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Es geht um das althergebrachte Gemeinwohl

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„Politischer Katholizismus“ — das ist gewiß ein Ausdruck, der nicht bei allen Zeitgenossen Sympathiegefühle erweckt, wenn 'auch wohl aus unterschiedlichen Gründen. Einer von ihnen mag darin bestehen, daß man gegenüber dem Politischen überhaupt Abneigung verspürt. „Politisch Lied“ gilt nach wie vor vielen als garstig, man spürt das gerade in unserem Land immer wieder. Wenn von „politischen Entscheidungen“ die Rede ist, dann klingt für manchen die Nebenbedeutung „unsachliche Entscheidungen“ an; Vereine und Veranstaltungen legen Wert darauf, als „unpolitisch“ zu gelten; selbst der Ausdruck „politische Bildung“ wirkt bis heute auf manche Leute anrüchig.

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„Politischer Katholizismus“ — das ist gewiß ein Ausdruck, der nicht bei allen Zeitgenossen Sympathiegefühle erweckt, wenn 'auch wohl aus unterschiedlichen Gründen. Einer von ihnen mag darin bestehen, daß man gegenüber dem Politischen überhaupt Abneigung verspürt. „Politisch Lied“ gilt nach wie vor vielen als garstig, man spürt das gerade in unserem Land immer wieder. Wenn von „politischen Entscheidungen“ die Rede ist, dann klingt für manchen die Nebenbedeutung „unsachliche Entscheidungen“ an; Vereine und Veranstaltungen legen Wert darauf, als „unpolitisch“ zu gelten; selbst der Ausdruck „politische Bildung“ wirkt bis heute auf manche Leute anrüchig.

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Aber sind das nicht Vorurteile, die eine Uberprüfung nötig haben? Kann irgendwer sich heute wirklich eine Geringschätzung der Politik leisten, wenn so grundlegende und tiefgreifende Lebensprobleme politisch bewältigt werden müssen, wie das heute der Fall ist — vom Weltfrieden bis zum Schutz des Lebens, vom Klassenkampf der Völker bis zur Erhaltung der Freiheit der Person7 Haben wir es nicht doch nötig, uns zu einem neuen Politikverständnis durchzuringen, das der Fülle und dem Gewicht der politischen Aufgaben von heute und morgen eher gerecht wird?

Freilich sollte man sich auch dann, wenn man meint, neue Leitbilder nötig zu haben, noch einmal die überkommenen Meinungen und Einsichten über die Sache ins Gedächtnis rufen, um die es geht.

Darüber, was Politik ist und an welchen Notwendigkeiten und Bestimmungen sich das politische Handeln ausrichten soll, besinnt sich die Menschheit nicht erst seit heute.

Am Anfang der Hochkultur steht eine mythische Ausrichtung und Einbindung des politischen Handelns: menschliches Zusammenleben ist heilig-herrschaftlich geordnet, Herrschaft ist die Stellvertretung göttlicher Macht, der das Reich seine Existenz verdankt und die überhaupt der menschlichen Welt Gestalt und Dauer verliehen hat. In der Struktur des Reiches spiegelt sich die Ordnung des Kosmos wieder, in Mythologien und politischen Theologien wird sie erfaßt und vergegenwärtigt. Allem menschlichen Handeln ist sie als grundlegende und maßgebende Norm vorgeordnet; politisch handeln heißt, sie in Geltung halten und zur Geltung bringen.

Das klassische Griechentum hat dieses Politikverständnis durchbrochen und überboten. Der Mensch wird sich seiner Fähigkeit bewußt, über den Mythos hinauszudenken.Die althergebrachten Sinngebungen politischen Handelns — die Berufung auf den Willen der Götter oder auf die Gesetze der Natur etwa — werden der Verbindlichkeit beraubt, von linken und rechten Vertretern des „kritischen Bewußtseins“ (den Sophisten). Ist Politik damit auf bloßen Machtkampf reduziert? Philosophen geben sich damit nicht zufrieden, sie durchschauen sowohl den Mythos wie die nihilistische Leugnung aller allgemeinverbindlichen Maßstäbe: beides ist kurzschlüssig. Politik ist praktische Selbstbestimmung des Menschen; es gibt unterschiedliche Zielstrebungen politischen Handelns; welcher von ihnen sich jemand verschreibt, das hängt davon ab, was für ein Mensch er ist; auch die Verfassung des Gemeinwesens ist letztlich nichts anderes als die Institutionalisierung, die verbindliche Vorgabe eines bestimmten Leitbildes von Humanität.

