Gerechtigkeit gegen sich selbst

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Vor ein paar Tagen zeigte mir mein Sohn einen Videoausschnitt von einem Fußballer, der sich im Spiel geweigert hat, einen Elfmeter anzuerkennen, den der Schiedsrichter seiner Mannschaft fälschlicherweise gegeben hat. Grund dafür war eben, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hat. Der Schiedsrichter hat den Elfer zu Unrecht gepfiffen. Die Kommentare unter dem Film reichten von Schmähungen gegen den "vermeintlich naiven" Spieler bis zum Erstaunen über sein ehrliches Verhalten. Egal in welche Richtung sie gehen, die Kommentare zeugen davon, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, auch dann ehrlich zu bleiben, wenn es nicht zum eigenen Vorteil ist.

Der Islam sieht diese aufrichtige Haltung als religiöse Tugend, die vieles über die Religiosität der betroffenen Person oder Gruppe sagt, denn der Mensch bewegt sich ständig im Antlitz Gottes: "Ihr, die ihr glaubt! Steht ein für die Gerechtigkeit als Zeugen gegenüber Gott, sei es auch gegen euch selbst oder gegen Eltern und Verwandte! Ob einer reich ist oder arm: Gott ist beiden nahe. Folgt nicht einer Neigung, statt gerecht zu sein! Und wenn ihr verdreht oder euch abwendet, so ist Gott über das, was ihr tut, sehr wohl unterrichtet." (Koran, 4:135)

Wenn solche Tugenden Ausdruck von Religiosität sind, dann will Religion uns im Alltag, in unserer laufenden Interaktion, bereichern. Und das gelebte Leben ist demnach die Bühne, auf der sich Religiosität entfaltet. Nur lässt sich fragen, warum sich religiöse Menschen nicht gerade im Einhalten solcher Tugenden von weniger religiösen Menschen abheben. Solche Tugenden scheinen längst nicht mehr im Zentrum religiöser Erziehung und religiösen Bewusstseins zu stehen. Aber wenn nicht gerade das Hervorheben des Schönen, des Göttlichen im Menschen im Blick von Religionen steht, wozu dann überhaupt noch Religion?

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster

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