich der Agrarreform viele Versprechungen gemacht. Was ist davon umgesetzt worden?

Stedile: Bei seinem Amtsantritt hat Fernando Henrique Cardoso versprochen, 280.000 Familien Land zu verschaffen. Inzwischen sagt die Regierung, daß sie das für 180.000 gemacht hat. Nach Schätzungen der Bewegung sind es aber höchstens 100.000.

dieFurche: Im Oktober stehen in Brasilien wieder Präsidentschaftswahlen bevor. Wie werden diese Wahlen Ihrer Meinung nach ausgehen? Gibt es Kandidaten, mit denen sie gut zusammenarbeiten könnten?

Stedile: Die Regierung von Fernando Henrique Cardoso hat nur ein einziges Ziel, und das ist die Wiederwahl. Dazu hat Cardoso die Wahlgesetze entsprechend manipuliert. Bis Anfang dieses Jahres war er sich sicher, daß er die Wahl gewinnen werde. In den ersten Monaten dieses Jahres sind aber einige Dinge passiert, die das ganze nicht mehr so sicher erscheinen lassen: zum Beispiel die Trockenheit im Nord-Osten, die großen Brände, der Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das hat die Regierung sehr getroffen; sie hatte im Jänner rund 40 Prozent der Stimmen, zur Zeit hat sie nur noch 38 Prozent. Deswegen sagen alle Meinungsforscher, es werde eine Stichwahl geben. Wir sind überzeugt, daß das brasilianische Volk angesichts der schlechten Taten der Regierung von Cardoso die richtige Wahl treffen wird.

dieFurche: Wie schätzen sie Cardosos Gegenkandidaten Luis Inazio da Silva, genannt Lula, der früher selbst Fließbandarbeiter war, ein?

Stedile: Die Politik Lulas ist das Ergebnis der Volkskämpfe der letzten 20 Jahre. Er ist der einzige Kandidat, der Volkscharisma zeigt und der einzige, der ein anderes Modell als das derzeitige einführen kann.

dieFurche: In den letzten Wochen hat die Landbevölkerung in Brasilien immer wieder Supermärkte geplündert. Was steckt hinter diesen Aktionen?

Stedile: Im Nord-Osten des Landes leben 16 Millionen Menschen. Alle sieben Jahre gibt es eine heftige Dürreperiode, die heuer neun Millionen Menschen betrifft. Vor allem die Kinder sterben häufig. Alle wissenschaftlichen Institute haben diese Dürre schon seit langem vorhergesagt. Die Regierung hat absolut nichts unternommen, um den Menschen zu helfen. Die Bevölkerung hat aufgrund der Erfahrungen mit diesen Dürreperioden eine gewisse Tradition eingeführt: Bevor sie verhungern, plündern die Menschen die Lebensmitteldepots der Regierung. Jeden Tag kommt es in irgendeinem Ort im Landesinneren zu einer Plünderung. Sowohl wir als auch die katholischen Bischöfe sind der Meinung, daß jeder Mensch Anrecht auf Leben und auf Essen hat. Aus diesem Grund heißen wir die Plünderungen gut. Obwohl die Regierung die Möglichkeit gehabt hätte, die Leute mit Essen zu versorgen, hat sie es wieder vorgezogen, den Weg der Repression einzuschlagen. Sie hat die Polizei und das Militär dazu aufgefordert, die Depots zu beschützen und gegen 17 Anführer der Landlosenbewegung Strafverfahren angestrengt, weil sie die Plünderungen gutheißen.

dieFurche: Es wurde berichtet, daß nur sehr wenige Landlose an diesen Supermarktplünderungen beteiligt waren, vor allem aber Menschen, die nicht an Hunger leiden.

Stedile: Die Leute, die plündern sind keine Landlosen, sondern Kleinbauern, die aber einfach nichts mehr zu essen haben, weil ihr Land keinen Ertrag bringt. Die Bewegung der Landlosen und auch die Bischöfe unterstützen diese Plünderungen. Das ist unsere größte Verteidigung bei den Prozessen: Wir machen selber nichts, wir unterstützen nur die Leute, die plündern, um zu essen.

dieFurche: Welche Erfahrungen haben sie mit Landlosen gemacht, denen Land zugeteilt wurde? Hat das funktioniert, oder ist mehr notwendig als ein Stück Land, um Bauer zu werden?

Stedile: In den 15 Jahren des Bestehens der Landlosenbewegung hat sie 150.000 Familien Land verschafft. Auf den Großgrundbesitzen, wo einst nur eine Familie mit drei oder vier Angestellten gelebt hat, leben nun etwa 100 bis 150 Familien. Diese Familien erzeugen bis zu zwanzig Mal mehr als früher die Großgrundbesitzer. Vorher waren diese Familien Landlose, Angestellte oder Landarbeiter, jetzt haben sie ein Haus, das ganze Jahr Arbeit, etwas zu essen und können ihre Kinder in die Schule schicken. In der zweiten Phase der Bewirtschaftung beginnen sie dann, für den Markt zu produzieren, um sich auch andere Sachen kaufen zu können. In einer weiteren Phase, fünf, sechs Jahre später, haben wir schon erlebt, daß sich die Familien zusammentun, Genossenschaften bilden und für die Agrarindustrie produzieren. Zur Zeit haben wir 55 solcher Genossenschaften.

dieFurche: Erhebt ihre Organisation, das Movimento Sem Terra (MST), auch politische Forderungen, die über die Forderung nach Land hinausgehen?

Stedile: In Brasilien sind die sozialen Probleme so massiv, daß sich eine soziale Bewegung nicht nur einfach mit ihrem Sachbereich beschäftigen kann. Sie muß sich auch um das ganze soziale Umfeld kümmern. Da der Kampf dieser Bewegungen - die Landlosenbewegung ist nur eine von vielen Bewegungen - sich gegen die Regierung und den Staat richtet, wird dieser Kampf über kurz oder lang zu einem politischen Kampf, selbst, wenn er nicht an irgend eine Partei gekoppelt ist.

Das Gespräch führte Alexandra Mantler-Felnhofer.

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