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Das eine, das not tut

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Die Behauptung, daß die europäische Menschheit, und nicht nur diese, sich gegenwärtig in einer tiefgehenden Krisis befinde, dürfte nicht allzuviel Widerspruch erregen. Es ist keine der üblichen Krisenerscheinungen, wie sie in dieser unvollkommenen Welt tast naturgemäß auftauchen: Generationsspannungen, Ablösung von Ideen durch neue Ideologien, Revolutionierung eines bestimmten wirtschaftlichen oder technischen Systems durch epochemachende Erfindungen und ähnliches; wir müssen vielmehr die Diagnose einer Fundamental- und Existenzkrise stellen. Sie spricht sich in den Thesen der Existentialisten wie in den Dichtungen der Rilke und George aus, sie geistert in den monströsen Gebilden der Surrealisten und ist die Atmosphäre der Sartre, Anouilh und Giraudoux, sie wird in Bert Brechts Dekadenz sichtbar, mit ihr setzt sich die grandiose mystische Ontologie der Le Fort gegen die vitajistisch-nihilistische Person ihrer Romanfigur Enzio auseinander, sie bricht als fürchterlicher Abgrund, als unentrinnbares Gericht bei Kafka auf, ihr Gespenst erscheint in den augenlosen Masken eines Ensor schon vor der Jahrhundertwende, und Jüngers frühe Schriften widerhallen vom Gedröhn ihrer Auseinandersetzungen.

Kultur ist auf den Gottesbefehl an den ersten Menschen gegründet: „Wachset und mehret euch, erfüllt die Erde, macht sie euch untertan!“ Sie ist die Kosmokratie des Menschen, das Reich Gottes durch den gottähnlichen Menschen. Welt ist nicht Fertigprodukt, sie muß im Drama der Geschichte vollendetwerden. Kultur ist dort, wo, der Mensch sich als Mensch, als geistiges, personales, freies, denkendes, liebendes Wesen ausspricht, wo er sich in der Vielfalt der Generationen, der Unzahl der Individuen in allen seinen Möglichkeiten darstellt; Kultur ist dort, wo er die Natur in wissenschaftlicher Erkenntnis, künstlerischer Deutung und Neuschöpfung, in technischer Bezwingung und wirtschaftlicher Nutzbarmachung beherrscht und sich zuordnet; Kultur ist dort, wo der cultura agri, der Bebauung des Ackers, der Kult der Gottheit folgt. Denn das Höchste des Menschen ist es, der Gottheit fähig zu sein. Kultur ist in Krise, wo der Mensch als Mensch verkümmert und fraglich wird, wo tierische und dämonische Züge in ihm auftreten, wo der Mensch technisch oder ethisch die Herrschaft über seine Umwelt verliert, wo die Gottheit ignoriert und ihr der Kult aufgesagt wird.

Und alles dieses ereignet sich heute. Kritizismus und positivistische Skepsis haben die objektiven Werte der Menschheit relativiert und den Menschen einer sich selbst verzehrenden Subjektivität ausgesetzt; das bloße Hinstarren auf das Faktische unserer Existenz hat das Bewußtsein einer völligen Zufälligkeit, ja Sinnlosigkeit des Daseins gezei- tigt, in das sich der Mensch „geworfen“ fühlt. Der Boden ist eingebrochen, den man solange für unbezweifelbar festhielt: das Nicht ist sichtbar geworden, aus dem das Seiende gerissen wurde, ohne aber daß der Schöpfer erblickt würde, der dem Sein Garantie verleiht. Die Frage Heideggers: „Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht vielmehr nichts?“, die er als Urfrage jeder Metaphysik diagnostiziert, kann vort der Generation, der sie sich stürmisch stellt, nicht mehr beantwortet werden, aber auch das Menschenbild selbst ist zur Diskussion gestellt; materialistische Psychologie spricht den Menschen Seele und Geist ab, Tiefenpsychologie und Psychotherapie ohne Seele werden — welche

Perversion! — selbstverständlich. Klages spielt Geist gegen Seele aus, Rassismus unterdrückt auch theoretisch den personalen einzelnen und seine Heilsfrage zugunsten eines alles verschlingenden molochartigen Kollektivs.

Offensichtlich ist die Krise im Moralischen. Immoralität, Gesetzesbruch hat es zu jeder Zeit gegeben, auch in den sich „christlich“ dünkenden Zeitaltern. Heute aber sind d i e Maßstäbe geschwunden. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Gut und Böse erleidet Erweichungen, ja Leugnung. Der metaphysische Rang des Unethischen als Sünde, als Verfehlung gegen den personalen Urgrund des Seins, des Absoluten, wird geleugnet und das schneidende Problem damit verharmlost. Dafür ersetzt die krasse Willkür diktatorischer Kommandos die Normen eines mit der menschlichen Natur als Willen der Gottheit gegebenen und deshalb ewigen Gesetzes.

