6870612-1978_22_03.jpg
Digital In Arbeit

Das Christentum hat im Europa der Zukunft eine unfaßbar große Aufgabe fiwdirfijni

19451960198020002020

Kardinal Dr. Franz König sprach kürzlich vor der Katholischen Akademie Bayern über die geistigen Grundlagen des künftigen Europa. Gerhard Ruis hat seine Ausführungen gekürzt zusammengefaßt.

19451960198020002020

Kardinal Dr. Franz König sprach kürzlich vor der Katholischen Akademie Bayern über die geistigen Grundlagen des künftigen Europa. Gerhard Ruis hat seine Ausführungen gekürzt zusammengefaßt.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn wir mit nüchternem und realem Blick unsere Zeit und unsere Gesellschaft betrachten, müssen wir feststellen, daß Europa und seine Menschen eine Krise durchleben. Ich glaube, daß die tiefste Wurzel dieser Krise der westlichen Welt die geistige Entwurzelung des Menschen ist. Der westliche Mensch ist im Laufe der letzten Jahrzehnte der Versuchung des Materialismus erlegen. Das Geistige hat er weitgehend vergessen. Die wirtschaftlich-materiellen Interessen stehen eindeutig im Vordergrund. Das Geistige erstickt, die geistige Liebe verkümmert

Der Mensch unserer hochindustrialisierten Gesellschaft muß ständig lernen, denn die technische Leistung gelingt nur durch einen permanenten Lernvorgang. Das ist gut und richtig. Aber dadurch wird das menschliche Wahrheitsstreben und Bildungsverlangen fast ausschließlich auf den Intellekt hin ausgerichtet, die Weisheit bleibt auf der Strecke.

Liebe, Gefühl, Gemüt, Werterkenntnis und Werterfahrung sind in diesem intellektuellen Lernprozeß kaum gefragt. Werterkenntnis und Liebe lassen sich durch kein Zertifikat beglaubigen. Für Weisheit und Liebe erhält der Mensch keine Anerkennung. Es geht ihnen um immer mehr technisches Wissen, denn Wissen ist Macht, und Wissen ist Geld. Wissen bringt materiellen Wohlstand, Wissen ermöglicht Technik und Fortschritt. Wissen heilt leibliche Erkrankung, Wissen ist der Schlüssel zum irdischen Erfolg und Vergnügen.

In dieser einseitig technokratisch orientierten Gesellschaft unserer westlichen Welt will der Mensch für seine Leistungen auch etwas haben. Er will konsumieren. Aber dieses einseitige Konsumbedürmis macht den Menschen auf die Dauer unfähig, zum wirklich Geistigen, zur rechten Liebe, zur rechten Hingabe. Das Geistige des Menschen zeigt sich daran, daß er fähig ist, sich für hohe Werte und Ideale einzusetzen. Der heutige Konsummensch will immer mehr haben, verbrauchen, Vergnügen. Nächstenliebe, Dienst am Mitmenschen, Dasein für den anderen kennt der einseitige Konsummensch kaum mehr. Wenn sich das Europa der Zukunft als bloße Technokratie etablieren will, wird es an der geistigen Verkümmerung des Menschen zugrundegehen.

In der technokratischen Gesellschaft wird der Mensch unserer Tage zunehmend unfähig zu Stille und geistiger Besinnung. Er ist eingespannt in das sich ständig drehende Karussell von Produzieren und Konsumieren. Auch die reichlich bemessene Freizeit weiß der Mensch kaum noch für das Geistige zu nützen; er ist ja erschöpft, unfähig zur stillen Besinnung. In dieser Jagd nach dem materiellen Wohlstand geht der Mensch körperlich und geistig zugrunde. Die Ärzte alarmieren: alle Welt klagt über nervöse Erschöpfung, über Unlust und Müdigkeit, psychisch bedingte und organische Leiden aller Art

Der Mensch unserer Tage ist der

nervlichen Belastung nicht mehr gewachsen, dem Lärm, dem Tempo, der Hetze, Akkord und Schichtarbeit, dem Bewegungsmangel, dem Dauerstreß. Wenn der Mensch seine geistige Dimension verliert, dann können sich die stärksten und tiefverwurzelten Sehnsüchte des Menschen nicht mehr entfalten.

