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Es ist das große Verdienst der „österreichischen Furche", daß sie nach Europa hin weit die Fenster und Türen öffnet, urn mit dem europäischen Nachbar ins Gespräch zu kommen, um zu wissen, was dieser Nachbar von Österreich denkt und was er von Österreich erwartet. Umgekehrt darf dieses Österreich aber auch sagen, was es selber von seinem europäischen Nachbarn erwartet. Dieses Frage- und Antwortspiel steht, soweit es außerhalb der „Furche"-Gespräche vor sich geht, fürs erste nicht im Zeichen einer Diskussion unter Christen, sondern nur imi Zeichen allgemein europäischer Gespräche. Man fragt nicht nach der christlichen Haltung, sondern nach der europäischen Haltung. Man fragt nicht nach der Hąltung des österreichischen Christen, sohdern nur nach der Haltung des christlichen Österreichers. Man betrachtet Österreich nicht als einen christlichen Vorposten im östlichsten Teil unseres Rumpfeuropa; man betrachtet ihn nur als einen politischen Vorposten zur Sicherung der demokratischen Grundrechte im heutigen Westeuropa. Uber die geistigen Voraussetzungen dieser Vorpostenposition macht man sich herzlich wenig Gedanken. Das europäische Gewissen der Österreicher ist für diese Kreise wichtiger als das christliche Gewissen. Diese Kreise sehen verhängnisvoll über die immense Gefahr einer Spaltung und Trennung des europäischen Gedankens vom christlichen Gedanken hinweg. Denn Europa wird christlich sein, oder es wird nicht mehr sein. Die christliche Substanz ist so sehr ein Wesenselement der europäischen Einheit, daß beim Verlust dieser Substanz diese Einheit als geistige Einheit verlorengeht. Europa ist nur geistig ein Kontinent, nur geistig eine Einheit, ohne diese geistige Einheit ist es nur eine asiatische Halbinsel. Soweit Europa heute noch, trotz der ungeheuren Zerrissenheit, mehr ist als ein bloßer geographischer Begriff, mehr als ein bloßes Anhängsel des asiatischen Kolossei, mehr als eine bloße historische Erinnerung, verdankt es diese Kultur- gejneinschaft der christlichen Substanz. Diese Substanz ist weitgehend am Verse!) winden. Vorhanden ist nur noch das kulturelle Substrat in Form säkularisierter christlicher Anschauungen, namentlich in Form eines säkularisierten Humanismus. Dieser Humanismus besitzt freilich noch eine große Anziehungskraft und eine große Formkraft für den Zusammenhalt der westeuropäischen Völkergemeinschaft. In ihm sind noch gewaltige christliche Traditionswerte lebendig, und die besten Vertreter dieses Humanismus sind oder waren noch Produkte der religiösen Überlieferung.

Es sei erlaubt, in dieser Beziehung auf ein ausgesprochen schweizerisches Beispiel eines säkularisierten Humanismus hihzuweisen, auf eine Persönlichkeit, die in der schweizerischen Kulturgeschichte und in der Geschichte des Humanismus überhaupt hoch in Ehren steht, hoch in Ehlren auch bei den Vertretern des christlichen Humanismus, auf den Basler Jakob Burckhardt. Burckhardt hat für sich die Substanz des Christentums verneint und nur ihr kulturelles Substrat behalten. Das mag zur Rettung des eigenen Menschen, zur Rettung des Humanismus in der eigenen Lebensführung im Einzelfall genügen, niemals aber zur Rettung des

Humanismus in der Gesellschaft. Es ist ein Grundirrtum zu glauben, daß die kulturellen und sozialen Werte des Christentums auch ohne das Christentum weiterleben können.

