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An alle Menschen guten Willens

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Um Sinnfragen, Werte und Ziele geht es im Abschnitt IV des Sozialhirtenbriefes:

(107) Wir wissen, daß es auch in den geistigen und sittlichen Werten eines Volkes eine Entfaltung gibt. Wir wissen ebenso, daß geistige und sittliche Werte nicht verordnet werden können. Aber wir wehren uns mit aller Entschiedenheit dage- gen, daß die in einem Volk vorhan- denen, für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbaren und in viel- fachen gesellschaftlichen Gebilden verwurzelten sittlichen Werte un- tergraben, ausgehöhlt und an den Rand gedrängt werden. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, wenn man den gesellschaftlichen Pluralismus mit Wertneutralität verwechselt. Manche glauben, auf die Verwen- dung von sittlichen Begriffen wie Gut und Bös im öffentlichen Leben überhaupt verzichten zu können. Die sittlichen Werte eines Volkes müssen stets neu vertieft, konkreti- siert, geschützt und verteidigt wer- den - auch durch das verantwortli- che Handeln des Staates. Darin besteht eine wesentliche Aufgabe der Sorge um das Gemeinwohl.

(108) Die modernen Kommuni- kationsmittel trifft eine große Ver- antwortung. Wir bejahen die Pres- sefreiheit und das Recht auf Infor- mation. Wir appellieren aber gleich- zeitig eindringlich an das Gewissen der Verantwortlichen: Die geistig- sittlichen Werte, einmal aufgelöst, sindnicht leicht wiederzugewinnen. Sie brauchen dringend den Dienst der Wahrhaftigkeit und Wahrheit, der Verpflichtung und des Schut- zes. Die öffentliche Meinung hat nicht nur ein Anrecht auf kritische Kontrolle, sondern auch auf gesell- schaftliche Leitbilder, auf Respekt vor persönlichen Überzeugungen und auf Wahrheit.

Unmißverständlich stellt der Brief die Kirche als Anwalt für den Grundwert Leben heraus:

(110) ...Mit Bedauern stellen wir fest, daß es uns nicht gelungen ist, die Menschen unseres Landes zu überzeugen, daß sie durch ihre Mehrheit die Voraussetzung für einen eindeutigen Schutz des unge- borenen Lebens geboten hätten.

Wenn der Mensch der Weg der Kirche ist, dann muß sie zu diesem Menschen in all den Stufen seines Lebens stehen: vom Beginn bis zum Tod. Diese Botschaft gründet im Wissen aus dem Glauben um den göttlichen Ursprung jedes mensch- lichen Lebens und um seine Beru- fung zur ewigen Teilnahme an der Herrlichkeit Gottes. Damit ist die- ses Leben der Willkür des mensch- lichen Zugriffes bedingungslos ent- zogen.

(111) Die Kirche verteidigt daher das Lebensrecht der Ungeborenen. Wir verurteilen mit aller Entschie- denheit, daß in Österreich fortge- setzt eine große Zahl ungeborener Menschen durch Abtreibung getö- tet wird. Es wird heute viel von der Vermenschlichung von Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen, von der Solidarität gegenüber jenen, deren Lebenschancen verkürzt sind. Warum gibt es nicht mehr Solidari- tät mit jenen, deren Lebenschancen ohne Schuld am meisten bedroht sind? Warum werden bei Schwan- gerschaften in Konfliktsituationen nicht mehr Anstrengungen unter- nommen, um günstigere Bedingun- gen für ein Annehmen des Kindes oder auch für die Freigabe zur Adoption zu schaffen? Warum be- teiligen sich so viele Menschen gegen Gottes Gebot an der Tötung der Ungeborenen?

Der Umgang mit dem Leben zei- ge den Entwicklungsstand einer Gesellschaft, betonen die Bischöfe, die sich auch Sorgen um die alten Menschen machen:

(113) Für die letzte Lebensphase halten manche schon das Angebot des „schönen Todes" (Euthanasie) bereit. Wie am Beginn, so soll auch am Ende des Menschen über sein Leben verfügt werden. Die Kirche verurteilt solche Versuche aus- nahmslos. Sie muß aber gleichzei- tig mit dafür Sorge tragen, daß Menschen auf ein Sterben in Würde vorbereitet werden und den Tod aus der Kraft des Glaubens an- nehmen können.

Angesichts diverser Bedrohungen durch Wirtschaft und Freizeitin- dustrie plädieren die Bischöfe für eine Sonntagskultur:

(116) Wenn wir hier von der Welt der Werte sprechen und nach Ein- richtungen suchen, in denen diese Werte in besonderer Weise zum Aus- druck kommen, dann treffen wir immerwiederaufden Sonntag. Für den glaubenden Menschen gründet dieser Wert in seinem religiösen Inhalt und in der darausfolgenden Sonntagspflicht zur Mitfeier der Eucharistie. Dieser Tag hat aber auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Der Sonntag ist Tag der gemeinsamen Entspannung und Erholung. Er schenkt den oft zer- rissenen Familien die unersetzbare Zeit des Zusammenseins. Er bietet den im Arbeitsprozeß vereinsam- ten Menschen die Möglichkeit zwi- schenmenschlicher Erfahrung und er schafft Raum zu geistigem Tun und schöpferischer Pause.