Wenn aber die stärksten Sehnsüchte des Menschen durch die Umwelt frustriert werden, dann wird der Mensch krank, neurotisiert. Die Sehnsucht nach dem Geistigen ist so stark, daß viele Menschen auch Irrwege in Kauf nehmen. Die Ausbreitung merkwürdiger Sekten, fernöstlicher Heilslehren, abergläubische und magische Praktiken in unserer durchrationalisierten Gesellschaft sind ein deutlicher Hinweis, daß sich der Mensch nicht auf seine materielle Dimension reduzieren läßt. Wenn ihm keine Werte im Bereich des Geistig-Seelischen angeboten werden, akzeptiert er auch offensichtlich Unwerte und Ersatzdrogen. Der internationale Terrorismus muß uns alle aufhorchen lassen.

Wenn wir im Europa der Zukunft dem Menschen nicht zur geistigen Entfaltung verhelfen, dann wird jener entwurzelte Typus sich ausbreiten, den wir schon heute oft vor Augen haben: »

• Der sinnlose Mensch, der in seinem Leben kaum noch Sinn sieht

• der gewissenlose Mensch, der keine innere Verpflichtung mehr spürt

• der wertfeindliche Mensch, der über Werte und Ideale nur noch müde lächelt,

• der besinnungslose Mensch, der um Stille und Besinnung nicht mehr weiß,

• der apathische Mensch, dem das Rückgrat gebrochen wurde

• der aggressive Mensch, der seine innere Spannung und geistige Not an anderen abreagiert

• der wahrheitsunfähige Mensch ohne Überzeugungen, denn die Überzeugungen stammen aus der Begegnung mit der letzten und absoluten Wirklichkeit.

In dem Maß, als der Mensch geistig verkümmert, werden die Probleme des künftigen Europa unlösbar werden.

Europa erlebt heute eine seiner kritischesten Stunden. U Thant, der einstige Generalsekretär der Vereinten Nationen meinte: „Es stehen uns vielleicht noch zehn Jahre zur Verfügung, in denen wir mit unseren Problemen grundsätzlich fertig werden müssen, sonst ist es zu spät.“ Wir brauchen einen neuen Menschen, ein neues Denken. Wir brauchen Menschen, die Probleme von einem geistigen und ethischen Standpunkt aus betrachten. Dann erst wird die Absurdität unserer Entwicklung bewußt.

Das Europa der Zukunft muß Menschen heranzubilden trachten, die geistige Verantwortung übernehmen können. Wenn das kommende Europa von vornherein darauf verzichtet, an die geistige Dimension des Menschen zu appellieren, dann werden wir die Rechnung in den nächsten Jahrzehnten präsentiert bekommen.

Wir werden dann nicht mehr imstande sein, die Habsucht des Menschen zu bändigen, die Ausbeutung und das Unrecht, die rücksichtslose Macht. Wir werden das Verbrechen, den Terror, die Entartung der Wirtschaft nicht mehr bändigen können. Wir werden die Zerstörungswut, die Verzweiflung und den Rachegeist, wir werden den Krieg und die Anarchie nicht mehr bändigen können. Ja, wir werden vielleicht tatenlos zusehen müssen, wie jene politische Ordnung zerfällt, die auf der Gleichberechtigung d^er Menschen, basiert, auf der Anerkennung der Würde und Freiheit aller Menschen. rfiüMöHijäl iÜG

Die politisch verfänglichen missionarischen Parolen des Ostens beanspruchen einen Idealismus, der dem Westen weitgehend fehlt. Im Westen verkündet man zwar die Parole der wirtschaftlichen Freiheit, versteht die Freiheit aber im Sinn des Egoismus als Recht auf persönliches Wohlleben, auf persönliches Genießen, auf Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen 90 Prozent der Weltbevölkerung, die unterernährt und unterentwickelt sind. Der Osten erklärt den Westen für de-

kadent, weil es dem Westen an Idealismus mangelt.

Paulus hätte gesagt: „Ihr Gott ist der Bauch.“ Wir können hinzufügen: „Ihre Religion ist der materielle Wohlstand.“ Wir fragen uns heute: Wie war es möglich, daß diese materialistische Religion des Fortschrittes ganz Europa zu überschwemmen droht? Die Antwort liegt in der europäischen Geschichte. Dieses Europa trägt zwei Seelen in seiner Brust: Einerseits lebt in Europa das christliche Bewußtsein mit seiner Gottsuche, seiner Wahrheitssuche und seiner Liebesfähigkeit, seiner Gewissensbindung an Gott, seinen edlen humanistischen Werten, die aus der tiefen Auffassung der menschlichen Würde und Berufung entspringen. Aber anderseits schlummert in diesem Europa auch die andere Seele: Ein Bild vom Menschen, das im materiellen Genuß den einzigen Lebenszweck sieht. Diese andere Seele wurde aus dem Erbe der Antike mithinüber genommen in das christianisierte Europa, wurde dort durch das Christentum scheinbar integriert, brach dann aber in der Zeit der Renaissance und der Aufklärung mächtig durch. Dieses andere Europa hat im Kommunismus, im Atheismus, in der neuheidnischen Zeit seine derzeit stärkste Ausprägung gefunden. Die Zukunft Europas wird sich primär nicht an der militärischen Stärke entscheiden, sondern in der geistigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Seelen Europas.

