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Verantwortung in der Welt

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In letzter Zeit ist die Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit wieder mehr diskutiert worden. Die Rede Kardinal Königs vor dem Gewerkschaftsbund, die Erklärung der Bischofskonferenz zum Entwurf eines Arbeitsverfassungsgesetzes hat dieses Problem wieder mehr in den Vordergrund von Überlegungen gerückt, als dies etwa,die Synoden auf der Ebene der Diözesen vermocht hatten. Nun steht im Herbst die' erste Session des österreichischen Synodalen Vorganges bevor, die Vorbereitungsarbeilen dazu sind seit langem im Gang, die Konstituierung ist bereits erfolgt.

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In letzter Zeit ist die Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit wieder mehr diskutiert worden. Die Rede Kardinal Königs vor dem Gewerkschaftsbund, die Erklärung der Bischofskonferenz zum Entwurf eines Arbeitsverfassungsgesetzes hat dieses Problem wieder mehr in den Vordergrund von Überlegungen gerückt, als dies etwa,die Synoden auf der Ebene der Diözesen vermocht hatten. Nun steht im Herbst die' erste Session des österreichischen Synodalen Vorganges bevor, die Vorbereitungsarbeilen dazu sind seit langem im Gang, die Konstituierung ist bereits erfolgt.

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In dieser Situation mag es sich lohnen, unabhängig von allen Thesen, die Enzykliken und bischöfliche Rundschreiben aufstellen, sich nüchtern zu fragen, ob die Kirche eine echte Chance hat, auf die Entwicklung maßgebender gesellschaftspolitischer Entscheidungen Einfluß zu gewinnen, ob sie zu einer entscheidenden Kraft auch der Entwicklung unserer Gesellschaft in der näheren Zukunft werden kann. Die Auseinandersetzung um das Problem der Abtreibung hat wohl gezeigt, daß es möglich ist, wesenhafte Lebensfragen mit allem Nachdruck zur Diskussion zu stellen, aber nicht bewiesen, daß auch die Chance besteht, die Entscheidungen echt zu beeinflussen.

Versucht man, den Ursachen nachzugehen, warum die „Stimme“ der Kirche in gesellschaftspolitischen Fragen in weiten Bereichen nicht oder nur wenig ankommt, stößt man doch sehr häufig auf die Tatsache, daß die Kirche auch in unserer Zeit oft als eine Institution angesehen wird, die mit feststehenden und traditionellen Werturteilen an diese Fragen der Gesellschaft herantritt, die aber nicht bereit ist, immer wieder kritisch und vorurteilslos ihre Haltungen und Einstellungen zu überprüfen und zu überdenken.

Der Wahrheit verpflichtet

Für eine Institution, die gewohnt ist, von einmal erkannten Grundwahrheiten auszugehen, ist es naheliegend, auch in gesellschaftspolitischen Fragen manches als sicher anzunehmen, das immer neuer Prüfung bedarf. Der hohe Wertrang der Wahrheit in Kirche und Christentum bringt es mit sich, daß an Erklärungen der Kirche oder ihrer Organe höchste Anforderungen gestellt werden müssen, nicht nur hinsichtlich Sachlichkeit und Objektivität, sondern auch in der Sicherstellung einer möglichst umfassenden Sicht des Gesamtzusammenhanges der menschlichen Gesellschaft überhaupt, soweit dies eben möglich ist.