(117) ...Die Kirche nimmt die Anliegen unserer Wirtschaft durch- aus ernst und weiß um die Bedeu- tung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die damit zusam- menhängende Sicherung der Ar- beitsplätze. Gewiß hat es immer Ausnahmen vom Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit gegeben. Es wird diese auch in Zukunft geben müssen, wenn ein kontinuierlicher Produktionsprozeß aus technisch zwingenden Gründen notwendig ist oder dringend notwendige gesell- schaftliche Bedürfnisse die Sonn- und Feiertagsarbeit verlangen. Diese Ausnahmen müssen aber aus strengen, sittlich gerechtfertigten Kriterien der Notwendigkeit be- gründet werden. Wirtschaftliche Vorteile allein können keine Aus- nahme vom Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit rechtfertigen. Nicht eine Flexibilisierung der Sonn- und Feiertage, sondern eine Reduzie- rung der Ausnahmen für Sonn- und Feiertagsarbeit sollte durch den technischen Fortschritt erreicht werden.

Das Kapitel „Aus Werten leben - die Zukunft gestalten" erinnert an die Illusionen, mit denen die katho- lische Soziallehre immer konfron- tiert war, und fordert wertgebun- denes Handeln im Alltag:

(122) Die Werte, die wir als große Errungenschaft der heutigen Welt bezeichnen, wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung für die Schöp- fung, dürfen sich nicht in feierli- chen Deklarationen erschöpfen. Sie müssen unseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag for- men: die Betriebe, die Orts- gemeinden, die sozialen Einrich- tungen, die politische Praxis. Wert- gebundenes Verhalten darf nicht nur von einzelnen eingefordert werden, Werte müssen auch von den gesellschaftlichen Institutionen bejahtundvon ihren Trägern glaub- würdig vorgelebt werden...

Im abschließenden Abschnitt V, „Der Weg der Kirche", steht das Thema Heilsbotschaft und Option für die Armen ganz oben und wird auf drei Forderungen der Enzykli- ka „Sollicitudo rei socialis" hinge- wiesen:

(124) Erstens: Der christliche Glaube ist kein soziales Aktions- programm. Er ist göttliche Heils- botschaft, „zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person". In dieser Berufung zum endzeitlichen Heil besteht die größte Würde des Men- schen und darin gründen letztlich auch seine unverletzlichen Rechte. Wenn die Kirche den Menschen den Glauben verkündet, wenn sie ihnen in den Sakramenten das göttliche Leben vermittelt und vertieft, wenn sie sie durch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe wegweisend durch den Alltag begleitet, dann leistet sie dadurch einen Beitrag zur Würde und zum Lebensglück der Menschen, der von keinen an- deren gesellschaftlichen Kräften gleichwertig vermittelt werden kann...

(125) Zweitens ist die Kirche auch verpflichtet, Situationen aufzuzei- gen, in denen diese Würde und die Rechte des Menschen verletzt wer- den. Die katholische Soziallehre hat das in ihrem ersten Sozialenrund- schreiben getan, als sie von einem sklavenähnlichen Los der Industrie- arbeiter sprach, und sie tat dies in dem letzten Entwicklungsrund- schreiben, wo sie „Strukturen der Sünde" ankreidete, die zur Aus- beutung der Dritten Welt wesent- lich beitragen.

Aus dieser Verpflichtung ist auch die vorrangige Option der Kirche für die Armen zu verstehen. Diese Option ist keine Erfindung sozialer Extremisten, sondern Beispiel und Auftrag Christi. ...Die Option für die Armen gilt auch für die Kirche in Österreich...

(126) Damit ist bereits die dritte Forderung angesprochen: Der po- sitive Beitrag der Kirche zur Ver- wirklichung der Würde und Rechte des Menschen. Dazu zählen Stel- lungnahmen zur Vermenschlichung von Arbeit, Wirtschaft und Gesell- schaft, wie sie in diesem Sozialhir- tenbrief enthalten sind, aber auch all das, was die Kirche in Öster- reich für die Jugend, die Alten und Kranken, die Behinderten und die gesellschaftlichen Randschichten tut.