Die Praxis erläutert diese Theorien: wir erleben ein Zeitalte der Folter, der Massenvernichtung von Menschen aus ideologischen Gründen, einer theoretisch genährten Barbarei, ein Zeitalter, riesiger Sklavenheere, der Zwangsarbeit, politisierter Justiz, des allmächtigen Kollektivs, das sich ap die Stelle der Gottheit gesetzt hat; wir leben, im Privaten, in einer Ära dauernder Ehekrisen, solche sind immer ein feines Indiz für die geistigen Verhältnisse einer Generation — wir finden in den intimsten Bereichendes Geistes alles durchsetzt von einer oft unwägbaren, aber unerbittlichen Verzweiflung. Steht es auf soziologischem Gebiet anders? Krasser — angeblich liberaler — Individualismus eines bürgerlichen Zeitalters wechselte hinüber ins menschenfressende Zwangssystem der rassistischen oder klassenmäßig unterbauten Kollektivierung. Atomisierte Masseund Diktatur werden sich gegenseitig bedingende Notwendigkeiten. Nicht umsonst war die Idee der „Freiheit“ ein durch Jahrhunderte beliebter Explosivstoff. Chauvinismen zerreißen die Menschheit in planetarischen Kriegen eben in dem Augenblick, in dem eine ausgebaute Technik und eine exakte Geschichtsforschung geographisch und zeitlich zum erstenmal d i e Menschheit als Ganzes real in Erscheinung treten lassen! Grausame Ideologien machen ganze Menschenschichten verschwinden — in eben dem Augenblick, da die Menschheit als Familie sichtbar wird, und planetarische Geschichte sich als „Großes Welttheater“ auftut. D i e größte Primitivierung tritt auf sozialem Gebiet auf: Der Cäsaropapismus des totalen Staates, der Versuch seiner Identifizierung mit Kirche — dieserVersuch ist nicht nur ein Zeichen der unerhörten Anmaßung des Zeitalters, sondern vielmehr ein Indiz eine nicht mehr Begreifens der höheren SchichtedesDaseinsüberhaupt, des Übernatürlichen, dessen, was „v o n o b e n“, was „Gnade“ is t. Man könnte die Zahl der kritischen Bemerkungen vermehren, das Ergebnis steht fest. Wie aber deuten wir es? Was ist die Wurzel unserer Krise? Sie ist eine metaphysische. Kein Naturvorgang, kein Welkungsprozeß einer Kultur (Kulturen sind geistige, in den Entscheidungen des Geistes geformte Gebilde!) im Spenglerschen Sinne liegt vor.

Ein Abfall von der Natur und Bestimmung des Menschen hat stattgefunden, ein Sündenfall. Das Lebensprinzip ging ver-

loren; alles andere sind Symptome, nicht die Krankheit selbst. Kultur ist Herrschaft der Gottheit über den K os mos durch den Menschen als Werkzeug und Stellvertreter. Der Mensch ist Gottes Präsenz und Repräsentation in der Welt. Er sym-' bolisiert einen über sich hinaus verweisenden Rang; was sollenaber Sinnbilder, wenn sie nichts mehr darstelle n ? Kultur ist Symbol des Menschen; wo der Mensch seine Symbolkraft verloren hat„ zerfällt Kultur mit ihm … Wenn der Schöpfer entgleitet, erstirbt im Menschen, der ein Mit-Schaffer ist, das Schöpfertum. Der Verlust der Religion, der Kultverbindung zur Gottheit, das ist der tiefste Grund unserer Krise.

Ist es also zufällig, wenn der kommende diözesane Katholikentag Wiens das Bibelwort „Gebt Gott, was Gottes ist“ zu seiner Parole gemacht hat? Es ist ein Christus-Wort in hochpolitischer Situation. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ — gewiß, Steuer, Gehorsam, soweit es nötig ist, um Ordnung, Friede und Gemeinwohl zu sichern. Aber auch der Cäsar muß Gott geben, was Gottes ist, denn er hat von ihm allein Autorität und Legitimation zur physischen Gewalt. Wenn Gottes Ordnungswillen, Gotte Weltplan in irgendeinem Punkt der menschlichen Zivilisation opponiert wird, dann ereignet sich die innerste Störung der Kulturbereiche. Der Verlust der nach oben offenen Kreatürlich-

keit ist zugleich Verlust der wahren, gesunden Natur im Menschen! Das eigene Selbst — was das Sicherste schien —, die eigene Natur,-das eigene Sein wird problematisch, jeder Ausgangspunkt. schwankt, aber auch die Sinnrichtung des Daseins geht verloren, Leben und Geschichte nehmen den Charakter d e r He i 11 o s i g- keit an, deren Signatur ein langsame, allej durchsetzende Daseinsangstund geheime Verzwei f1ungist.