Was zunächst die Verpflichtung zur Wahrheit anbelangt, geht es hier um ein Offensein für jede neue Erkenntnis. Dieses Offensein verlangt nicht nur einen radikalen Abbau von Vorurteilen aller Art, sondern auch eine immer neue Prüfung des „Vorverständnisses“, aller jener Kenntnisse und Erfahrungen, auf deren Grundlage wir zu bestimmten Erkenntnissen kommen. So erfolgreich der einzelne sein mag, seine Vorurteile abzubauen, so schwer wird es jedem, das Vorverständnis so kritisch zu prüfen, daß keine Verzerrung der Wahrheitserkenntnis eintritt; denn jeder Mensch nimmt „immer schon das Ganze seiner Welt mit“ (E. Co-reth). Für die Kirche oder einzelne willensbildende Organe, wie etwa Synoden, ist es wohl noch ungleich schwieriger als für den einzelnen, sich mit vorhandenen traditionellem „Vorverständnis“ soweit anzureichern, daß sich die gewonnenen neuen Erkenntnisse auf objektive, nach sachlichen Kriterien bestimmte Grundlagen stützen können. Höchste Bereitschaft, sich immer wieder fortzubilden, immer wieder kritisch zu fragen, und vor allem offen zu sein gegenüber jedem neuen Denkansatz — das alles mag entscheidend sein. Einem Vorteil gegenüber dem einzelnen hat aber jedes kollegiale Entscheidungsgremium: es kann im Dialog, in der Diskussion jene Offenheit sicherstellen, jene Bereitschaft zur ständigen Ausweitung und' Verbreiterung des Denkansatzes, die als so

entscheidend für den Erfolg angesehen wird.

Eines ist uns heute wohl noch zuwenig bewußt: die Chance, zu wirklich Neuem, Kreativem zu kommen, liegt — zumindest für den Bereich der Gesellschaft — nicht primär im neuen Erkenntnisobjekt begründet, sondern in unseren Denkvoraussetzungen. So mag auch die Chance des Christentums in der Gesellschaft nicht zuletzt davon abhängen, wieweit es gelingt, das Vorverständnis von jenen Vorurteilen zu reinigen, die sich im Zuge einer langen geschichtlichen Entwicklung angesammelt haben und als schwerer Ballast die heutige gesellschaftspolitische Auseinandersetzung belasten.

Der Gesellschaft verpflichtet

Wie die Verpflichtung zur Wahrheit zur größtmöglichen Weite des Denkansatzes verpflichtet, so auch die Bindung an den Dienst an der menschlichen Gesellschaft zur größtmöglichen Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Was ist damit gemeint? In immer mehr Bereichen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Kultur wirkt heute dieser weltweite Zusammen-

hang zunehmend stärker: Die internationale Zusammenarbeit auf so vielen Gebieten ist nur ein Symptom. Je mehr heute die Entscheidungen auf der Ebene eines Staates — und nicht nur einer Großmacht — das gesamte menschliche Leben berühren, je stärker die Erfordernisse der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen werden, desto mehr kommt es zu jenem „Aufstieg der menschlichen Verantwortung“, von der Teilhard de Chardin vor einem Vierteljahrhundert gesprochen hat. Wer nun, wie die Kirche, mitsprechen will in den Fragen dieser erhöhten gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, muß mit aller Kraft versuchen, die Gegebenheiten der gesellschaftlichen Dynamik zu erfassen und auf der Grundlage harter Arbeit Entscheidungshilfen für eine Gesellschaftspolitik vorlegen, die einer unsicher gewordenen Gesellschaft neue Zielrichtungen und Möglichkeiten aufzeigen.

Richard F. Behrendt hat gefordert, daß wir in jedem Land mindestens eine Stelle haben sollten, die sich der Erforschung der menschlichen Dynamik widmet, ferner, daß dieser gesellschaftliche Prozeß als das „grundlegende, allgemein-menschliche Phänomen unserer Zeit“ aufgefaßt werde.

Gerade aus christlicher Sicht er-

gibt sich die Frage: warum nur als grundlegendes Phänomen unserer Zeit? Das Christentum hat immer versucht, eine Deutung des Sinns des gesamtmenschlichen Entwicklungsprozesses zu geben. Nicht immer hat diese Sinndeutung eine so die menschliche Entwicklung bejahende Form gefunden wie bei Teilhard; im Gegenteil: so sehr sich die Kirche bemüht hat, auf die menschliche Gesellschaft einzuwirken, so wenig hat sie doch vermocht, den Fortschritt des menschlichen Geistes voll in ihre Sinndeutung des menschlichen Lebens einzubeziehen.

