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Humanismus — ohne Gott möglich?

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Wenn es keinen Vatergott gibt, warum soll ich dann gut sein?” Mit diesem Satz hat der achtzigjährige Max Horkheimer bei den Hochschulwochen in Bozen erklärt, weshalb er nicht in der Lage sei, Religion für das „Opium des Volkes” zu halten. Ob er für seine Person zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zurückgekehrt war, blieb damals offen. Aber daß hier ein Mann, der es sich weder im Leben noch in der Wissenschaft leichtgemacht hatte und der zu den großen Anregern und Wortführern der „kritischen Philosophie” gehörte, am Ende seines Weges zu der Einsicht gelangt war, die Existenz Gottes sei ein Postulat humanistischer Hoffnung, war ein so überwältigendes Signal, daß diesem schlichten Satz eine Pause atemloser Stille folgte. Auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte wagte es einer, auf den sie sich unablässig berief, ihr ins Angesicht zu widerstehen. Ein Bann war gebrochen.

Die Marxsche Kritik an der Religion, zumal an der Jenseits-Religion des Christentums, sie vertröste die Armen auf eine zukünftige Belohnung (von der sie außerdem wisse, daß sie nicht wirklich eintreffen werde), um sie vom Aufstand gegen ihre derzeitigen Unterdrücker abzuhalten, beherrscht noch immer zahlreiche Geister, obgleich sie überzeugend genug widerlegt ist, sowohl in der Theorie wie im Anschauungsunterricht der Weltgeschichte. Das könnte verwunderlich sein, wüßte man nicht, woraus sie ihre Lebenskraft zieht: aus ihrer Brauchbarkeit als Waffe gegen eine Religion, die dem Autonomie-Anspruch des Menschen dort eine Grenze zieht, wo die Autorität des Vatergotts beginnt, wo nicht mehr nur Nützlichkeit, Rationalität oder Willkür gilt, sondern das geoffenbarte Wort.

Eher verwunderlich bleibt, weshalb die Marxsche Religionskritik so tief in die christlichen Kirchen hineinwirken konnte, daß viele (und nicht die schlechtesten) Christen der Meinung sind, ihre Hauptaufgabe bestehe darin, die Welt in Richtung auf ein irdisches Paradies hin zu verändern, um damit zu zeigen, daß das Christentum keine Religion der Vertröstung, sondern ein Anstoß zur Humanisierung sei. Hier obwaltet ein doppeltes Mißverständnis. Die Marx- schen Vorwürfe gegen die Religion zu widerlegen, kann ja kein Lebenszweck; des Christentums sein, außerdem ist dies längst geschehen.

Keine der bekannten Hochreligionen der Menschheit hat so wirksam dazu beigetragen wie das Christentum, daß Wissenschaft und Technik, Fortschrittsdynamik und Streben nach Daseinskomfort zu Mächten wurden, die heute unsere Welt gestalten. Man braucht nur einen Blick auf jene Erdregionen zu werfen, die von anderen Hochreligionen geprägt sind, um diese Behauptung bestätigt zu finden. Sie gilt, auch wenn es genug retardierende Momente gab, die mit Argumenten aus der christlichen Überlieferung begründet wurden. Sie gilt sogar so sehr, daß heute ein grotesker Umschlag der Argumentation zu beobachten ist: Das biblische Gebot „Wachset und mehret euch und macht euch die Erde untertan” wird dafür haftbar gemacht, daß zweitausend Jahre Christentum eine Bevölkerungsexplosion verursacht und den Raubbau an den Naturschätzen ermutigt hätten.

Nun kann vernünftigerweise nur einer der beiden Vorwürfe richtig sein. Entweder hat Marx recht, dann haben die Christen über dem Jenseits die Sorge für das Diesseits vergessen. Oder die jüngste Kritik der Umwelt- paniker hat recht, dann haben die Christen zu schnell, zu intensiv, zu bewußtlos hinsichtlich der Folgen die Schöpfung ausgebeutet (Wenn der zweite Vorwurf zuträfe, könnte der Kulturauftrag der Genesis freilich keine Entschuldigung liefern. Denn „untertan machen” ist ja nicht gleich „ausbeuten”).

Gerade weil der Christ bewußt auf seinen Tod hin lebt, weil er weiß, daß sein eigentliches Leben erst nach diesem Tod anhebt, und weil er zwar gelegentlich (und zuweilen für lange) vergißt, aber wenigstens immer wieder vor Augen gestellt bekommt, daß es die Art und Weise, wie er sich während der relativ kurzen Zeit seines irdischen Daseins bewährt oder nicht bewährt, ist, die über seine spätere und ewige Existenz entscheidet — gerade deshalb steht er in der enormen Spannung, die ihn dazu treibt, seinen Platz in der Welt auszufüllen, Werke zu verrichten, die von dem gerechten Richter als gut anerkannt werden, seine Pflicht auch dort zu tun, wo keiner es sieht oder alle mit Undank antworten.

Diese Spannung auf eine ewige, grundsätzlich unverfügbare, nur durch pflichttreue Lebensbewährung positiv mitzugestaltende, letztlich von Gnade gewährte Zukunft hin war und ist die innerste Triebkraft der europäischen Geschichte. Sie hat den gewaltigen Bau der Daseinsgestaltung durch Wissenschaft und Technik ermöglicht, vor dem es uns heute aus gutem Grunde angst geworden ist, weil wir den Geist nicht mehr respektieren, der allein ihn beseelen kann und ohne den er eine wimmelnde Ruine wird. Immer wieder behauptet man, von einem „christlichen Abendland” könne nicht mehr gesprochen werden, weil es nur noch eine Minderheit von Christen gebe.

Mag sein, aber die Welt von heute könnte sich weder ernähren noch sich organisieren, wenn die Errungenschaften der „westlichen Zivilisation” nicht wären und nach und nach allen zur Verfügung stünden, auch denen, die aus statischen Kulturen stammen und diese Errungenschaften übernehmen, ohne ihre Ursprünge zu begreifen.

Der Irrtum derer, die den Christen einreden wollen, Mission sei eine veraltete Sache, man solle die Heiden nicht „bekehren”, sondern zu „besseren Heiden” machen, Alphabetisierung und Fabriken seien allemal wichtiger für die Völker der „Dritten Welt”, beruht gerade darauf, daß sie noch nicht begriffen haben, wie katastrophal es sein kann, wenn man die Ergebnisse einer tausendjährigen zivilisatorischen Anstrengung weitergibt, ohne die Antriebe deutlich werden zu lassen, aus denen sie entstand.

Wenn wir schon gelegentlich (und mit Recht) frösteln, weil die Gehäuse, die wir in Vergangenheit und Gegenwart gebaut haben, nicht mehr vom Geist ihres Ursprungs durchwärmt werden, weil das Ausrinnen des Sittlichen aus flem Recht in allen Justizpalästen das Licht der Gerechtigkeit auslöschen muß, weil der Ersatz von Erziehung durch emanzipa- torische Aufklärung die Schulen zu sinnlos sich drehenden Eichhörnchenkäfigen macht, weil die Umfunktionierung des Religionsunterrichts in ein Warenhausangebot potentieller Glaubensinhalte (meist dargeboten von Leuten, die weder Religionsphilosophie noch vergleichende Religionswissenschaft wirklich studiert haben) alle so kalt läßt, wie es sich gehört, weil wir selbst in manchen Kirchen nur zu hören bekommen, und zwar meist in blässerer Kopie, was uns auch „draußen” aus allen Lautsprechern entgegendröhnt, wenn wir schon frieren in einem Kulturgehäuse ohne Seele, obwohl wir immerhin noch wissen, wo sie zu finden wäre — wie eiskalt muß es darin Menschen aus Afrika oder Asien Vorkommen, denen wir zumuten (und denen es ja auch von Erfolgs wegen wünschenswert erscheint), dieses Haus als Muster zu betrachten und ihr eigenes danach auszugestalten?

„Wenn es keinen Vatergott gibt, warum soll ich dann gut sein?” Warum soll ich dann meine Brüder lieben und ihnen auch dort Gutes tun, wo es meinem egoistischen Interesse widerspricht? Warum soll ich überhaupt Brüder als solche erkennen und anerkennen, wenn es keinen gemeinsamen Vater gibt? Wo auf der Welt kommen Brüder zustande ohne Väter? Welchen Sinn kann das

Wort Bruder noch behalten, wenn das Wort Vater sinnlos geworden ist?

Der Appell der klassischen Aufklärung, die Menschheit müsse sich auch ohne Oberhaupt im Himmel als Familie begreifen und behandeln lernen, war — wie die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte lehrt (und wie man schon vorher wußte und wissen konnte) — eine gigantische Überforderung. Gutsein kann nicht allein aus dem Verstand geleistet werden. Und das Pathos der proletarischen Diktatur, das der Marxismus an die Stelle des Glaubens an den Vater im Himmel gesetzt hat, forderte in einem halben Jahrhundert mehr Todesopfer als die in der Tat schrecklichen Religionskriege zweier Jahrtausende in Europa. Was an Humanismus ohne Gott bisher praktiziert wurde, widerlegt Horkheimers Satz keineswegs.

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