„Unterwegs mit den Menschen" will die Kirche sein, wie es der Titel des letzten Kapitels ausdrückt, das fünf zusammenfassende Punkte enthält. Angesprochen werden darin Bewußtseins- und Gewissens- bildung, auch gegen Widerstände, neue ökumenische Zusammenar- beit, die Förderung von Bildungs- einrichtungen, konkrete kirchliche Initiativen, die Anerkennung des Einsatzes der Laien im öffentlichen Leben, die Zusammenarbeit und der Dialog mit allen, die Rolle der Kirche in Österreich und die Her- ausforderungen der Zukunft. Schlüsselpassagen lauten:

(127) ...Wir werden uns in Zu- kunft noch stärker um eine dem Evangelium entsprechende gesell- schaftspolitische Bewußtseinsände- rung und Gewissensbildung bemü- hen müssen. Die großen anstehen- den sozialen Probleme wie Arbeits- losigkeit, die Sorge für Alte und Kranke, die Beheimatung von Flüchtlingen und Zuwanderern, die Entwicklung der Völker der Drit- ten Welt, die Verantwortung für die Schöpfung und die Umwelt können nur gelöst werden, wenn es gelingt, zu einer breiten sozialen Umkehr in der Bevölkerung zu kommen. Nie- mand gibt sich einer Täuschung hin, wie schwierig es ist, diese Aufgabe zu erfüllen und mit wie vielen Widerständen dabei zu rechnen ist...

Die Lösung der weltweiten wirt- schaftlichen, sozialen und politi- schen Probleme verlangt eine ganz neue Zusammenarbeit aller Chri- sten, der großen Religionen der Welt und aller Menschen guten Willens. Wir sind davon überzeugt, daß die- se Zusammenarbeit auch für die Lösung innerstaatlicher sozialer Probleme von großer Bedeutung ist. Dankbar anerkennen wir die bishe- rigen gemeinsamen Initiativen. Wir werden uns in Zukunft noch mehr bemühen, daß der Geist der Ökumene sich nicht nur auf reli- giöse Anlässe beschränkt, sondern in zunehmender Weise auch zu gemeinsamen gesellschaftspoliti- schen Initiativen führt...

(128) ...Wir erwarten im An- schluß an diesen Sozialhirtenbrief von den einzelnen Mitchristen, von den Pfarren und Ordensge- meinschaften, von den katholi- schen Verbänden, Organisationen und Bewegungen in verstärktem Ausmaß solche Initiativen. Sie sollen im voraus wissen, daß wir ihren Einsatz und ihr Bemühen mit allen uns zur Verfügung stehen- den Mitteln unterstützen werden.

(129) ...Ebenso aber verdienen alle jene Frauen und Männer die volle Unterstützung der Kirche, die sich als katholische Laien in den verschiedenen Bereichen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens zum Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen...

(130) ...Die Kirche wendet sich mit ihrer Soziallehre nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens. Sie ist davon überzeugt, daß die Würde des Menschen und das Wohl der Gesellschaft nur durch die Zusam- menarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte gesichert werden kann. ...Die Kirche in Österreich wird auch in Zukunft allen Wert darauf legen, daß ihre Sendung unver- fälscht religiöser Natur bleibt und daß sie daher „an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebun- den ist" (Gaudium et spes 42).

Die Kirche wird aber auch daran festhalten müssen, daß sie aus ihrer religiösen Sendung das Recht und die Pflicht ableitet, für die Würde und Rechte des Men- schen auch im öffentlichen Leben einzutreten. Sie'wird das gelegen oder ungelegen tun, nicht aus po- litischer Herrschsucht oder aus dem Streben nach Privilegien, son- dern aus Treue zu ihrem Auftrag, mit der Haltung des Dialogs und des Dienstes:

...Wir wissen aus der Erinnerung an die Tragödie der Unfreiheit unseres Landes, wie sehr es darauf ankommt, daß alle gesellschaftli- chen Kräfte rechtzeitig und mit eindeutiger Entschiedenheit den demokratischen Staat um des Menschen willen verteidigen. Wir wollen uns im Blick auf die Zu- kunft keiner falschen Sicherheit hingeben...

(131) ...Wir befinden uns am Ende des zweiten Jahrtausends in der Welt eines unvorhergesehenen Umbruches: Weltanschauungen, die ein Jahrtausend prägen woll- ten, brachen zusammen. Politische Systeme, die als unveränderlich galten, wurden aufgebrochen. Mauern, wurden abgetragen und Völker gehen aufeinander zu. Die Zukunft zeigt sich reich an Mög- lichkeiten und Hoffnungen, aber auch bedroht von Ratlosigkeit und der Gefahr des Rückfalls...

(132) Wir wollen es am Schluß unseres Sozialhirtenbriefes im Namen unserer Brüder und Schwe- stern sagen: Wir Katholiken in Österreich sind bereit, uns diesen Herausforderungen zu stellen. Wir wissen um den Glauben unserer Brüder und Schwestern, aus dem sie immer wieder die Kraft schöpften, Krisen zu bewältigen und aufeinander zuzugehen. Sie werden auch den Weg zu einer neuen Vermenschlichung von Ar- beit, Wirtschaft und Gesellschaft finden. Die Menschen unseres Lan- des haben sich trotz aller An- fechtungen nie in einem egoisti- schen Wohlstandsdenken abge- schlossen. Sie wissen auch heute um ihre weltweite Verantwor- tung und sind bereit, dafür Opfer zu bringen...

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