Schwimmer gegen den Strom

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Edgar Allan Poe war mehr als der Autor von meisterhaften Horrorgeschichten.

"Jähzornig, neidisch, von einem kalten, abstoßenden Zynismus überzogen, machte sich seine Leidenschaft Luft in Hohn und Verachtung … Er hatte, in morbidem Überfluss, jenes Verlangen nach Aufstieg, das vulgär als Ehrgeiz bezeichnet wird …" Dieses Zitat aus dem Nachruf auf den plötzlichen Tod des 40-jährigen amerikanischen Autors E. A. Poe im Jahr 1849, geschrieben von jenem Mann, den Poe selbst zu seinem literarischen Nachlassverwalter ernannt hatte, ist bis heute unfasslich.

Erklärt die kalte Häme des Konkurrenten Rufus Griswold den Umstand, dass Poe in den USA noch heute nur widerwillig und zähneknirschend als Klassiker anerkannt wird? In Europa jedenfalls fand er uneingeschränkte Anerkennung zuerst in Frankreich durch die glühende Bewunderung des Dichters Charles Baudelaire. Auf Deutsch ist sein Werk so vollständig zugänglich wie das keines anderen amerikanischen Autors. Die britische Aufnahme war zwiespältig, denn Poe fehlten zwei Tugenden, die die englische Kultur im 19. Jahrhundert als nationaltypische Ideale pflegte: Selbstironie und Understatement.

Neue Biographie

Was hat den Anglisten Hans-Dieter Gelfert dazu animiert, fünf deutschen Biographien aus den letzten 20 Jahren anlässlich des 200. Geburtstages von E. A. Poe am 19. Januar 2009 eine neue hinzuzufügen?

Gelfert verfolgt zwei Ziele: Erstens will der ausgezeichnete Kenner der amerikanischen und britischen Literatur zeigen, dass das Bild Poes als Autor von Horrorgeschichten zu einseitig ist. Zweitens will er nicht allein den verheerenden Nachruf des Nachlassverwalters als Grund für die Skepsis amerikanischer Leser gegenüber Poe akzeptieren.

In einer Woge von Moralismus und evangelikaler Frömmigkeit, wie sie die USA um 1830 erfasste, hatte ein Dichter wie Poe, der immer wieder in Alkoholexzesse abstürzte, die Demokratie als Herrschaft des Mob ablehnte, als Südstaatler nichts gegen die Sklaverei hatte und einen unbiblischen Pantheismus vertrat, keine Chance auf einmütige Anerkennung.

Erste Detektivgeschichte

Als Erzähler ist er der meistgelesene amerikanische Klassiker, aber auch der unamerikanischste. Läse jemand, der den Namen Poe noch nie gehört hätte, seine Werke, er könnte den Autor nicht einer bestimmten Nation zuordnen, denn die Schauplätze seiner Geschichten sind Paris, England, Spanien und geographisch unbestimmte Orte. Nichts erfährt man bei ihm über Indianer, über den Drang seiner Landsleute nach Westen, den Goldrausch von 1849. Puritanismus und Aufklärung ließen ihn kalt.

Poe gilt mit "The Murders in the Rue Morgue" als Erfinder der Detektivgeschichte. Seit Poe basieren Detektivgeschichten auf dem Prinzip der "ratiocination", der rationalen, logisch-analytischen Aufklärung eines Geheimnisses. Als erster definierte er klar eine Theorie der Kurzgeschichte; er wurde zum Großmeister des Horrors. Seine Ästhetik lässt sich als "l'art pour l'art" beschreiben: Sehnsucht nach dem Schönen.

50 Gedichte hat Poe hinterlassen, von denen einige wie "Der Rabe" heute wie Mythen zitiert werden. Als er gefragt wurde, warum er seine Gedichte nicht so schreibe, dass jeder sie verstehen könne, antwortete er: "Ich schreibe sie so, damit jeder sie nicht verstehen kann." Hier spricht der Ahnherr der modernen Lyrik.

Poe verschwendete einen Großteil seiner intellektuellen Kraft in langen (30 und mehr Seiten), streitbaren Rezensionen von Werken mittelmäßiger Autoren, weil er Geld brauchte - und auch aus einem Gefühl der Macht. Sein letztes großes Werk "Eureka, a Prose Poem", widmete er Alexander von Humboldt. Es ist der Versuch einer Theorie der Entstehung des Kosmos, die modern anmutet, entspricht sie doch in ihren Grundzügen der Urknall-Theorie.

Poe verschwindet als Person hinter seinem Werk. Die neue Biographie zeigt jedoch überzeugend, wie viele von Poes obsessiv wiederkehrenden Themen in seinem Leben wurzeln. Seine Eltern waren Schauspieler. Der Vater verließ früh die Familie. Die Mutter starb, als Edgar drei Jahre alt war. Später schrieb Poe, der Tod einer schönen Frau sei "unzweifelhaft der poetischste Gegenstand auf der Welt". Das kinderlose Ehepaar Allan nimmt ihn als Pflegekind auf, der Pflegevater John Allan wird durch eine Erbschaft immens reich, Edgars Verhältnis zu ihm ist schlecht, er geht leer aus.

Illegale Nachdrucke

Er schließt sein Studium an der neu gegründeten Universität von Virginia in Charlottesville nicht ab, ebenso wenig die Ausbildung an der Militärakademie. 1836 heiratet er seine 13-jährige Cousine, die mit 25 an Schwindsucht stirbt. Danach macht Poe vier Frauen Heiratsanträge, vergebens. Nie erlangt er materielle Sicherheit: Seine Geschichte "The Gold-Bug" wird 300.000 Mal illegal nachgedruckt, denn in den USA gab es in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts noch kein funktionierendes Urheberrecht. Er kämpft ums nackte Überleben. Sein letzter Trink-Exzess mündet in Wahnvorstellungen; Poe verfällt in ein heftiges Delirium und stirbt 1849.

Poe war selbstbewusst und wortmächtig, doch blieb er gesellschaftlich ein underdog (ein armer Teufel). Macht- und Ohnmachtsphantasien sind sein obsessives Thema. Seine Werke haben keine ethische Dimension, sie spielen jenseits von Gut und Böse. Seine Lyrik, die er wie kein anderer amerikanischer Dichter mit Reflexionen begleitete, ist dem Geist der Romantik verpflichtet; über seine Zeit hinaus ragen einige seiner Kurzgeschichten: "Ligeia", "The Fall of the House of Usher", "The Pit and the Pendulum", "The Masque of the Red Death", "The Purloined Letter", "William Wilson" gehören zur Weltliteratur: Ihrer hypnotischen Wirkung, ihrer musikalischen Sprache, ihren Abgründen kann sich auch der heutige abgebrühte Leser nicht entziehen.

Ausloten von Grenzen

Die Modernität Poes liegt im Ausloten von Grenzen. Während seine Landsleute an der Frontier kämpften, gegen Indianer, gegen Hunger und Durst, setzte er sich mit einer anderen Grenze auseinander, die er früh in seinem Leben kennen lernte durch den Tod der Mutter: Jener, die das Leben vom Tod, das Diesseits vom Jenseits, das Rationale vom Irrationalen trennt. Zwei weitere Grenzen erforschte er: die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn, und die physisch-reale zwischen dem Bekannten und dem Unerforschten (in seiner längsten Erzählung, "The Narrative of Arthur Gordon Pym").

Selbst in seinen Kriminalgeschichten entdeckt sein Amateurdetektiv Dupin, dass man, um über den logisch-analytischen Verstand zu triumphieren, in die Sphäre der intuitiven Imagination hinüberwechseln müsse.

Sein ganzes kurzes Leben lang war E. A. Poe stolz auf seine jugendlichen Leistungen als Schwimmer, besonders gegen den Strom.

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