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Sinn und Größe unserer Generation

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Der Verfasser dieses für die „Furche“ geschriebenen Artikels, Riccardo Lombardi S. J., ist der geistige Führer der «religiösen Erneuerungsbewegung, die seit etwa drei Jahren weiteste Kreise des italienischen Volkes erfaßt und sich zum Ziele setzt, in ihm das Bewußtsein seiner christlichen Sendung im heutigen Europa wiederzuerwecken und das gesamte öffentliche wie private Leben im christlichen Geiste neu zu ordnen. Lombardi gilt als der katholische Publizist Italiens. „Die Furche“

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Der Verfasser dieses für die „Furche“ geschriebenen Artikels, Riccardo Lombardi S. J., ist der geistige Führer der «religiösen Erneuerungsbewegung, die seit etwa drei Jahren weiteste Kreise des italienischen Volkes erfaßt und sich zum Ziele setzt, in ihm das Bewußtsein seiner christlichen Sendung im heutigen Europa wiederzuerwecken und das gesamte öffentliche wie private Leben im christlichen Geiste neu zu ordnen. Lombardi gilt als der katholische Publizist Italiens. „Die Furche“

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In allen Ländern der Erde halten viele Zeitgenossen unsere Generation für eine der unglücklichsten der Geschichte. So viele der schönsten Werke und so viele der herrlichsten Schöpfungen, die uns vergangene Generationen überliefert und anvertraut hatten, sind einem grenzenlosen und namenlosen Unglück zum Opfer gefallen. Entsetzliche Tragödien haben im Leib der Menschheit Wunden gerissen, deren Folgen unser eigenes kurzlebiges Dasein überdauern werden. Wir selber werden sterben, bevor diese Wunden auch nur vernarbt sind.

Ja, ist es vielleicht nicht so, daß neue Wunden aufzubrechen drohen, so als ob noch nicht genug Blut vergossen worden wäre? An beiden Seiten einer grauenvollen Kampfarena, die wie noch nie die ganze Menschheit in ihr dämonisches Kraftfeld zwingt, stehen sich zwei gewaltige Blöcke von Nationen gegenüber, die einander mit größtem Mißtrauen beobachten, einander ausspionieren und prüfend ihre Kräfte messen und sich hassen ... und jeder hat nur den einen Wunsch, den anderen zu vernichten, und jeder wird davor zurückgehalten nur von der Furcht, dabei selber verniditet zu werden.

Unterdessen versuchen wir kleinen Leute, wir verlorenen einzelnen — den Ameisen gleich, denen ein Fußtritt das Heim zerstört hat —, nur mit viel weniger Eifer, uns ein neues Heim zu bauen, von dem wir doch voraussehen, daß ihm das gleiche Ende beschieden ist. Wir erinnern uns noch an den Jubel unbändiger Freude, der in manchen Ländern die Rückkehr der demokratischen Systeme an die Stelle der Diktatur begrüßte; wie rasch ist dann bei vielen reifen Menschen diese Begeisterung abgeflaut, um einem vorsichtigen Zuwarten Raum zu geben, das alles andere als begeistert ist. Philosophie und Literatur, Kunst und Wissenschaft, Industrie und Handel... : jede dieser menschlichen Tätigkeiten macht den Eindruck, daß sie sich nur müde und hoffnungslos weiterschleppt, gelähmt nicht nur vom Alpdruck der Katastrophe, der sie schon zum Opfer fiel, sondern auch der Katastrophe, die erst im Kommen ist.

Ja, selbst die Liebe scheint wie vom Schrecken gelähmt. So viele junge Menschen warten Und warten, bevor sie sich dazu entschließen, einen neuen Herd zu gründen, wo sie sich doch so nach ihm sehnen. Und nur zu oft wartet das neugegründete Heim umsonst auf das Fest der Kinder, vor denen man Angst hat, bevor sie noch ins Leben treten!

Und dennoch : diese unsere Generation, die so tief gedemütigt ist, die so alles Vertrauen auf sich selbst verloren hat, die so ziellos und planlos dahinlebt, sie weckt in mir viel mehr Sympathie und viel mehr Zuversicht für die Zunkunft der Menschheit als die Generation, die -'ns vorausging, mehr als manche Generationen der Vergangenheit, die so selbstzufrieden und so voll Eigendünkel waren. Denn es ist in Wahrheit besser, daß eine verkehrte Welt zusammenbricht, als daß sie existiert. Es ist besser, daß ein Hochmütiger gedemütigt wird, aus daß er triumphiert: besser für die andern und besser für ihn selbst.

