DEN STRESS ins Leere laufen lassen

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Positive Emotionen sind essenziell für unsere Gesundheit und Widerstandskraft: Rick Hanson und Christopher Germer über neue Wege alter Geistesschulung.

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Positive Emotionen sind essenziell für unsere Gesundheit und Widerstandskraft: Rick Hanson und Christopher Germer über neue Wege alter Geistesschulung.

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Rick Hanson und Christopher Germer touren mit ihren Vorträgen und Seminaren um die Welt: Sie zählen zu den Vordenkern eines Forschungsfelds, das darauf abzielt, mentale Trainings für die stressgeplagten Menschen der modernen Welt zu entwickeln. Germer hat ein Programm für Selbstmitgefühl mitbegründet, um schwierigen Situationen besser begegnen zu können. Hanson vermittelt Übungen, wie positive Erlebnisse verstärkt und verinnerlicht werden können. Die FURCHE traf die beiden US-amerikanischen Psychologen zum Doppel-Interview in Graz.

DIE FURCHE: Wie sind Sie eigentlich zur Entwicklung Ihrer Ansätze gekommen -gibt es da aufschlussreiche persönliche Geschichten?

Rick Hanson: Meine Eltern waren liebevoll, aber sie konnten mir als Kind nur wenig Einfühlungsvermögen entgegen bringen. Etwas Wichtiges fehlte. Und in der Schule war ich ein Außenseiter. Ich litt unter Einsamkeit und vermisste das Gefühl der Wertschätzung. Aber als ich auf das College kam, entdeckte ich etwas wirklich Erstaunliches: Wenn ich auf die kleinen positiven Dinge des Alltags besonders achtete, etwa ein freundliches Lächeln von anderen Menschen, und wenn ich kurz bei dieser Erfahrung blieb, hatte ich das Gefühl, dass sie in mich einsickerte. Das war eine erste Ahnung davon, wie sich unser Nervensystem über das Verinnerlichen von positiver Erfahrung verändern kann. Als Psychologe begann ich dann das Gehirn zu erforschen und lernte mehr über diese positive Neuroplastizität, also die Beeinflussbarkeit unserer Nervenstrukturen - und wie wir uns Alltagserfahrungen durch achtsame Zuwendung zunutze machen können.

Christopher Germer: Ich habe seit den 1970er-Jahren Achtsamkeitsmeditation praktiziert, stieß aber bald auf Limitationen dieses mentalen Trainings. Denn obwohl ich Doktor der Psychologie wurde, litt ich weiterhin unter der massiven Angst, vor einem größeren Publikum zu sprechen. Meine jahrzehntelange Achtsamkeitspraxis half mir dabei nicht. Einmal riet mir ein Lehrer, einfach nur nett zu mir zu sein, wenn ich wieder ängstlich werde. Ich bemerkte einen positiven Effekt. Also praktizierte ich regelmäßig diese liebevolle Selbst-Zuwendung. Nach Monaten kam dann mein Auftritt bei einem großen Kongress der Harvard-Universität. Als ich aufstand, um zum Rednerpult zu gehen, merkte ich, wie der Terror über mich kam. Aber zugleich war eine neue Stimme in meinem Kopf. Und die sagte nur: "Oh Chris, mögest du sicher sein, friedlich und glücklich!" Und dann schaute ich ins Publikum, und wünschte all den Besuchern dasselbe. Die Angst verschwand aus meinem Körper. All die Jahre hatte ich versucht, offen gegenüber der Angst zu sein, aber das hatte nicht funktioniert. Weil an der Wurzel der Angst war Scham: das Gefühl, dass etwas grundsätzlich nicht in Ordnung war. Selbstmitgefühl ist das Gegengift zur Scham. Es ist ein Weg, uns selbst in unseren dunkelsten Momenten zu halten.

DIE FURCHE: Selbstmitgefühl ist ein neues Konzept für Therapie und Beratung: Wie sehen Sie die aktuelle Forschungslage?

Germer: Wir erleben derzeit einen rasanten Anstieg des wissenschaftlichen Interesses. Ein Kollege sagte mir unlängst, dass diese Forschung allmählich langweilig wird, denn man sieht einen positiven Zusammenhang mit fast jedem Parameter des menschlichen Wohlbefindens: Glück, Gesundheit, Lebens-und Beziehungszufriedenheit, aber auch weniger Nikotin-und Alkoholkonsum, weniger Sucht, Angst und Depression. Aktuelle Studien sollen nun zeigen, wie sich das Gehirn verändert, wenn man ein Training des Selbstmitgefühls absolviert.

