6546252-1947_17_05.jpg
Digital In Arbeit

Rechenschaft und Bekenntnis

Werbung
Werbung
Werbung

Erst unserer Zeit, die sich dafür neue Begriffe geschaffen hatte, in der der Mensch zum Obermenschen sich emporhob, blieb es im vergangenen und gegenwärtigen Jahrhundert vorbehalten, mit Hilfe der Gewalt und Macht sich über alle Vergangenheit und Lebenserfahrung hinwegzugleiten und in der höchsten Kultivierung der Materie das Glück der Menschheit zu suchen. So ist das Gericht über die Völker hereingebrochen und wir stehen noch mitten in ihm. Das -Böse hat die Gewalt an sich gerissen. Der englische Kulturphilosoph Chr. Dawson vergleicht in seinem kürzlich bei Benziger, Einsiedeln, erschienenen Werk „G e r i c h t über die Völker“ die gegenwärtige Situation des kulturellen Westens mit der Zeit eines Augustinus, der eine Antwort darauf hatte, als das stolze Gebäude eines tausendjährigen Reiches in Trümmer ging. Aber zu seiner Zeit brach die Welt zusammen und die Tore der Kirche standen offen als Zuflucht für die besiegte Menschheit. „Heute ist die Welt erbarmungslos stark und verlacht Schwäche und Leiden. Sie will ohne Christentum leben, das sie als die gefährlichste Druckerei und Flaumacherei mißachtet. Sie hat ihre eigene Religion, welche die christliche Sittenlehre umkehrt.“

Dawson sieht als erste Hauptursache des Zerfalles der westlichen Kultur das Schwinden der ethischen Grundlage im politischen und internationalen Leben. Darum ist auch die Frage nach dem so sehnsüchtig erwarteten Frieden der Gerechtigkeit und Freiheit mit so viel Mißerfolg behaftet, weil die Kraft der westlichen Demokratie, die in dem Glauben an die ethische und soziale Grundlage der menschlichen Gemeinschaft lag, heute weithin fehlt.

Die neue Freiheit des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, die scheinbar den Menschen von allen drückenden Fesseln löste, endigte in Ernüchterung. Die neuen, von Wissensdiaft und Technik erzeugten Kräfte sind so gewaltig, daß sie aus den Menschen Zwerge zu machen scheinen und doch Riesen zu ihrer Beaufsichtigung brauchen. Hieraus entspringt der heutige Konflikt zwischen einem Liberalismus, der in einem Anflug von ver-frühtefn Optimismus die überlieferte gesellschaftliche Lenkung aufgab, und dem n*uen Kollektivismus, der die politische und soziale Freiheit dem Ideal einer totalitären Organisation der Gesellschaft im Interesse der Leistungsfähigkeit und Macht der Masse opferte. Eine neue Aufgabe steht dem Denken bevor, die ungeheuren Kräfte, die der Mensch im letzten Jahrhundert gewonnen hat, den neuen Erfordernissen anzupassen, um das heraufkommende Weltbild zu gestalten.

Die Einheit und geistige Sendung Europas ist verlorengegangen. Der Völkerbund“ als Versuch diese wieder zu gewinnen, hat versagt. „Die größte einzelne Ursache des Zusammenbruches des Internationalismus in Theorie und Praxis ist die mangelnde Erkenntnis des künstlichen und unbeständigen Charakters der politischen Einheit, auf der alle unsere Pläne für eine internationale Organisation beruhen“ (S. 73). Was ist heute Staat? Welche Gebilde stehen da in Gleichheit neben- und gegeneinander, wie etwa der Kleinstaat und ein Reich wie China, das Tausende von Jahren eine abgeschlossene und sich selbst genügende Welt war. Somit stellt der Versuch, die Welt zu einigen, indem man sie in die Zwangsjacke einer gleichförmigen Utopie steckt, eine utopische Täuschung dar, die weder mit internationalem Frieden noch mit nationaler Freiheit vereinbar ist. Die Wirkliche Grundlage des internationalen Lebens findet Dawson nicht in ideologischer Einheit, sondern in kultureller Gemeinschaft!

„Nur wenn der sittliche Grundgedanke des internationalen Rechtes anerkannt wird, kön-• nen wir zur Schaffung eines Systems übergehen, sei es europäisch oder kosmopolitisch, das diese Grundsätze in einer gesetzlich fundierten Form darstellt, so daß wir ab auf die letzte Zuflucht aus dem Schiffbruch der Vorkriegsideologien auf die auf einer höheren Ebene liegende Frtge zurückkommen, auf die Bejahung der grundlegenden philosophischen und sittlichen Grundsätze, auf denen nicht nur die christliche, sondefn letzten Endes jede Zivilisation beruht.“

Damit schreitet „Die Rechenschaft über die gegenwärtige Lage Europas“, wie der Untertitel dieses Buches bezeichnet, weiter Zur Frage, was dieses Europa an Kultur überhaupt noch versteht und in seinem lebendigen Besitz trägt. Die Größe und das Unglück der modernen Zivilisation besteht darin, daß sie die Welt eroberte und dabei ihre eigene Seele verlor und daß sie auch die Welt verlieren muß, sobald ihre Seele verloren ist. Die westliche Kultur ist niemals eine natürliche Einheit gewesen Wie die großen Zivilisationen des alten Ostens: Ägypten, China und Indien. Sie ist eine wechselnde Vereinigung von Völkern und Ländern, die ihre Einheit der ununterbrochenen Fortdauer ihrer Überlieferung verdankt, einer Überlieferung, die sie nicht einmal hervorbrachte, sondern erbte, umbildete und erweiterte, bis sie zur Quelle einer neuen Welt und einer neuen Menschheit wurde. Etwa tausend Jahre lang war Trägerin dieser Uberlieferung die christliche Kirche, und während dieser Gestaltungsperiode wurden die Völker nur dadurch Teilhaber der westlichen Kultur, daß sie Glieder der Kirche wurden. Der Streit des Mittelalters hat nach Dawson seine tiefste Ursache darin, daß die Frage entstand, „wie diese ideelle Ordnung des Geistes mit der wirklichen Welt territorialer Staaten und feudaler Fürstentümer, die sich die Nachkommen der Barbaren mit dem Schwerte geschaffen hatten, zu versöhnen sei“. Das Streben der Neuzeit ging darauf aus, die Kirche zu entweltlichen und das Christentum in seiner ursprünglichen Reinheit herauszuarbeiten. Dabei ist nun in den Jahrhunderten durch die Trennung eine Verweltlichung des Lebens und Lostrennung der Kultur von der Religion vollzogen worden. Das 19. Jahrhundert formte so die liberale bürgerliche Kultur mit ihrem Individualismus und ihrer christlichhumanitären Ethik. Sie hat auch in ihrem Innersten ein Stück Religion, aber nicht jene im vollen Sinne des Wortes, sondern soweit sie vom Staat noch als Mittel und Zweck zugelassen ist. Sie hat ihren geistigen Charakter im öffentlichen Leben verloren.

Die Tatsachen sind klar und wir leiden an ihnen. Die Fragen stehen offen und harren der Losung. Dawson gesteht, daß er vier Jahre gebraucht habe, um dies Buch von 190 Seiten zu schreiben. Es habe ihm größere Mühe und größeres Nachdenken gekostet als jedes andere Buch, das er je geschrieben habe. Er spricht als positive Forderung aus „die Erneuerung der christlichen Ordnung“. Damit legt Dawson ein persönliches und wissenschaftliches Bekenntnis ab. Als die große Aufgabe erkennt er gerade im Hinblick auf die vielen Planungsgedanken, die sich nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiete, sondern auch auf dem kulturellen kundtun, daß die Kultur von „oben her“ belebt werden muß, „indem sie noch einmal mit den Kräften der göttlichen Macht, Weisheit und Liebe verbunden wird. Der Glaube an die Möglichkeit dieses göttlichen Wirkens in der Welt“ — sagt er in ergreifend schöner Formulierung —

„ist die Grundlage des christlichen Denkens. Wir glauben, daß es auf jede neue Not eine Antwort der göttlichen Gnade gibt und daß jeder geschichtlich entscheidende Augenblick, der eine Entscheidung des menschlichen Schicksals bedeutet, einen neuen Strahl des Heiligen Geistes bedeutet.“

Aus dieser Verantwortung erwachsen, wie der Gelehrte darlegt, die Aufgaben zu christlichen, sozialen Grundsätzen einer neuen Ordnung, nach vollständiger Lösung unserer sozialen Forderungen, nach einem Wiederaufbau der Gesellschaft, der das menschliche Leben umformen und die Menschen wieder zu Mensdien machen soll. Auf drei Grundkräften muß die christliche Gesellschaftordnung beruhen: 1. dem Gedanken des Naturrechtes, durch das alle vernunftbegabten Wesen an der ewigen Vernunft, an der Quelle und dem Band der ganzen kosmischen Ordnung teilnehmen 2. daß Earopa wesentlich eine Gesellschaft christlicher Völker oder Nationen ist — eine Gesellschaft, die ihre Einheit nicht aus der Rasse oder dem wirtschaftlichen Interesse, sondern aus der geistigen Gemeinschaft herleitet, und daß dl europäische Ordnung nur durch die Erneuerung dieses geistigen Untergrundes wiederhergestellt werden kann. 3. Müssen wir uns für einen geistigen Kampf mit den organisierten Mächten des Bösen wappnen, die nid* bloß materiell und menschlich, sondern selbst geistig sind.

Von heißem und drängendem Glauben getragen, soll das christliche Tun sich wieder all dynamisches und prophetisches Element offenbaren* das gegenüber aller Suggestion und Terrorismus die Macht des Geistes offenbart:

„Heute kämpfen wir gegen die totalitäre Ordnung, die radikalste und systematischeste Verneinung der Freiheit, die die Welt je gesehen hat. Aber während wir für die Freiheit kämpfen, müssen wir erkennen, daß die Freiheit allein die Welt nicht retten kann. Ein wahrer Friede kann nur durch die Wiederherstellung der geistigen Ordnung gesichert werden) denn nur im Geiste sind Macht und Freiheit miteinander versöhnt und geeinigt.

So ist das Schwert .des Geistes beides zugleich: die Macht, die uns aus der Hand des Feindes erlösen kann, und die Kraft, welche die in der menschlichen Natur schlummernden Willenskräfte erweckt und befreit.“

Heute tritt der Antichrist in neuer Gestalt uns gegenüber als der Totalitäre oder die totalitäre Organisation. Ihm hat die geeinte Kirche zu begegnen und deshalb sieht Dawson die Wiedervereinigung von Katholizismus und Protestantismus als höchstes Anliegen an. Der Sache der christlichen Einheit wird weder durch religiösen Streit noch durch politische Tat „am besten gedient, sondern durch die theologischen Tugenden: Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe“ (S. 153).

Was auf dem religiösen Gebiet als notwendig erscheint, darf noch viel weniger auf dem sozialen übersehen werden. Die Demokratie hat sich noch ein gewisses Maß von Freiheit gewahrt, aber auch sie gerät in das bürokratische Planen und wird dadurch gerade so vernichtet wie von der totalitären Diktatur. Wenn das Christentum noch eine lebendige Macht in der Welt darstellt, so muß es jetzt die letzte Grundlage für die Wiederherstellung menschlicher Freiheit und persönlicher Verantwortung bilden.

Die Christen haben in der gegenwärtigen Krise des Geistes eine zweifache Sendung und Verantwortung. Sie sind die Erben der alten europäischen Überlieferung und Hüter des geistigen Prinzips, dem Europa sein Dasein verdankt. Aber es gibt auch eine Verantwortung gegenüber der neuen Weltgesellschaft. Diese ist noch formlos, ein Chaos, in dem aHein die Mächte der Zerstörung lebendig zu sein scheinen. Die Macht des christlichen Geistes muß sie überwinden. — Zu diesen beiden Aufgaben bekennt sich rückhaltlos Chr. Dawsem und wir selbst werden nur dann vor unserem Gewissen und der Geschichte bestehen können, wenn wir es auch tun.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung