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Die Zukunft hat noch nicht begonnen

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Man hat das Wort geprägt: „Die Zukunft hat schon begonnen“ (R. Jungk). Schaut man tiefer auf Gründe und Beweggründe, auf Situation und aktuelle Phänomene, kann man dieser These nicht beipflichten. Gewiß, in den letzten Jahrzehnten haben sich, nach langsamem Anlauf, Naturwissenschaften und Technik rasant entfaltet. Unmögliches wurde möglich, und es scheint, daß in Zukunft nichts mehr unmöglich sein könnte. Der Siegeszug rationalen Begreifens wie auch Nachbildens der Natur und ihrer Konstruktionen, der chemischen Verbindungen und Prozesse läßt diesen Satz wie selbstverständlich aussprechen. Und doch, befangen in diesen fortschrittlichen technischen wie chemisch-biologischen Aspekten, hat man den Blick aufs Ganze verloren, dessen Zentrum „der Mensch“ ist. Insgesamt gründet die These „Die Zukunft hat schon begonnen“ auf zu engen Perspektiven.

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Man hat das Wort geprägt: „Die Zukunft hat schon begonnen“ (R. Jungk). Schaut man tiefer auf Gründe und Beweggründe, auf Situation und aktuelle Phänomene, kann man dieser These nicht beipflichten. Gewiß, in den letzten Jahrzehnten haben sich, nach langsamem Anlauf, Naturwissenschaften und Technik rasant entfaltet. Unmögliches wurde möglich, und es scheint, daß in Zukunft nichts mehr unmöglich sein könnte. Der Siegeszug rationalen Begreifens wie auch Nachbildens der Natur und ihrer Konstruktionen, der chemischen Verbindungen und Prozesse läßt diesen Satz wie selbstverständlich aussprechen. Und doch, befangen in diesen fortschrittlichen technischen wie chemisch-biologischen Aspekten, hat man den Blick aufs Ganze verloren, dessen Zentrum „der Mensch“ ist. Insgesamt gründet die These „Die Zukunft hat schon begonnen“ auf zu engen Perspektiven.

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Gerade mit diesem Hochspielen der Technik allein, mit diesem unheimlichen Trend und diesen unwahrscheinlichen Resultaten der Forschung und ihrer praktischen Umsetzung, ist die Welt aus dem Gleichgewicht gekommen. Der Historiker weiß wohl, daß die Zeiten, in welchen alle Lebenselemente sich in Harmonie einander zuordnen, selten und kurzfristig genug sind. Aber eine solche Diskrepanz zwischen pragmatistischer Erkenntniswelt in ihrer sachlichen Objektivität und — anderseits — Erlebniswelt der Sphäre unmittelbaren Menschseins ist in historischen Zeitaltem kaum nachzuweisen und übertrifft bei weitem auch die einzig sich aufdrängende Parallele zur Epoche des Zusammenbruchs der antiken Welt alter Hochkulturen im Hellenismus. Wir befinden uns in einer geradezu grell-aufdringlichen Überganigszone, von der man gewiß sagen könnte, daß sie „Voraussetzungen“ für- die Zukunft zu schaffen imstande ist, aber einen möglichen Beginn der Zukunft immer noch als ein Problematisches offenläßt. Bedenkt man, daß die Modelle der Kybernetik diesen Siegeszug der Technik, gegenüber der drohenden Vernichtung der wichtigsten Lebehsvoraus-setzungen für den Menschen und damit auch für die weitere Nutzung der Technik selbst, in Frage stellen und daher diese Lebensfragen einer erneut ins Gleichgewicht zu bringenden Lebenswelt die der Technik überrunden, so erweist sich eindeutig, daß erst mit dieser Gesichertheit der Lebensumwelt, somit in einer Synthese von Technik und Lebens-Grundbedingungen, letztlich also von Technik und Mensch, die Zukunft wirklich beginnen kann.

Noch ist es keinesfalls sicher, ob diese Synthese erreicht wird oder eventuell der Untengang droht, wird doch drauflosgewirtschaftet mit Rohstoffen, Luft, Wasser, Gesundheit, mit vergifteten Nahrungsmitteln und dergleichen mehr. Die Frage des wirklichen Erreichens eines Zu-standes der Synthese bleibt somit noch völlig offen.

Kein Zweifel, der zunehmende Trend rationaler Erkenntniswelt in seiner ungeheuren technischen Fortschrittswelle ist unnegierbar wie unaufhebbar — es sei denn durch größte Naturkatastrophen. Hier Vogel-Strauß-Politik betreiben, ist unsinnig; und der allen Seiten gerecht werdende Standpunkt eines Karl Steinbuch in „Falsch programmiert“ muß von allen klar Denkenden als grundsätzlich verbindlich anerkannt werden. Aber wie fern wir dieser anzuzielenden Lösung einer harmonischen Synthese von rationaler Erkenntniswelt und menschlicher innerer Erlebniswelt oder deren Erhöhung zur „Gleichwertigkeit“ mit jener sind, zeigt unsere konstruktivistische Verstiegenheit. Im Grunde leben wir in einer geistigen Welt von Denkakro-batentuim, wobei Denken und Geist als identisch angesehen werden. Wir haben vergessen, daß alles Große und Urtümliche einfach ist. Wir haben vergessen, wie ein einfaches, natürliches Leben ist, das von der Menschbezogenheit in allem ausgeht und in all seinen wirtschaftlichen wie sozialen Bedingungen auf den Menschen zurückzielt. Wenn der österreichische Delegierte auf der Helsinkier Rüstungsbeschränkungskonferenz sagte, daß die Politik sich wieder auf den Menschen ausrichten müsse und dies in Schlagzeilen durch die Zeitungswelt ging, so kann man nur konstatieren, daß das Selbstverständlichste und Natürlichste dem Blicke der Menschen von heute entschwunden ist. Daß die Lebensformen, die technischen Fortschritte, die sozialen und geistigen Unterfangen ihr Ziel im (besseren) Leben der Menschen haben sollen, ist eine Binsenweisheit.

Wenn nun alles verzückt auf die Technik schaut — und dies nach außen gerissen und immer mehr vom Innen des Menschen weg —, wenn „Wissenschaftlichkeit“ als Schlagwort die rationalistische, ja hyperrationalistische Geisteshaltung von heute charakteristisch zeichnet, welche keine anderen Götter und damit auch nicht die innere Erlebniswelt (nach ihren allgültigen Gesetzen) duldet, so ist doch eben offenbar, daß bei fehlendem Blicke auf die Ganzheit sowohl der Natur als auch des Menschen in dieser Umwelt, wir gegenwärtig, gelinde gesagt, im Zustande des Autofahr-sehülers uns befinden, der zunächst Gefangener seines Vehikels ist. Die Technik überfährt alles — und ohne Warnung und ohne alles Bedenken. Sie ist der Entwicklungsraserei verfallen, ' und sie hat nicht abzuschätzen vermocht, was sie im großen und ganzen an „vernünftigen“ Möglichkeiten der Entfaltung riskieren könnte; Verstand ohne Vernunft, aufgepeitscht durch die kollektiven Lebenselemente, wie Politik, Wirtschaft, Militär, Geld, Ruhm, welche heute die Primärebene des Menschen als Menschen mißachten, zumindest sich nicht die Mühe gegeben haben, sie mit einzukalkulieren. Alle Warntafeln an der Straße haben sie überfahren. Ich nenne nur einen Namen, der seit Jahrzehnten der des Umweltschutzes ist: Günther Schwab. Man hat ihn beiseite geschoben, die Raserei geht weiter. Jetzt erst, nachdem der Verstand als „Geist“ seinen Wahn „vernunftlos“ bis an gefährlichste Grenzen getrieben hat, nachdem nun zahllose Rufer mit immer lauterem Rufen, ja Schreien auf die Fahrbahn traten, da tritt Konstemiertheit ein. Denn diese Rufer verkünden mit exakten futurologiscbem Beweismaterial nichts geringeres als das Ende; das Ende nämlich der Naturwelt und ihrer Hilfsquellen, das Ende des Menschen aber auch; nicht nur durch Gefährdung der physischen Existenz, sondern zugleich auch — und der Anzeichen gibt es heute mehr als genug — durch psychische Lädiertheit. Weil eben dafür gesorgt ist, daß, bei allem erstaunlichen Anpassungsvermögen, die Bäume nicht in den Himmel wachsen und technische Entwicklungen nicht einseitig bis ins Unendliche fortgesetzt werden können. Und schon gar nicht Ohne Rücksichtnahme auf das Wesen des Menschen.

Auf einmal kommt die der Antike einst selbstverständliche Ganzheit „Mensch und Natur“ erneut in Sicht, die die abendländisch-rationale Entwicklung wie auch der betonte „Herrscher Mensch“ auf Grund des biblischen Spruchs: Macht euch die Erde Untertan! aus den Augen verloren hatte. Die Natur wurde bislang nur dienend gesehen und ausgebeutet wie alles und alle, die der intellektuellen wirtschaftlichen weißen Rasse nicht zugehörten. Jetzt aber erscheinen Erde und Natur auf einmal ihrerseits als Herrscher und Spender; jetzt auf einmal erscheinen sie als heilig und 24. heiligen. Die Natur erscheint im eeh1^,i)ijmbus der Sakralität und nimmt den Menschen aus der vollzogenen Spaltung von „Natur“ und „Geist“ wieder hinein in die Einheit.

An diesem Punkte halten wir, und die Behauptung, daß die Zukunft schon begonnen habe, erscheint angesichts dieser verheerenden Tatsachen, die der wahnwitzige Run auf Geld, Wohlstand, Geltung und Ruhm hervorgebracht hat, mehr als fragwürdig. Die Frage lautet heute viennenr: nanen wir naeiisciieii überhaupt noch eine Zukunft? Läßt sich das immer schneller rotierende Rad aus Einsicht und Vernunft auf langsameren Tourenlauf zurückdrehen? Ist der Mensch bereit, um der Zukunft seiner selbst willen und der Menschheit überhaupt, Verzichte zu leisten? Vermag er — wie eindringlich müßte man diese so allgemein menschlich vernünftige Forderung Maos dem Westen immer wieder und wieder vorhalten! — „Genügsamkeit“ zu üben? — Es scheint fast ausgeschlossen, daß der Mensch, es sei denn in letzter furchtbarer Angst vor einer unimittelbar bevorstehenden Katastrophe, auf diese Stimme hörte. Vor allem aber das Kernphänomen: Der Verstand des Menschen hat sich in der abendländischen Zivilisation zu einer bedeutsamen Schwelle der Bewußtseinserhöhung wie des Aktionsvermögens entwickelt; jedoch die Vernunft ist zurückgeblieben; der Diener Verstand hat dem Herrn Vernunft das Dienstverhältnis gekündigt. Was also hier geschieht, ist nicht Herrenpolitik, sondern Dienerpolitik geldraflerischer Geschäftigkeit bis zu dem Punkte, wo eine Bilanz-legung unmöglich geworden ist; und wodurch der Herr pleite geht, während der Diener, obwohl der Täter, die Verantwortung von sich schiebt und sich die Hände in Unschuld wäscht. Allzu deutlich ist hier das- Exempel im größten Ausmaße statuiert, daß, wie Sigmund Freud schon wußte, auch der Geist als reiner Intellekt auf dem Humusboden menschlicher Triebhaftigkeit wächst, auch wenn er seine angebliche Objektivität lautstark zu verkünden pflegt.

Letzte Konsequenz ziehend, darf man feststellen, daß mit Bild und Bildung höchster, aber einseitiger InteUigeß^Q,tßjw)j^ejfihäeaher„.aueU mit der Tatsache der totalen Ver-sachllchung das alte“ Menschenbild zusammenbricht. Um nicht zu sagen, das Menschenbild als ein ewiges, das sich geschichtlich durch so viele der Zeitprismata immer wieder in anderer Weise, unterschiedlich und doch das eine und gleiche bleibend, gebrochen hatte, in höchster Gefahr ist. Wir sehen die auslaugenden Wirkungen des Liebesverlustes, die Technisierung und Sachlichkeit mit sich bringen, wir sehen, daß die Psyche im Umgang mit Menschen, nur auf Sachliches, Unpersönliches und nichts Menschliches stoßend, im sozialen Getriebe (das sich übrigens mit wissenschaftlichen Grundsätzen rechtfertigt!) krank geworden ist. Die elementare Ordnung, so wandlungsfähig sie in den harmonischen Konstellationen der Zusamimenstini-mung der einzelnen Regionen ist, läßt Willkür gegenüber nicht mit sich spotten. Geist, nur als Intellekt gedeutet, bedeutet Entleerung, nicht Erfüllung; denn Geist im höheren Sinne, wo Intellekt und Vernunft zusammenschießen, ist Emanation menschlicher Ganzheit, die an Erkenntnis- wie an Erlebniswelt aktiv Anteil hat; und darüber hinaus Erde, Natur, Kosmos in ungeahnter Weise verwoben ist.

Das alles hat man beiseite geworfen. Das denkende Gehirn für sich selbst und allein ist Gott geworden; der Mensch betet nichts anderes mehr an als seine eigene Denkkraft. Und diese schießt in ihrem Selbstgefühl der Erfolge empor bis zu der Tendenz der Besiegung des leiblichen Todes. Nichts charakterisiert den Wahnwitz des Zeitalters besser als diese Idee, zeigt sie doch eine utopische Sinngebung des Un-Sinns, indem man den Rhythmus der Natur großen Stils zu zertrümmern versucht, der unabtrennbar zum Leben selbst gehört. Denn der Tod ist nicht nur Widerspiel, sondern Mitspieler des Lebens und am Leben. Indem diese Himmelsstürmer nach den immergrünen Zweigen des Baumes des Lebens greifen, nachdem sie zuvor vom Baume der Erkenntnis gegessen haben, berühren sie — das Gerippe des Todes. Diese Erfahrung wird ihnen nicht erspart bleiben, denn hier, wie andernorts, steht der Verstand gegen alle Vernunft!

Die Zukunft als eine mögliche, wenngleich noch keineswegs als eine gewisse, beginnt erst dann, wenn der Mensch in der Tat zum „göttlichen Menschen“ geworden ist, der den Kern der Frucht vom Baume der Erkenntnis erkannt hat, nämlich: -dUnterordnung dev-Verstandes unter die Vernunft; die Vernunft als Leitseil des Verstandest Das heißt, daß er Verzicht zu üben imstande ist — aus Vernunft und aus Verantwortung für das Ganze. Sie beginnt erst dann, wenn Erkenntniswelt und Erlebniswelt erneut zur Harmonie gelangen, wenn somit die innere Erlebniswelt des Menschen die gleiche Anerkennung und Achtung genießt wie die Erkenntnis-weit und der Zug zur Innerlichkeit die Oberhand über den zur Veräußerlichung gewonnen hat; sie beginnt erst dann, wenn die Bewußtsemserhöhung nicht eine reine Gehirntätigkeit bleibt, die man geradezu frivol als „Geist“ schlechthin anspricht, unter brutaler Mißachtung der „Ganzheit Mensch“, sondern Bewußtseinserhöhung zugleich und primär höhere bewußte Verantwortung für das Menschengeschlecht wie seine psychischen wie materiellen Gründe, in engerer und weiterer Natur bis hin zum Kosmos, für ihre Gesundheit, enthält.

Geschieht dies, dann erhebt sich der Mensch vom Homo sapiens sapiens, der er seit dem Zeitalter des Cromagnon ist, zum Homo sapientis-simus der leitenden „Vernunft“, dann darf man an eine Zukunft und ihren einstigen Beginn glauben; geschieht es aber nicht, so erweist sich die ganze Menschheitsentwicklung in ihrer Entfaltung und dank ihrer letzten sich intellektualistisch überstürzenden Phase bis hin zu diesem angeblichen „zerebralen Gipfel“ physiologischen Trends als nur eine gigantische Fehlentwicklung, die mit der Negierung des letzten Aufschwunges zu aller, wahrhaft göttlichen Menschenhöhe sich selbst den Schlußpunkt setzt. Dann ist der Versuchstrend der Natur, einen geistigen Giganten hervorzubringen, mißglückt. Der Homo sapiens sapiens ist dann, wie ein österreichischer Mediziner, Otto Hausleitner, es kühn formulierte, selbst das gesuchte „missing link“, das Tier und Mensch verbinden soll. Er selbst! — Aber er ist eben in dieser Funktion das vorletzte Kettenglied, dem das letzte, das des homo sapientissimus, nicht mehr folgt!

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