DIE FURCHE: Erschöpfung und Burn-out sind prägende Begriffe für unsere Gesellschaft geworden. Wie kann man mit dem oft hohen Stress-Level gut zurande kommen? Germer: Durch Achtsamkeitspraxis lernen wir, in einer gelasseneren Weise mit Stress zu sein - so, dass wir ihm keinen Extra-Stress mehr hinzufügen. Wenn man in der Früh spät dran ist, kann man die nächste halbe Stunde damit verbringen, sich zu sorgen, ob man es noch rechtzeitig schafft. Oder man kann trotzdem noch das Frühstück genießen. Mitgefühl wiederum hilft, unsere Erfahrung gefühlsmäßig "anzuwärmen": Wenn etwas Schwieriges passiert und jemand hört dir liebevoll zu, fühlt sich die Situation gleich viel besser an, auch wenn sie sich letztlich nicht verändert. Mit Selbstmitgefühl lernt man, sein eigener bester Freund zu sein, statt ständig mit sich zu hadern. Man lernt, so mit sich umzugehen, wie man sich um eine geliebte Person kümmert. Es gibt einen ersten Pfeil, das unvermeidliche Ungemach im Leben, dem wir ausgesetzt sind. Und es gibt meist einen zweiten Pfeil - das ist die Art, wie wir uns damit herumschlagen und das Leben noch komplizierter machen. Achtsamkeit und Mitgefühl schützen uns davor, uns selbst mit dem zweiten Pfeil zu beschießen.

DIE FURCHE: Das klingt vielleicht ein bisschen abstrakt -wie fühlt sich das an?

Germer: Ein tatsächlicher Moment der Achtsamkeit fühlt sich so an: lautes Seufzen der Erleichterung. Und ein tatsächlicher Moment des Selbstmitgefühls fühlt sich genauso an -oder auch ein bisschen zärtlicher: sanftes Seufzen der Erleichterung. Alles andere wäre Anstrengung oder Kampf.

DIE FURCHE: Wie gelingt es, aus schönen Erfahrungen dauerhaft stabile Faktoren für psychisches Wohlbefinden zu machen?

Hanson: Neuroplastizität umfasst zwar auch unbewusste Prozesse, die Veränderungen im Gehirn gelingen jedoch eher bei Bewusstheit und am besten bei gezielter Aufmerksamkeit. Resilienz, Glück und Wohlbefinden sind Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit. Dass positive Emotionen nicht trivial sind, ist aber so leicht zu übersehen. Tatsächlich sind sie die Grundlage für Erfolg und für das liebevolle Sorgen um andere Menschen. Je schwieriger die Lebenserfahrung, umso wichtiger ist es, gute Erfahrungen zu verinnerlichen und von innen heraus Stärken aufzubauen. Die wissenschaftliche Evidenz zum Nutzen hinsichtlich Gesundheit und Stressbewältigung ist eindrucksvoll. Wenn die Pharma-Industrie die geistigen Praktiken zur Kultivierung positiver Zustände patentieren könnte, würde sie diese wohl massiv als medizinische Therapien bewerben.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie die Entwicklung der Positiven Psychologie, die ihr Forschungsinteresse nicht mehr an den Defiziten, sondern an den menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten orientiert?

Hanson: Historisch gesehen ist das ein natürlicher Prozess. Wenn man das Spektrum der menschlichen Erfahrung betrachtet -von "schrecklich" bis "wunderbar" -, dann konzentriert man sich zunächst auf die negativen Bereiche, um menschliches Leiden zu lindern. Mit der Zeit aber beginnt man sich auch für die positiven Gefilde zu interessieren. Die Menschen im Westen haben einen relativ großen materiellen Wohlstand erreicht, aber trotzdem sind sie oft nicht glücklich. Dann erst beginnt man nach den psychischen Bedingungen für Glück zu fragen. Positive Geistesqualitäten sind für die Forschung erst in den letzten 20 Jahren relevant geworden.

Germer: Und das ist ein weltweiter Trend. Ich habe in Korea und China unterrichtet, wo es durch das Wirtschaftswachstum zu einem materiellen Boom gekommen ist. Zugleich aber gibt es ein stark gestiegenes Stress-Niveau und hohe Jugend-Suizidraten. Die inneren Praktiken für Wohlbefinden wurden bislang übersehen.

DIE FURCHE: In China könnte man doch anknüpfen an Jahrtausende-alte Weisheitstraditionen wie Konfuzianismus, Taoismus oder Chan-Buddhismus ...

Germer: Diese wurden aber mit der Kulturrevolution jäh unterbrochen. Heute werden essenzielle Aspekte in säkularer wissenschaftlicher Form zurückgebracht. Der Hunger nach innerem Frieden ist heute eher noch größer geworden. Das hängt wohl damit zusammen, dass wir so mobil und so übersättigt mit Informationen sind. Es gibt oft einen Zerfall von Traditionen, die uns von innen stützen, sowie von sozialen Netzwerken wie der Familie oder Dorfgemeinschaft. Genau hier können die neuen Wissenschafts-basierten Praktiken ansetzen. Was wir da im säkularen Kontext lernen, erscheint mir überall auf der Welt im gleichen Maße anwendbar.

DIE FURCHE: Viele dieser Übungen haben ihre Wurzeln in der buddhistischen Psychologie: Achtsamkeit (Pali: Sati), liebende Güte (Metta) oder Mitgefühl (Karuna). Gibt es auch kontemplative Elemente aus dem Christentum, die für die Forschung interessant erscheinen?

Germer: Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl und Achtsamkeit sind in allen Religionen transformative Kräfte. Ich würde gerne mehr Forschung über traditionelle religiöse Praktiken sehen, etwa wie religiöse Hingabe unser Gehirn verändert. Derzeit widmet sich die Wissenschaft fast nur säkularen Formen, die kein Glaubensbekenntnis erfordern.

Hanson: Das Interesse an anderen kontemplativen Formen setzt gerade ein. Ich erwarte mir da ebenso positive Effekte auf die Gesundheit und das Wohlbefinden.

DIE FURCHE: Herr Hanson, mit Ihrem Newsletter "Just one thing" erinnern Sie Ihre Abonnenten daran, sich im Alltag etwas Gutes zu tun. Was würden Sie unseren Lesern für diese Woche empfehlen?

Hanson: Es ist hilfreich, sich die Aufgaben möglichst einfach zu machen -sich im Tagesablauf immer wieder auf nur ein Ding zu besinnen. Zum Beispiel: "Sieh deine Mängel, und schau wieder nach vorne!" Das hat mir in meiner Ehe sehr geholfen (lacht). Das Motto dieser Woche lautet: "Gönne deinem müden Kopf eine Rast!" Grübeln wird irgendwann ermüdend. Wirkliche Veränderungen in unserem Leben funktionieren nur über den Umbau des Nervensystems, und diese biologischen Veränderungen passieren nicht über Nacht. Viele Menschen sehen ein, dass sie Engagement aufbringen müssen, um sich im Tennis zu verbessern. Aber die meisten glauben, dass Liebe und Glück einfach so zu haben sind. Wir müssen uns dafür engagieren, aber es ist nicht aufwändig. Der Alltag ist voller Möglichkeiten, uns und anderen Gutes zu tun. Viele kleine Momente können etwas wirklich Großes entstehen lassen. Wenn die Menschen das realisieren -gerade heute, wo man sich durch komplexe Kräfte in Wirtschaft und Politik so herumgestoßen fühlt -, kann das ganz wunderbar sein.

DIE GESPRÄCHSPARTNER DIE GESPRÄCHSPARTNER

Christopher Germer

Der klinische Psychologe hat sich auf Achtsamkeits-und Akzeptanz-basierte Psychotherapie spezialisiert. Er arbeitet in privater Praxis in Arlington, Massachusetts, und als Lehrbeauftragter an der renommierten "Harvard Medical School" in Boston. Nach seinem Studienabschluss forschte er an der Universität Tübingen zur Schizophrenie und betreute eine Feldstudie zur psychischen Gesundheit in Indien. Er ist Gründungsmitglied des Instituts für Meditation und Psychotherapie, das sich der Integration alter buddhistischer Psychologie in moderne Therapiemethoden widmet.

Rick Hanson

Der Neuropsychologe ist Gründungsmitglied des "Wellspring Institute for Neuroscience and Contemplative Wisdom" sowie Vorstandsmitglied im "Greater Good Science Center" an der Universität Berkeley in Kalifornien. Hanson wurde vor allem durch seine Arbeiten zur Neuroplastizität und der heilsamen Einflussnahme auf unser Nervensystem bekannt. Der Bestseller-Autor veröffentlichte unter anderem die Bücher "Denken wie ein Buddha"(2013) und "Das Gehirn eines Buddha"(2010). Sein wöchentlicher Newsletter "Just One Thing" hat weltweit mehr als 100.000 Abonnenten.

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