Denn das ist meine Uberzeugung: mit unserer Generation gelangt eine vielhundertjährige Ära zum Abschluß, die es nicht wert ist, daß wir ihr nachtrauern. Ich meine die Ära, die anhob mit dem italienischen Humanismus des Quattrocento; so wahr und unleugbar es ist, daß sie reich war an guten Ansätzen, so entwickelte sie sich doch in ganz Europa und in der Welt im Sinne einer fortschreitenden und immer stärkeren Verweltlichung und stellte das Natürliche immer schärfer in Gegensatz zu jeder Form des Übernatürlichen. Es ist die Ära, in der der Mensch sich mit jedem Tag mehr unterfing, aus der Welt die Überwelt, die Heteronomie, das Göttliche, zu verbannen, um sich in seine eigene Welt einzuschließen, in die Autonomie, in das rein und ausschließlich Menschliche. Es ist die Ära, die in ihren Ruhmestagen als Kampfgefährten in dem einen Feldzug Elisabeth von England und die Enzyklopädisten präsentieren kann, Hegel und Renan, Comte und Harnadk, Nietzsche und d'Annunzio, Marx und Rosenberg, Gentile und Sartre ... : alles Menschen, die — so verschieden ihre Woge waren — nichts anderes zu entdecken wußten als den Menschen und ihn als Sinnmitte der Wirklichkeit.

Diese Welt sinkt in Trümmer. Sie bricht über uns zusammen, zerstört von unseren Bombenflugzeugen, die vernichtender sind als die Schläge des Blitzes; erschüttert von unseren sozialen Doktrinen, die zersetzender wirken als Seuchen; in Staub aufgelöst von den Atombomben, die an Zerstörungswut die entsetzlichsten Kataklismen der Natur überbieten. Der Mensch, der sich selbst zu Gott machte, hat seine Weilt zerstört, weil er unfähig war, sie zu beherrschen!

Von Grauen und Entsetzen ergriffen, fühlen wir unsere ganze Kleinheit: ohnmächtig gegen die Mächte der Zerstörung, die wir selbst geschaffen haben. Die exi-stentialistische Angst von Existenzen, die zerrissen sind, unendlich vereinsamt und ohne innere Mitte, wird zum Grundbegriff der modernen Philosophen. Wer kann uns Rettung bringen?

Gerade *o ist Raum geschaffen für die großen Baupläne Gottes. Und das ist das Große, unvergleichlich Schöne unserer Generation: denn wir wissen, wo gedemütigt wird, dort ist Gott am Werk; und gerade in unserer kollektiven Demütigung bereitet Gott seine Arbeit vor, wird und will er arbeiten, ja, er ist schon an der Arbeit, und seine Plläne sind von einer Tiefe und Weite, daß wir es heute kaum ahnen können.

Während eine vielhundertjährige Ära sich schließt, öffnet sich eine neue: eine Ära, die größer ist als jene, die vergeht, um soviel größer, als das Göttliche über dem Menschlichen steht, als Gott größer ist als der Mensch; es ist die Ära der siegreichen Rückkehr Gottes. Gott kehrt zurück in die Welt: nicht, als ob er sie jemals verlassen hätte; vielmehr ist es die Menschheit, die sich von ihm entfernt hat — denn Gott achtet ehrfürchtig die menschliche Freiheit — und die nun im Begriffe steht, ihm feierlich die Tore zu öffnen, um mit ihm eine neue Geschichte zu beginnen.

Die theoretische Synthese des Universums ohne ihn war ein Gebäude ohne die Hauptstütze des Gewölbes: soviel man sie auch von allen Seiten zu stützen versuchte, sie ist dennoch zusammengebrochen; so möge denn Gott zurückkehren! Die praktische, moralische Synthese ohne ihn war ohne

Fundament: wie hat man sie verherrlicht und gefeiert und sich angeeifert, sie zu leben, und sie ist dennoch in den Sumpf geraten; so möge denn Gott zurückkehren! Die Politik ist ohne ihn zu einem Ringen zwischen Raubtieren geworden: wie viele Kongresse und Projekte und Verträge und Abkommen, und alles hat sich als tragische Komödie entlarvt. So möge denn Gott zurückkehren! Die Kunst und die Kultur, die Familie und die Nation, das gegenseitige Vertrauen der einzelnen und der Völker.., i alles ruft heute nach Gott,

Und Gott kehrt zurück. Unserer Generation ist die verantwortungs- und ehrenvolle Aufgabe zuteil geworden, in das aufgewühlte Erdreich planvoll! die Grundsteine zu senken, damit das ganze Gebäude auf ganz anderen, soliden Grundfesten ruhe. Uns wird die Ehre und Freude zuteil, dem entgegenzugehen, der die Menschwerdung Gottes ist, Christus, der da sanftmütig und demütig in eine endlich gedemütigte Welt kommt: an uns ist es, ihm unsere Mäntel auf den Weg zu breiten, ihn mit dem Ölzweig des Friedens zu begrüßen und ihm den Lobgesang zu singen als dem, der da kommt im Namen des Herrn.

Das Gebiet, auf dem es vor allem Christus entgegenzugehen gilt, ist das Gebiet der sozialen Frage.

Es ist das Problem, das gegenwärtig als das schwerste und allgemeinste empfunden wird. Wenn es darum eine Synthese gäbe, die imstande wäre, es zu lösen, sie würde sich ohne weiteres das Recht verschaffen, überall Eingang zu finden, um schließlich das leitende Prinzip der neuen Ära zu werden. Wer aber kann leugnen, daß es heute im sozialen Bereich gerade Christus ist, dessen wir bedürfen?