Walter Rehm spricht einmal in seiner schönen Burckhardt-Biographie bei der Nebeneinandernennung von Johannes Müller, Ranke und Burckhardt sehr treffend von einer generationsmäßig fortschreitenden Säkularisierung religiöser Bewußtseinsinhalte. Dieser fortschreitende Säkularisierungsprozeß und der damit verbundene Kulturzerfall kann auch durch eine noch so edle persönliche Haltung, wie sie in Burckhardt zum Ausdruck kam, nicht aufgehalten werden. Es wäre eine gefährliche Illusion, zu glauben, daß mit einer bloßen Rückbesinnung auf diesen Burckhardtschen Humanismus schon der Weg zur Rehumanisierung der Gesellschaft gewiesen wäre. Das hat Burckhardt selber geahnt, als er öfter vom heraufziehenden Barbarenzeitalter sprach und von einer Art kultureller Schnellfäule, die plötzlich über Nacht hereinbrechen könne. Diese über Nacht hereingebrochene Schnellfäule haben wir im Nationalsozialismus und Kommunismus selber erfahren.

Aber man hüte sich vor einem Pharisäismus. Der „gründlich geborene Heide", als den sich Burckhardt einmal bezeichnete, hat trotz der glaubensmäßigen Verneinung des Christentums mehr christliche Substanz in Form der christlichen Ethik in sich getragen, als viele Plakatchristen, und so hat Burckhardt am Religionsproblem und am Problem des Christentums mehr gelitten und um dieses Problem mehr gerungen als viele selbstsichere Christen, und er hat vor der Religion und vor dem glaubensmäßigen Bekenntnis des Christentums mehr Respekt gehabt als viele, die sich ihres christlichen Besitzes rühmen. „Wir blinden Heiden", sagte er einmal, „sehen besser, wie hoch das Münster ist, als die, die drinnen sind.“ Goethe hatte sich einmal ähnlich dem Kanzler von Müller gegenüber geäußert. Man kann wohl das Ergebnis der Lebensarbeit Burckhardts in Rücksicht auf das religiöse Problem in das Bekenntnis des

nämlichen Goethe zusammenfassen: „Mag die geistige Kultur nur immer fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will — über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird es nie hinauskommen.“

In gleichem Sinn faßte neuestens einer der bedeutendsten Kulturhistoriker unserer Tage, der englische, nichtkatholische Geschichtsschreiber Arnold T o y n-

b e e in seinem Buch „Die Kultur am Scheidewege" das Ergebnis seiner Erkenntnisse in die Feststellung zusammen, daß alle Kultur religiöse Kultur sein müsse, und daß mit dem Christentum als der vollkommensten Form der abendländischen Religion die europäische Kultur stehe und falle. Auch auf sozialem Gebiet sieht er eine Rettung nur von der Religion her, weil der soziale Fortschritt nur Hand in Hand mit dem seelischen Fortschritt möglich ist, der wiederum eine Frage der religiösen Flaltung ist. „Gott suchen, ist an sich eine soziale Tat", sagt Toynbee.

Man kann die gewaltigen Anstrengungen, welche die modernen Sozialreformer auf liberaler und sozialistischer Seite unternommen haben, um eine allgemeine Besserung der Lage der Menschheit herbeizuführen, durchaus anerkennen. Aber das Fazit dieser Anstrengungen ist betrübend: ein erschreckendes Fiasko all dieser Ansrengungen, eine vollkommene Entillusionierung des Gedankens vom ewigen Fortschritt. Die materielle Lage der Arbeiterschaft hat sich seit 100 Jahren bedeutend gebessert. Trotzdem herrscht aber eine größere Unzufriedenheit als je zuvor, weil man die Seele vergessen hat. Im säkularisierten Humanismus liegt der Grund der ganzen Brüchigkeit der Betonung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit. Das christliche Ziel ist da, aber es fehlt die christliche Voraussetzung. Abgeschnitten von den Wurzeln, die die Blüte der menschlichen Würde und Freiheit voraussetzen, enden auch die edelsten und selbstlosesten Bemühungen im Nichts. Dieser Grundirrtum ist für fast alle Katastrophen, die über uns herein

gebrochen sind, verantwortlich. Utilisie- rung des Christentums zugunsten des kulturellen und sozialen Fortschritts ist sicherlich notwendig, aber ohne Christentum gibt es auch keine Utilisierung des Christentums. Es ist eine Illusion, zu glauben, daß sich die soziale Substanz des Christentums ohne das Christentum selber erhalten könne.

