Auch die Schuld ist eine Tochter der Zeit

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"Le Passé -Das Vergangene": Ashgar Farhadi, iranischer Auslands-Oscar-Gewinner 2009, entfaltet einmal mehr seine Meisterschaft in einem vielgestaltigen Familiendrama. Virtuos, wie entschieden unentschieden er da die Schuldfrage thematisiert.

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"Le Passé -Das Vergangene": Ashgar Farhadi, iranischer Auslands-Oscar-Gewinner 2009, entfaltet einmal mehr seine Meisterschaft in einem vielgestaltigen Familiendrama. Virtuos, wie entschieden unentschieden er da die Schuldfrage thematisiert.

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Die große Welt findet in der kleinen ihre Entsprechung. Und das große Drama, ein Über-Thema wie jenes der Unausweichlichkeit von Schuld kann auch mit Hilfe der vermeintlich banalen, kleinen Beziehungsnot dekliniert werden. Aber ob die Allerweltserfahrung von Dir und Mir zu großem Kino reicht, die Spannung einer Aufeinanderfolge von familiären Berstungen genügt?

Wenn Ashgar Farhadi seine Regie-Hände im Spiel hat, dann reicht es allemal. Schon mit dem iranischen Trennungs-Melodram "Nader und Simin"(Goldener Bär 2011, Auslands-Oscar 2012) zog er das Publikum in den Bann der Einzwängung. Und nun kommt sein kongenialer Nachfolge-Film "Le Passé - Das Vergangene" hierzulande ins Kino.

Fashgaris erster in Frankreich gedrehter Film reüssierte dementsprechend im Vorjahr auch bei den Filmfestspielen von Cannes, Bérénice Bejo wurde für ihr Spiel als Marie mit der Silbernen Palme als Beste Hauptdarstellerin geehrt, schleierhaft allenfalls, warum "Le Passé" trotz der begeisterten Aufnahme, die ihm in Cannes zuteil wurde, nicht zum Festivalsieger taugte. Verdient hätte es Fashgari allemal.

Die Brösel sind programmiert

Ahmad (Ali Mosaffa) kehrt nach vierjähriger Abwesenheit aus dem Iran nach Paris zurück, weil Noch-Ehefrau Marie (Bejo) die Scheidung auch juristisch vollziehen will. Inzwischen ist die Apothekerin mit Putzereibesitzer Samir (Tahar Rahim) liiert, dessen Frau nach einem Suizidversuch im Koma liegt.

Maries 16-jährige Tochter Lucie findet sich mit der neuen Liaison nicht ab, während ihre achtjährige (Stief-)Schwester Léa mit Samirs fünfjährigem Sohn Fouad gut auskommt. Ahmad wird von Marie in ihrem einst gemeinsamen Haus in einem Pariser Vorort einquartiert, und Samir lebt mittlerweile hier - alles wirklich gute Voraussetzungen, dass es bald Brösel geben wird.

In dem Maß, wie Ahmad Lucies Ablehnung von Samir entwirrt, beginnen geradezu kunstvolle Verästelungen der Handlung, die im Gegensatz zum scheinbar kleinstbürgerlichen Setting im migrantischen Pariser Banlieue-Milieu sich zu großen Dramen entwickeln.

Farhadi scheint mit seinem Publikum zu spielen, er lässt es jedenfalls kaum zu Atem kommen, denn sobald der Film einem Erzählfaden folgt, spinnt er schon einen anderen, mitunter völlig konträren. Sobald sich eine Entwirrung der Fakten und der Gefühlslage abzeichnet, sobald der Zuschauer meint, die Wahrheit zu kennen, entpuppen sich diese allsogleich als obsolet. Nicht nur die Figuren des vielgestaltigen Dramas sind mitgenommen, auch dem Rezipienten wird die Achterbahn von Gefühlen und Einsichten nicht erspart.

Man ist versucht, dies mit der Achterbahn, die das Leben an sich darstellt, zu rechtfertigen. Aber es greift zu kurz, jede dieser bis an die Grenze der Erträglichkeit ausgekosteten Wendungen der Handlung damit zu legitimieren. Nein, die dramaturgische Unstetigkeit ist das filmische Programm, das - zugegebenermaßen - äußerst bestechend daherkommt und völlig plausibel ist: Dabei spricht schon der Titel aus, worauf es Fashgari, dem Erzähler, ankommt: Das Vergangene bestimmt die Gegenwart, alles, was war, wird vom Heute nicht verziehen.

Jeder und jede der Protagonisten, und seien es die jüngsten, sind in beinah alles verstrickt. Und nicht einmal am Ende des Films ist der Betrachter wirklich so klug, wie er/sie es gerne wäre.

Mehr als Silberne Palme verdient

Das alles geht auch deswegen auf, weil Ashgar Farhadi einen perfektionistischen Regiestil pflegt, der nichts dem Zufall überlässt. Allein diese, auch handwerkliche Vollkommenheit hätte sich mehr Anerkennung als die Cannes-Palme für die Bejo verdient. Das gilt in gleichem Maß für das Spiel respektive die Führung aller Schauspieler -auch der beiden Kinder darunter.

Tahar Rahim, der Darsteller des Samir, ist dem cineastischen Publikum seit seiner Hauptrolle in Jacques Audiards "Ein Prophet" (2009) längst ein Begriff. Seine Performance in "Le Passé" steht jener um nichts nach. Auch Ali Mosaffa als Ahmad trägt zu einer bestechenden Ensembleleistung bei, die ihresgleichen suchen dürfte.

Und so klein, wie die große Welt hier gezeigt wird, sind die Fragen, die dahinter stehen, beileibe nicht. Man mag ja seit Ingmar Bergman wissen, wieviel existenziell Schwergewichtiges sich über Beziehungsdramen manifestiert. Aber auch das ist in die aktuelle Zeit je neu zu buchstabieren. "Le passé" leistet hier seinen originären Beitrag.

Vor allem die Auseinandersetzung mit Schuld beziehungsweise die behauptete Verzahnung von Schuld in dieses Protagonistenund Beziehungsgeflecht hinein gelingt Farhadi in diesem Film auf außergewöhnliche Weise. Vom antiken Schriftsteller Aulus Gellius ist die Erkenntnis überliefert, dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei. Ashgar Farhadi macht seinem Publikum in "Le Passé - Das Vergangene" weis, dass dies gleichermaßen für die Schuld gilt.

Le Passé - Das Vergangene

F/I 2013. Regie: Ashgar Farhadi. Mit Bérénice Bejo, Tahar Rahim, Ali Mosaffa. Thimfilm. 130 Min.

Die Kritik zu "Blick in den Abgrund" fand sich bereits in FURCHE 4/2014.

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