Welches Evangelium haben wir dieser selbstmörderischen Welt anzubieten? Es ist das des Jesus von Nazareth. Es braucht nur verstanden und angewendet werden, um den Beweis seiner Lebensmacht erbringen zu können. Es ist das Samenkorn einer neuen Welt, die wieder Hoffnung haben kann und Menschlichkeit sieht. Hier ist di Norm für den Menschen als Ebenbild Gottes im Dogma vom Gottmenschentum. Nirgends ist der Mensch mehr gewürdigt, ist ihm höherer Rang zugeschrieben! — Aber dieses Dogma ist realistisch, es unterscheidet sich sehr wohl von der Utopie vom „Menschgott“, die Berdjajew so genial beschrieben hat, der Nietzsches ekstatischer Versuch galt. Sein Ende in Wahnsinn, seine letzte Unterschrift als „Gekreuzigter“ sagt alles über den Mißerfolg seines Unterfangens aus. Das Evangelium redet keiner Auflösung des Menschen das Wort, sondern einer Überhöhung, es schreibt diese nicht einer natur- haften, vitalen Daseinsekstase zu, sondern jener „Gnade", die uns aller Psychopathie des Mehr-sein-Wollens, als man ist, enthebt. Der Mensch braucht nie die Rolle einer Gottheit zu agieren, aber er kann an der Gottheit aus „Gnade“ Anteil erhalten. Das ist eine Welt, die ebensoweit von jener Hybris entfernt, die von der Antike als schauerlichste Schuld gebrandmarkt wurde und die unweigerlich zur Katastrophe kommt, wie von der tauben Verzweiflung unserer Generation, die eine wahre „Krankheit zum Tode“ geworden ist.

Im Glauben, das heißt in der existentiellen Überantwortung des Menschen an die Gottheit, an ihre Wahrheit und Treue, faßt der Mensch wieder Fuß nicht im Seienden der Welt, sondern im absoluten Sein selbst. Der alte Gottesname Jahve „Ich bin, der ich bin“ ist imstande, alles zu tragen, Herz, Leben, Schicksal und Hoffnung des Menschen. Hier ist das Du, von dem Ferdinand Ebner erkannte, daß es der einzig gültige Partner des menschlichen Ich sei, der imstande ist, dieses seiner Isolierung zu entreißen. Das erneuerte Gottesverhältnis wird ein neues Men- schenverhältnis schaffen, das berühmte Doppelgebot der Gottes- und Menschenliebe erweist sich als untrennbar. Das Christentum bringt eine feste Norm der Ethik, nämlich die Person Christi selbst, das „Liebet einander“, die fundamentale Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Gott und Satan, die die Moderne so gerne identifizieren wollte. Geschichte ist in dieser Weitsicht nicht animalische Entwicklung, kein Marionettentheater der Gestirne, sondern ein Akt der Freiheit, ein Drama, das den Rang des Geistes besitzt, und zugleich ein Gebilde unverlierbaren Sinnes.

Das Gleichnis von Braut und Hochzeit, das die christliche Kirche auf des Menschen Gottesverhältnis anwendet, zeigt einen Inbegriff von Religion und Menschenwürde, es ist der Antipode des totalen Staates, jeder Zwangsapparatur der Persönlichkeits- und Freiheitsvernichtung im Namen eines irdischen Paradieses.

Das ist das Fazit unserer Geschichte: entweder die Freiheit des Glaubens, der Kindschaft der Gottheit und die Existenz aus Gnade verstehen oder an sich zu erfahren die gnadenlose Despotie des Leviathans und chiliastische Vorspiegelungen, die Leichenfelder totaler Kriege schafft — das Ende unserer humanen Zivilisation! Die Zeit hat zu wählen: Rückwendung zu den Ursprüngen, die oben, nicht unten liegen, „Umdenken“, richtige „Be-kehrung“, Besinnung auf das einzige Notwendige oder Absinken in den anarchischen Prozeß eines Kampfe aller gegen alle und auch in die Stagnation jener Totenhäuser jener menschenkonsumierenden Maschine, die sich „Volksstaat“ nennt. „Gebt Gott, was Gottes ist“, dieses Wort Christi ist heute nicht mehr eine fromme Sentenz, die von wenigen zwischen Kirchenwänden vernommen wird, sondern vielmehr ein Satz, dessen Realisierung über den sittlichen, seelischen und physischen Bestand unseres Zeitalters entscheidet. Religion ist nicht mehr Privatsache — sie ist da öffentlichste Ereignis, der entscheidendste geschichtliche Rettung- und Heilsakt unserer Welt, das einzig und über alles Notwendige geworden. Otto Mauer

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