Vorrang des Geistigen

Für den Versuch, die Gesellschaft aus christlichem Geist immer wieder zu erneuern, ist daraus mancher Rückschlag entstanden. Eine volle Bejahung des geistigen Fortschrittes schließt eine positive Deutung auch jener „Chance der Unsicherheit“ ein, die in unserem kritischen Zeitalter mehr denn je gegeben ist, sofern jene harten Anforderungen an den Erkenntnisprozeß erfüllt werden, von denen gesprochen wurde.

Das alles zwingt Gremien innerhalb der Kirche, wie die Synoden und synodenähnlichen Einrichtungen, jene Empfehlungen und Beschlüsse, die sich auf Fragen der Gesellschaftspolitik beziehen, besonders kritisch zu prüfen und mit den gegebenen sozialen Verhältnissen in Einklang zu bringen. In manchen Fragen, in denen zur Zeit kein sicherer Weg aufgezeigt werden kann, mag es besser sein, nur weniges zu sagen: Darin besteht jene „Chance der Unsicherheit“, daß sie neuen Erkenntnissen den Weg öffnet und sich des Wagnis-

ses des menschlichen Lebens immer bewußt bleibt. Nicht alle offenen Fragen können beantwortet werden, in manchen aber kann auf der Grundlage einer intensiven Vorarbeit Wesentliches gesagt und geboten werden.

Eine Anerkennung des Vorranges geistiger Werte, wie sie dem Chri-tentum wesenhaft ist, bedeutet auch für die gesellschaftspolitischen Bemühungen, jene Fragen besonders in den Vordergrund zu stellen, die für den menschlichen Geist und seine Fortentwicklung entscheidend sind: Das sind nicht nur die Bildungsfragen, sondern genauso jene gesellschaftlichen Probleme, von deren Lösung der Bestand der staatlich organisierten Gesellschaft und darüber hinaus der gesamten menschlichen Gesellschaft abhängt. Besonders steht dabei der Ausgleichsgedanke auf allen gesellschaftlichen Ebenen im Vordergrund. Der soziale Ausgleich ebenso wie die Sicherung einer wirksamen innerstaatlichen und internationalen Friedensordnung, der weltweite Wohlstandsausgleich, die Gleichrangigkeit von Mann und Frau und nicht zuletzt das Mitbestimmungsproblem, dieses wiederum auf allen Ebenen, nicht zuletzt auch als entscheidende Frage einer Demokratiereform. Zu allen diesen Fragen kann nur aus einer

zukunftsorientierten Sicht Stellung genommen werden, auf der Grundlage einer Analyse jener gesellschaftlichen Prozesse, die mit diesen Fragen zusammenhängen.

Wie im Bereich des Glaubens heute mehr denn je der Wunsch vorhanden ist, von einfachen Grundtatsachen auszugehen, ist es auch in den entscheidenden Fragen der Gesellschaftspolitik mehr denn je notwendig geworden, einige wenige klare Grundtatsachen herauszustellen. Für die Kirche mag dabei mehr als irgend eine andere Tatsache die Einsicht entscheidend sein, daß es der Mensch als Geistwesen ist, dem ihre Sorge und Sendung gilt, daß dieser menschliche Geist in seinem immer dynamischer werdenden Entwicklungsprozeß einem wie immer auch zu bestimmenden Ziel zusteuert und es deutlicher denn je Aufgabe der Kirche sein wird, dem Menschen Vorrang und Sinnhaftigkeit des Geistigen erschließen zu helfen.

Menschliches Leben, das ein Höchstmaß an geistigen Entwicklungsmöglichkeiten in sich schließt, verlangt eine gesicherte soziale Ordnung, nicht zuletzt aber jenen Ausgleich auf allen Ebenen der Gesellschaft, der möglichst allen Menschen jenes Maß an geistiger Entfaltung ermöglicht, zu dem sie fähig und willens sind. So wird der Ausgleichsgedanke ganz entscheidend für ein Verständnis des Christentums unserer und der kommenden Zeit. Dabei kann unmittelbar auf eine lange Tradition christlicher Lebenswerte, ganz besonders auf die christliche Deutung des Friedens zurückgegriffen werden.

Zielrichtungen

Nicht die neuen Strukturen dürften das Entscheidende sein, weder im kirchlichen noch in anderen Bereichen der Gesellschaft, sondern zunächst eine Erneuerung des Denkens, das im kirchlichen Bereich noch vorurteilsfreier, noch kritischer, noch offener und „breiter“ im Sinne der Anreicherung des „Vorverständnisses“ werden muß. Darin könnten die weiteren Synoden sehr viel leisten. Die Hilfen für die Gesellschaft sollten in der Erarbeitung tauglicher Entscheidungsgrundlagen für jene Fragen bestehen, auf die im Zusammenhang mit den Problemen des geistigen Fortschritts und des Ausgleiches auf allen gesellschaftlichen Ebenen hingewiesen wurde. Die Frie-

densfunktion der Kirche wurde immer wieder auch außerhalb des Kreises ihrer Bekenner verstanden und gewürdigt. Von hier ausgehend, besteht die Chance, auf einer ungleich breiteren Basis für die Rechte aller Benachteiligten einzutreten, mögen diese nun alte Menschen, Gastarbeiter, Menschen in Abwanderungsgebieten, Körperbehinderte oder Angehörige von Minderheiten sein. Weit darüber hinaus sind kirchliche Ent-scheidungs- und Beratungsgremien aber verhalten, für jene Gleichrangigkeit der Menschen einzutreten, die der Natur entspricht und die nicht einmal zwischen den Geschlechtern gegeben ist. Hier hat das Christentum wohl viel zur Hebung des Ansehens der Frau in einer Welt beigetragen, die der Frau einen minderen Rang eingeräumt hatte. Dennoch bleibt noch Entscheidendes nachzuholen. Für den weltweiten Wohlstandsausgleich zu sprechen, ist die Kirche noch mehr berufen, dies vor allem angesichts ihrer jahrhundertealten Leistungen in so vielen Ländern der Welt, lange ehe das Wort Entwicklungshilfe gefunden wurde. Nicht zuletzt ist es auch die biologische Grundlage des menschlichen Lebens, für die eine Kirche immer wieder einzutreten hat, die sich so vieles vom menschlichen Geist erhofft. Der Schutz des Lebens geht heute weit über die Fragen des ungeborenen Lebens hinaus und umfaßt die Abwehr aller jener Gefahren, die aus der Bedrohung der Umwelt kommen.

Den Zusammenhang aller dieser lebensbedrohenden Erscheinungen aufzuzeigen und klarzumachen, daß es nicht nur um die Sicherung des Lebens in der einen oder anderen Form geht, sondern eben des Lebens schlechthin, könnte eine Chance weiterer Synoden sein. Ebenso wichtig ist der Nachweis des Zusammenhangs dieser Lebensgrundlagen mit der Fortschrittsidee des menschlichen Geistes. Der Vorrang des Geistigen bedeutet eine Einordnung des biologischen Gegebenheiten in die Entwicklungsziele der menschlichen Gesellschaft.

Die Synoden sollen sich auch in besonderer Weise zur pluralistischen Gesellschaft bekennen, zur Vielfalt der Meinungen, dies aber nicht im Sinne einer Resignation, sondern als bewußte Bejahung einer Erscheinung, ohne die es keinen geistigen Fortschritt geben könnte. Die gesellschaftliche Entwicklung drängt mit geradezu elementarer Gewalt zu größeren Einheiten, auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Darin liegt aber nicht nur eine Chance für eine bessere Gesellschaftsordnung, nicht nur eine Voraussetzung eines weiteren geistigen Fortschritts, sondern ganz besonders auch eine Chance des Christentums, das auf letzte Einheiten hindrängt. Die realistische Einschätzung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses läßt allerdings erwarten, daß diese größeren Einheiten nicht aus einer Fusion der vorhandenen gesellschaftlichen Gebilde entstehen, sondern mehr durch ein Mit- und Nebeneinander gekennzeichnet sein werden. Diese gegliederte pluralistische Gesellschaft mehr zu geistiger Einheit hinzuführen, sollte hervorragendes Ziel auch des österreichischen Synodalen Vorganges sein.

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