Der englische Historiker Arnold Toynbee schreibt in seinem Hauptwerk, daß augenfällige Verbesserungen der Waffentechnik stets mit deutlich feststellbaren Rückschlägen der Menschheit verbunden sind. Nach seiner Meinung wird nicht die militärische Stärke und die Entwicklung der Waffentechnik über die Zukunft Europas -entscheiden, sondern die Zukunft wird sich an der Kraft der geistig-sittlichen Werte dieses Europa entscheiden.

In der Auseinandersetzung zwischen Ost und West wird es darauf ankommen, ob Europa Ideale hat, für die es sich lohnt, zu leben und zu sterben. Für solche Ideale wird man eine hohe Opferbereitschaft aufbringen. Die größere Opferbereitschaft ist Zeichen für den größeren Idealismus. Dieser größere Idealismus wird in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West siegen. Der stärkere Glaube wird

siegen. Europa muß wieder zu seiner seelischen Kraft und christlichen Verwurzelung zurückfinden. Seine seelische Zerrissenheit schwächt seine Kraft. Die Seele wird heute hin und her gerissen zwischen christlichem Ursprung und atheistisch-materialistischer Versuchung. Wenn Europa dieser Versuchung erliegt, dann wird für Europa vielleicht all das Grauen Wirklichkeit werden, von dem Solsche-nyzin aus bitterer eigener Erfahrung spricht

Von Europa aus hat die technische Zivilisation ihren Siegeszug durch die ganze Welt angetreten. Auch Kommunismus und Unglaube haben sich von Europa aus über die Welt verbreitet. Dieses Europa kann sich auch heute nicht seiner geistigen Verantwortung entziehen. Von diesem Europa muß auch die geistige Erneuerung der Welt ausgehen. Sie kann nur in einer Erneuerung des christlichen Ursprungs bestehen. Nur eine neue Vertiefung in die geistigen Werte des Christentums kann Europa zu jener geistigen Einheit

führen, die stärker ist als alle Waffensysteme.

Das Christentum hat im Europa der Zukunft eine unfaßbar hohe Aufgabe. Es muß den Fundamenten Europas neuen Halt geben. Das bedeutet keine politische Einmischung der Kirche in den Staat. Aber ein Zusammenwirken von Kirche und Staat wird notwendig sein, weil beide Partner wissen müssen, daß sie nur gemeinsam ihre Aufgaben für das kommende Europa bewältigen können.

Gewiß ist, daß auch ein authentisches Christentum imstande sein wird, diese Aufgaben zu bewältigen. Alle Ersatzformen werden versagen, ein einseitig politisierendes Christentum ebenso wie ein Christentum, das sich mit bloßer Humanität identifiziert. Auch ein einseitig intellektuelles Christentum oder ein bloßes Brauch-Christentum werden diesem Anspruch nicht genügen.

Ein echtes Christentum, begründet auf der christlichen Gottes- und Nächstenliebe, wird Europa, das einstige christliche Abendland, noch retten können. Ich würde es begrüßen, wenn auf diesem geistigen Fundament der Einheit ein Europa als föderativer Bundesstaat entstünde. In diesem föderativen Bundesstaat müßte den einzelnen Ländern ein Initiativ- und Referendumrecht vorbehalten sein, nach dem Beispiel der Schweiz. Diesem Vereinigten Föderativen Bundesstaat Europa müßte die Außenpolitik, die Verteidigungs- und Währungspolitik überlassen bleiben, alle übrigen Ressorts sollten als Hoheitsrecht der einzelnen Länder anerkannt werden.

Wir alle sind Kinder dieses europäischen Geistes und dieser europäischen Heimat, der wir soviel verdanken. Aus dem Geist der vergangenen Jahrhunderte haben wir geschöpft, Und wir alle müssen uns bemühen, daß auch unsere Nachbarn aus dem Geist und der Kraft des alten Europa christlicher Prägung wieder schöpfen können und so auf einem geistig-sittlichen Fundament aufbauen können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung