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Die Zukunft der Menschheit

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Durch die Euphorie des Wohlstandes getäuscht, scheinen wir die Existenzkrise, die die Völker der nördlichen Hemisphäre, vor allem die Industriestaaten erfaßt hat und unter deren Einfluß weite Gebiete in der Dritten Welt geraten sind, nur schwer zu erkennen. Auch in unserem Lande zeichnen sich deutliche Symptome ab: Hohe Zahl der Selbstmorde, Relativierung grundlegender moralischer Werte, Mißachtung des Lebens, die wachsende Gewalt im täglichen Leben. Im Gefolge dieser weltweiten Krise sind viele Menschen arbeitslos, werden Unzählige zu Opfern der Unterdrückung, der Unterentwicklung und Unterernährung. Als Menschen einer Welt, die durch die immer engere Verstrik-kung und Abhängigkeit der Nationen voneinander nur gemeinsam den Weg vom Unheil zu Gerechtigkeit und Frieden für alle suchen und beschreiten können, sind wir verpflichtet, uns dieser Krise zu stellen. Wir müssen versuchen, ihre Wurzeln aufzudecken und im Lichte des Evangeliums jene Kräfte aufzuzeigen, die zur echten Befreiung des Menschen und der Gesellschaft zu führen vermögen.

Liegen die letzten Ursachen dieser Krise, die im Persönlichen, im Sozialen, in Wirtschaft, Politik ihre Wurzeln hat, und in den internationalen Beziehungen unterschiedlich, aber konsequent von der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung ausgeht, nicht darin, daß einerseits das Ziel dieser Systeme in erster Linie nicht der Dienst am Menschen und dessen gemeinschaftliche Entfaltung ist, sondern Macht und Gewinnstreben — und anderseits das menschliche Leben und der Verlust seiner transzendenten Dimension auf das Rational-Sinnlich-Materielle. reduziert wird und so seine wahrhafte Sinngebung verloren hat?

Diese Systeme prägen in West und Ost in erschreckend ähnlicher Weise den Menschen. Wird nicht der junge Mensch bereits sehr früh den Forderungen der Gesellschaft unterworfen und Erziehung zu schöpferischer Entfaltung im Dienste der Gemeinschaft immer stärker ersetzt durch unkritische Anpassung an die Forderung nach Besitz, Beherrschen und Genießen? Wird nicht durch Konkurrenzkampf oder Ideologieansprüche im Menschen ein Feindbild aufgerichtet, das in der Folge zu Ver-*-teidigungisbaltungen und Aggressivität führt? Ist es nicht nahezu selbstverständlich geworden, seinen vermeintlichen Rechtsanspruch nicht nur im persönlichen Leben, sondern auch auf sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Ebene ohne Zögern, unter Verletzung der Grundwerte, ja sogar der Lebensrechte des anderen im Machtkampf durch verschiedene Formen der Gewalt durchzusetzen?

Bei dieser Manipulation des Menschen haben die Massenmedien eine Schlüsselrolle. Die Spirale der Gewalt, die hier sichtbar wird, erreicht ihren Höhepunkt im Konzept der bewaffneten Verteidigung, im Gleichgewicht der Abschreckung, das zur Monstrosität der internationalen Rüstung und der damit verbundenen Militarisierung der Welt führt.

Die jüngsten Forschungen des Internationalen Stockholmer Friedensinstitutes (1967) zeigen, daß allein das Vernichtjungspotential der taktischen Kernwaffen der USA und der Sowjetunion heute rund 50.000 Hiroshima-Bomben entspricht. Die Weltrüstungsausgaben werden 1976 die 300-Müliarden-Dollar-Grenze überschreiten. Auf Grund dieser ständig steigenden Tötungskapazität wächst täglich die Gefahr eines atomaren Unterganges.

Die Kirche nimmt die hier sichtbar gewordene Sorge um die Zukunft sehr ernst. In einem Dokument, das der ständige Beobachter des Vatikans bei der UN im Frühjahr dieses Jahres allen Regierungsvertretern überreichte (vgl. Osservatore Romano, 3. Juni 1976), wird nicht nur der Rüstungswettlauf ohne Einschränkung verurteilt, sondern darüber hinaus die Verurteilung des totalen Krieges — die das II. Vatikanische Konzil aussprach — zu einem zentralen Lehrpunkt erhoben und die Lehre des Konzils über die legitime Verteidigung indirekt ebenfalls neu interpretiert:

„Der offensichtliche Widerspruch“, so heißt es in dem Dokument, „zwischen der Versehwendung durch die Überproduktion militärischer Mittel und der Summe nichtjbefriedigter vitaler Bedürfnisse (Entwicklungsländer, Arme oder Randgruppen in den reichen Ländern) ist schon eine Aggression gegen jene, die darunter leiden. Diese Aggression geht bis zum Verbrechen: Selbst wenn die Waffen nicht gebraucht werden, töten sie allein durch ihre Kosten die Armen, indem man diese vor Hunger sterben läßt... Der Rüstungswettlauf ist ein Unsinn, weil er ein Mittel ist, das sein Ziel nicht erreicht. Er garantiert nicht die Sicherheit“.

In gleicher Weise werden auch die klassischen Waffen und der Waffenhandel verurteilt, die vor allem in der Dritten Welt Konflikte hervorrufen und nähren. Angesichts des totalen Krieges „ist das Konzil jedoch kategorisch. Es verurteilt auf radikale Weise die Anwendung der Massenvernichtungswaffen. Dies ist sogar die einzige .Exkommunikation', die sich in seinen Texten findet.“ Da der Rüstungswettlauf auch in neuester Zeit immer wieder mit dem Hinweis auf die legitime Verteidigung gerechtfertigt wird sagt nun dieses Dokument von hoher kirchlicher Autorität mit aller Deutlichkeit, daß er selbst im Namen der legitimen Verteidigung nicht gerechtfertigt werden kann. Wo Massenvernichtungswaffen zur Anwendung gelangen, ist das Recht auf Verteidigung nur noch ein Recht und eine Pflicht zu gewaltfreiem Widerstand.

„Wenn es keine Proportion mehr gilbt, zwischen dem verursachten Schaden und den Werten, die man zu schützen sucht, ,dann ist es besser, die Ungerechtigkeit zu erdulden, als sich au verteidigen (Pius XII.)' — wenigstens als sich mit diesen Mitteln zu verteidigen. Das Recht und die Pflicht auf einen aktiven, aber gewaltfreien Widerstand gegen die ungerechte Unterdrückung bleiben aufrecht, und zwar im Namen der Rechte und Würde des Menschen“ (Osservatore Romano, 3. Juni 1976).

Neben dem Militärischen muß als die zweite vernichtende globale Gewalt die gegenwärtige Wirtschaftsund Handelspolitik der reichen Staaten bezeichnet und abgelehnt werden. Sie verursacht und festigt die Unterentwickliung der Dritten Welt und trägt somit die Verantwortung für zahllose Opfer an Menschenleben. Die Erklärung der 6. Sondergeneralversammlung der UN von 1974, eine neue Wirtschaftsordnung aufrichten zu wollen, spricht für eine wachsende BewußtseinsbUdung im Hinblick auf diesen Konflikt.

Doch auch hier ist die entscheidende Frage zu stellen: Wird es gelingen, den Kampf um die Durchsetzung von wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit für die Entwicklungsländer mit friedlichen Mitteln zu führen, oder mündet er unweigerlieh in die Spirale der bewaffneten Gewalt — in einen Vernichtungs-kampf zwischen Nord und Süd? Muß nicht angesichts dieser ungeheuren Bedrohung der dringende Appell der römischen Bisohofssynode von 1971 endlich ernst genommen werden: „Unbedingt geboten ist es, internationale Streitigkeiten nicht durch Krieg auszutragen. Andere der Menschennatur angemessenere Mittel und Wege müssen gefunden werden. Überdies soll die Strategie der Gewaltlosigkeit gefördert werden.“

Wir sind mit einer „Revolution“ globalen Ausmaßes konfrontiert, die jeden Menschen unserer Erde mit einbezieht. Sie fordert die Wiederentdeckung der geistigen Kräfte des Menschen — die innere Befreiung — und die radikale Umgestaltung entfremdeter Gesellschaftsformen zugunsten der Entfaltung aller Menschen: die äußere Befreiung. In diesem Suchen nach Alternativen treffen sich Christen mit Gläubigen anderer Religionen und humanistischen Atheisten. Denn wo immer über die großen Probleme unserer Zeit entschieden wird, muß unausweichlich gewählt werden: Entweder Unterdrückung, Ausbeutung, Vernichtung des menschlichen Lebens oder aber seine Achtung und Entfaltung in gewaltfreien Prozessen (vgl. H. Goss-Mayr, Der Mensch vor dem Unrecht, 1976, S. 11).

Worin liegt nun aber das Wesen der vom Konzil, von der römischen Bischofssynode und dem Vatikanischen Dokument über Abrüstung (geforderten gewaltfreien Alternative: Wie wird sie im Heilsplan Gottes sichtbar, welche Kräfte und Methode bietet sie an im Ringen um Frieden und Versöhnung in Gerechtigkeit?