Wenn nun gefragt wird, was der europäische Nachbar vom österreichi-

sehen Christen erwartet, dann möge die Frage etwas enger gefaßt werden: Was erwartet der europäische christliche Nachbar vom österreichischen Christen? Nichts weniger und nichts mehr als die Sicherung, Erhaltung und Wiederbelebung des Bewußtseins von der Notwendigkeit der religiösen Substanz des Christentums im kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben. Das ist ja auch ein innerösterreichisches Problem Nur ein christliches Österreich wird auch ein europäischer Vorposten gegenüber dem Osten sein, während umgekehrt ein nichtchristliches Österreich nur ein Vorposten des Ostens gegen den Westen sein wird, über die innerösterreichische Gestaltung des christlichen Lebens, seine Verbindung mit Politik und Kultur erlauben wir uns kein Urteil. Diese Verbindung hängt von so vielen geschichtlichen, völkischen, psychologischen, soziologischen Faktoren ab, daß nur auf Grund einer genauen Kenntnis dieser Faktoren über diese Verbindung Gültiges gesagt werden kann. Diese Verbindung hat in einem mehrheitlich historisch-katholischen Lande wie Österreich andere Formen anzunehmen, als in einem seit Jahrhunderten konfessionell aufgespaltenen Lande, wie Deutschland und die Schweiz.

Aber in Wien steht der Stephans- d o m, der in seiner Herrlichkeit wieder errichtet ist. Dieser Stephansdom grüßt den Kölner Dom und die Kathedrale von Reims. Es sind drei Wahrzeichen abendländischer Christenheit. Aber die gotische Kathedrale ist nicht der allgemeingültige Ausdruck des Christentums. Der Petersdom und die Westminsterkathe- drale sind ebenso gültige Ausdrucksformen des christlichen Abendlandes. Alle diese Gotteshäuser sind Offenbarungen der kulturellen Wandlungsmöglichkeiten des Christentums im Bereich des historischen Prozesses. Aber der Geist der Dome und Kathedralen, mögen sie in der Zeit der Gotik, der Renaissance oder des Barock errichtet worden sein, ist der nämliche, und die Versündigung an diesem Geiste rächt sich in jeder geschichtlichen Epoche auch in gleicher Weise. „Ich nehme keinen Anstoß an der Beschießung von Kirchen im Kriege“, sagte einmal Theodor H a e k- k e r, „aber ich bin für die Vernichtung der Parasiten, die an dem Geiste zehren, aus dem einst eine Kathedrale von Reims geschaffen wurde." Nicht daß der Stephansdom während des letzten Krieges bombardiert wurde, war das große Unglück, sondern die Tatsache, daß der säkularisierte Humanismus, die säkularisierte Kultur die Voraussetzungen für dieses Zerstörungswerk schufen. Wien, Österreich und die christliche Kulturwelt haben diesen Dom wieder aufgebaut, als Zeichen der Einheit des Abendlandes.

Ein „gutmütiger religiöser Fanatiker"

Konfidentenbericht aus dem Jahre 1815, in dem Clemens Maria Hofbauer als ein „gutmütiger religiöser Fanatiker" bezeichnet wird

Die Kruppwerke in Essen konnten niemals als ein Zeichen der Einheit des Abendlandes aufgefaßt und erfühlt werden. Deshalb konnte man bei ihrer Beschießung auch niemals das empfinden, was die Seele bewegte, als der Kölner Dom und der Stephansdom von der Vernichtung bedroht wurden.

So erwarten wir auch vom österreichischen Christen vor allem die Wahrung des Geistes, wie er sich in seinem Stephansdom ausdrückt. Alle diese Dome tragen einen ausgeprägten Persönlichkeitscharakter. Wohl sind sie das Ergebnis einer staunenswerten Gemeinschaftsarbeit, aber keiner kollektivistischen Gesellschaft. Eine kollektivistische Gesellschaft bringt mächtige Kasernen, mächtige Verwaltungsgebäude hervor, aber keine Dome. Voll Bewunderung meinte einmal Heinrich Heine vor dem Dom zu Antwerpen: Als man diesen Dom baute, galten noch Grundsätze, heute gelten nur noch Meinungen, und mit Meinungen baut man keine Dome! Grundsätze sind hur in starken Persönlichkeiten verankert, christliche Grundsätze nur in starken christlichen Persönlichkeiten. Hauptaufgabe jeglicher christlicher Kulturarbeit ist im heutigen Chaos die Sicherung der Persönlichkeit gegenüber allen kollektivistischen Bestrebungen, sei es auf politischem oder wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet. Es ist bewundernswürdig, wie der österreichische Christ gegenüber dem kollektivistischen Ansturm seinen Persönlichkeitscharakter zu wahren sucht. Er wirkt in dieser Beziehung beispielgebend für ganz Westeuropa.

So hat alle christliche Kultur nur einen Sinn und Wert, soweit wir persönlich und als Gemeinschaft bereit sind, das Erbgut einer zweitausendjährigen Christenheit als sittlich verpflichtendes Erbe zu tragen und im Leben zu bezeugen. Das verhindert dann auch, daß wir der Versuchung eines bloß äußerlichen Kulturbetriebes erliegen. Alle christliche Kulturarbeit ist nur soviel wert, als wir sie uns innerlich einformen, persönlich tragen und verantworten. Aber damit- ist noch nicht alles getan. Christliche Kulturarbeit darf nicht nur rückwärts gewandt sein, das wäre unfruchtbarer Historizismus Wir dürfen ob dem notwendig Historischen nicht das notwendig Zukunftsträchtige vergessen oder vernachlässigen. Die christliche Tradition ist erst der Boden, auf dem aufgebaut werden muß. Christliche Kultur darf nicht ein Rückzug in die Vergangenheit sein, nicht ein bequemes Ausruhen auf den Werten der Tradition. Das war der große Fehlerder christlichen Rom antik gewesen, die zwar mit Recht auf die

staats- und gesellschaftserhaltenden Kräfte der Vergangenheit, namentlich auf das Mittelalter, hinwies, aber das Feld der Zukunft; das offen vor der Welt lag, nicht nach den Entwicklungsmöglichkeiten hin untersuchte, um die christlichen Prinzipien darauf anzuwenden, unabhängig von Organisationsformen, die der Vergangenheit angehörten. Auch unsere österreichischen Freunde — sie mögen entschuldigen, daß wir das sagen — haben dieser Versuchung einer Romantisierung des kulturellen Lebens nicht immer wiederstehen können. Daß dieser Widerstand sich festige, ist ein lebhafter Wunsch ihrer Nachbarn.

Aber auch mit solchen Wünschen muß man vorsichtig sein. In der grundlegen

den Beurteilung des Gesinnungsproblems sind sich die Katholiken einig, und es gibt auch auf dem Gebiet der Kultur-, der Wirtschafts- und Sozialpolitik diesbezüglich kaum Differenzen. Dagegen gehen die Ansichten hinsichtlich der äußern wirtschaftlichen und sozialen Organisationsformen oft weit auseinander. Es gibt hier keine unitarischen Lösungen. Jedes Land hat hier seine eigenen Probleme. In der Schweiz liegen sie anders als in Österreich. Eine durch den Krieg zerstörte oder deroutierte Wirtschaft verlangt nach andern Wirtschafts- und Sozialreformen, als eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die sich intakt halten konnte. Aus diesen Gründen gehen auch

die Auffassungen katholischer Kreise,- je nach der Situation eines Tandes, in den Fragen der Wirtschafts- und Sozialreform oft weit auseinander und reichen bei gleicher grundsätzlicher Stellungnahme von extremen radikalen Forderungen bis zu reaktionären Haltungen. Hier müssen Wünsche von Nachbar zu Nachbar, von Land zu Land, vorsichtig ausgesprochen werden. Besser als Wünsche auszusprechen, ist es hier, mit dem Nachbar ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen und abzuklären. In dieser Hinsicht ist die Arbeit der „österreichischen Furche" vorbildlich, und wir beglückwünschen unsere österreichischen Freunde, daß sie hier ein Organ besitzen, dari dieses Gespräch über die Grenzen hinaus führt. Auch das erwarten wir vom österreichischen Christen, daß er diesem Organ seine freundliche Aufmerksamkeit schenkt, denn dieses Organ erscheint uns gegenwärtig als das beste Forum für Gespräche über die Grenzen hinaus.

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