ZwTti Systeme sind es, welche die Menschen des „humanistischen“ Zeitalters ausgedacht haben, um ihr Zusammenleben zu ordnen, und mit beiden wurden bereits großangelegte Experimente gemacht: das individualistische System mit den Experimenten des Liberalismus und das kollektivistische System mit den Experimenten des Kommunismus. Und wir kennen den Erfolg beider Systeme: Leiden über Leiden und Opfer, die niemand mehr zählen kann: auf der einen Seite die Massen der Proletarier, deren Arbeit die kapitalistische Welt nur soweit entlohnte, als unbedingt nötig war, um ihr Leben und ihre Arbeitskraft als Ausbeutungsobjekt zu erhalten, und auf der anderen Seite als ihr trauriges Gegenstück die Massen der Sklaven, die heute in den Ketten des totalitären Kollektivismus schmachten.

Nach diesen beiden Zusammenbrüchen ist die Welt endlich soweit, die Wahrheit Christi zu verstehen und aufzunehmen, die Wahrheit Christi, der nun das Wort sprechen möge, das harmonischer Ausgleich und fruchtbare Mitte ist: ein volles Ja zu Freiheit und Eigeninitiative und zugleich ein volles Ja zur menschlichen Solidarität. Aber weiß Christus wirklich dieses Wort? Und wie heißt es? Es ist gerade sein Wort, jenes Wort, das seinem Herzen das teuerste ist: die Liebe.

Christliche Liebe ist ein Akt freier Mensdien: man kann sie nicht durch menschlichen Zwang erpressen. Aber sie ist zugleich Altruismus einfachhin, Akt edelster Solidarität. Die soziale Verwirklichung des Geistes Christi ist das Ideal, nach.dem sich die Menschheit von heute unbewußt sehnt, da sie schon fast verzweifelt träumt von der „Freiheit in der Solidaritä t“.

Es ist an uns Katholiken von heute, großherzig alle Kräfte aufzubieten, um das Kommen dieser Zeit zu beschleunigen. Die Geschichte eilt einer christlichen Ära entgegen; unsere Generation hat ihren offiziellen Anbruch zu erklären; wir Katholiken müssen ihre ersten Verkünder sein. Es soll nicht ohne uns geschehen, was geschehen muß und was so herrlidt und schön ist; niemand soll uns diesen Kranz entwinden. Gewiß, es braucht Mut, diese Idee zu verkünden; es braucht Arbeit, um sie in die Tat umzusetzen; die führenden Klassen müssen Opfer bringen, um wirklich und aufrichtig ihre Bahnbrecher zu sein: aber all das zählt nichts gegenüber dem herrlichen Ziel.

Die soziale Neuordnung, die wir herauffuhren müssen — wir: die Denker, Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Unternehmer, Arbeiter, Bauern, Männer und Frauen —, sie ist die Grundlage einer neuen Zeit. Sie wird die beiden ewigen Werte wieder zu Ehren bringen: jenen, den der Liberalismus verkündet hat: die individuelle Freiheit, und jenen, den der Kollektivismus verkündet hat: die menschliche Solidarität, und sie wird beide Werte in eins verschmelzen und wird so aus dem Liberalismus den Egoismus bannen und aus dem Kollektivismus die Tyrannei.

Nun noch eine letzte Frage: Welches unter den katholischen Völkern wird die Initiative ergreifen, um diesen neuen Weg ins Licht zu gehen?

Ich denke da mit besonderem Vertrauen an Italien: seine natürliche Veranlagung macht es wohl am meisten fähig, die harmonische Einheit der beiden sozialen Forderungen zu verstehen; ferner ist das italienische Volk durdi die Gegenwart des Papstes in seiner Mitte in ganz besonderer Weise an die Kirche Christi gebunden; und schließlich liegt es heute — durch Umstände, die als providenziell bezeichnet werden können —

geographisch mitten zwischen den beiden Gegnern, welche beide Ideologien in extremer Weise verkörpern. Ich denke an Italien, wo meine eigene bescheidene Erfahrung die Universitäts-Aulen, Theater, Kinos, Kirchen, Stadien, Straßen, Plätze ... zum Bersten voll gesehen hat, um den Appell zu vernehmen, den ich angefangen habe, ins Volk zu werfen.

Aber warum sollte dieses Unternehmen auf ein einziges Volk beschränkt bleiben? Warum sollte es nicht gemeinsam begonnen werden: von allen katholischen Nationen des alten Europa? Von ihnen allen kann man doch wohl behaupten, was ich im besonderen von Italien gesagt habe: ihre Tradition besitzt noch genug christliches Erbe, um die beiden sozialen Forderungen und ihre harmonische Einheit zu begreifen; sie alle sind in besonderer Weise an die Kirdic gebunden; und sie stehen heute im Mittelpunkt der ungeheuren Auseinandersetzung, sie sind gleichsam der Boden, auf dem sich die beiden Hälften der Welt mit ihren mißglückten Experimenten begegnen.

Wehe denen, die inmitten der Zusammenstöße von Kontinenten allein stehen. Wenn wir aber eins sind, dann sind wir nicht zu klein: denn mit uns ist Christus!

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