Aus der Kraft der Gewaltlosigkeit leben und wirken heißt, jene Kraft im Menschen aufzudecken und wirksam zu entfalten, die Gott, der Vater, uns offenbarte, als er auf die Empörung, das Unrecht, auf alle Sünde der Menschheit nicht mit neuer Gewalt antwortete, sondern das Böse für alle Zeiten durch den höchsten Akt göttlicher Liebe, durch die Hingabe seines Sohnes, überwand. Wollte Gott uns nicht dadurch offenbaren, daß Unrecht letztlich nur aus der Macht der Gerechtigkeit und Liebe — das heißt der Feindesliebe, der göttlichen Liebe — überwunden werden kann, nicht aber mit den Mittein des Bösen, wie wir Menschen es so lange versucht haben? Diese göttliche Macht hat er uns durch die Lehre, durch das Leben und das Kreuzesopfer Christi geof-fenbart. Während seines Wirkens zeigte Jesus vergangenes und bestehendes Unrecht auf, er verurteilte es und konfrontierte das Gewissen der Menschen mnit der Wahrheit. Durch Christus ist diese Macht der Wahrheit und Gerechtigkeit in jedem Menschen grundgelegt und kann in jedem verwirklicht werden.

Die Erlösungstat bezeugt Gottes unerschütterliches Vertrauen auf den Menschen: Er baut auf sein Gewissen, auf seine Fähigkeit, sich zu verändern. In der Nachfolge ist der Christ berufen, mit der Kraft der Gerechtigkeit und Liebe für die Uberwindung des Unrechtes in sich und in der Gesellschaft zu kämpfen und so eine Gesellschaftsordnung mit aufzubauen, die den Menschen

—jeden Menschen — achtet. Nicht um die Vernichtung des Gegners geht es, sondern darum, durch das Handeln derer, die Unrecht leiden, einen so dringenden Angriff auf das Gewissen der Verantwortlichen — einen so starken Druck auf die Mächtigen auszuüben, daß der Apparat, der das Unrecht konstituiert, gezwungen wird, stillzuhalten und neuen Bedingungen gemäß zu wirken.

—Zahn um Zahn“ ist überwunden durch eine neue schöpferische Haltung: durch den Angriff der Macht göttlicher Gerechtigkeit und Liebe auf das Gewissen dessen und derer, die das Unrecht begründen. Dadurch wird das Böse an seiner Wurzel überwunden, werden neue Haltungen gewonnen und so die Situation des Unrechts auch in den Strukturen verändert. Niemals hat Christus Unrecht schweigend gelten lassen, nie darf der Christ dies tun. Aber er bekämpft es mit neuen revolutionären Waffen. Wie der vom Unrecht Betroffene ist auch der dafür verantwortliche Gegner in die Befreiung eingeschlossen. Ihm wird die Möglichkeit der Umkehr und des Mitwirkens am Gemeinwohl angeböten

Letztlich geht es darum, die ge-waltfreie Revolution als humane, dem Menschen entsprechende schöpferische — weil von Gott ge-offenlbarte — Form von Überwindung von Unrecht und der Erneuerung der Grundlagen des Gesell-sdhaftslebens zu verwirklichen.

Christus hat diesen Weg der Befreiung verkündet als Geschenk der Hoffnung für die neue Menschheit, die überall dort beginnt, wo das Gesetz des Auferstandenen in der Gesellschaft ansataweise verwirklicht wird, um sich am Ende der Geschichte zu vollenden

Zahlreiche Ansätze zu konkretem Handeln aus der Perspektive gewaltloser Befreiung zeichnen sich für unsere spezifische Situation ab. Davon sei einiges nur angedeutet:

•Metanoia — Neugeburt — Hinwendung zur evangelischen Gewaltlosigkeit: Dies fordert ein grundlegendes Überdenken unseres Glaubens und unserer Lebenshaltung. Err arbeilen der Methoden der gewaltfreien Aktion, diese zu einem Kernstück der Jugendlichen- und Erwachsenenbildung, der Katechese und Pastoral zu machen.

•Die These vom Schutz des Tiebens von der Empfängnis bis zum Tode aus der Perspektive der Gewaltlosigkeit durchzudenken und die Konsequenzen zu ziehen (Abtreibung, Verhalten gegenüber Behinderten, Diskriminierten, Alten; Abbau von personeller und struktureller Gewalt in der Gesellschaft).

•Das dreißigjährige Bestehen der universellen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (1948) zum Anlaß zu nehmen, uns über deren Verwirklichung im eigenen Leben, im eigenen Land und in der Welt zu befragen und einen wirksamen öffentlichen Beitrag zur Verurteilung ihrer Vergewaltigung und zu ihrer Durchsetzung durch gewaltfreie Aktion zu leisten.

•Als positive Antwort auf die Forderungen des Konzils, der römischen Bischofssynode und des Vatikanischen Dokuments über Abrüstung uns dafür einzusetzen.

Das Ringen um Befreiung trifft sich mit der tiefsten Hoffnung der Völker der Erde: eine Hoffnung, in der Gott selbst sich manifestiert. Deswegen spricht Gott mahnend zu uns durch sein Wort im Neuen Testament: „Wärest du doch kalt oder wann. Weil du aber lau bist, so will ich dich aus meinem Munde ausspeisen. Du sagst: Ich bin reich, ich halbe Überfluß und brauche nichts mehr. Und du weißt nicht, daß du elend und erbärmlich bist, arm, blind und bloß“ (Offlb. 3, 15—18).

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