Die christliche Glaubensverkündigung relativiert allerdings den Gedanken an eine politische Sinngebung des Daseins. Das Heil liegt im Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, und als dessen Bürger sich der Christ in erster Linie weiß: nicht das politische Wirken gibt dem Menschenleben die Chance, heil zu werden, sondern die Ausrichtung auf Gott durch Jesus Christus. Freilich umschreibt das Neue Testament die erlöste Existenz mit Ausdrücken, die aus dem gesellschaftlich-politischen Vorstellungsfeld stammen (Freiheit, Brüderlichkeit, Ende aller Unterdrückung, Friede) und daher auch der Politik einen neuen Horizont geben. Politisches Handeln hat sich, unter realistischer Rücksichtnahme auf die Existenzbedingungen des Menschen und der Gesellschaft in dieser Welt, in christlicher Hoffnung darum zu bemühen, das Zusammenleben menschlicher zu machen, Ungerechtigkeiten abzubauen, die Chancen zur Entfaltung der menschlichen Person zu mehren.

Freilich war der Prozeß, in dem die christliche Botschaft auch als Wegweisung politischen Handelns in diesem Sinne der Christenheit vor Augen getreten ist, langwierig und immer wieder der Gefahr ausgesetzt, auf Abwege zu geraten; schwärmerische Aktivisten einer geistlichen Weltrevolution gab es ebenso wie Prediger des Quietismus, der passiven Hinnahme aller politischen Verhältnisse in der Ausrichtung auf das Jenseits oder in der Beschränkung auf die Innerlichkeit des frommen Herzens. Doch hat man sich immer wieder um die Vermeidung solcher Engführungen bemüht, bis hin etwa zur Lehre von der „verantwortlichen Gesellschaft“ auf evangelischer und zum Zweiten Vatikanum auf katholischer Seite.

Indessen setzen sich in der europäischen Neuzeit weithin andere Leitvorstellungen politischen Handelns durch. Auf der einen Seite entfaltet sich der moderne Staat als souveräner Herrschaftsapparat, der eine eigene, von der Moral des normalen Lebens emanzipierte Handlungsnorm — die „Staatsräson“ — in Anspruch nimmt. Politisches Handeln bedeutet in diesem Rahmen die Sicherung und Stärkung der Machtgrundlage des Staates, Politik ist der Obrigkeit vorbehalten, den Herrschern und ihren Mitarbeitern.

Anderseits tritt eben diesem Herr-schaftsgefüge das Emanzipationsstreben der Untertanen, der Abhängigen entgegen; in seiner Perspektive erhält das politische Handeln die Ausrichtung auf das Ziel, autoritative Bevormundung und Ausbeutung evolutionär oder revolutionär zu überwinden, bis zur Abschaffung von Politik überhaupt. Daß die Versuche, dieses Programm zu verwirklichen, ; immer wieder zu neuen Gewaltordnungen und Gewaltmaßnahmen führten, nahm freilich den jeweils neuen, radikaleren' Revolutionären nicht die Entschlossenheit.

Heute hat sich in der westlichen Sozialwissenschaft eine Definition des politischen Handelns eingebürgert, die es dadurch chrakterisiert, daß es auf die verbindliche Zuteilung von Gütern und Werten im Rahmen einer Gesellschaft bezogen Bei..,- , .

Darin scheint sich der Sachverhalt abzubilden, daß sich die Politik in westlichen Gesellschaften in der Tat weithin um Verteilungsprobleme dreht, um die Vergrößerung oder Verringerung der Anteile von Gruppen und Klassen, Regionen und Schichten am Sozialprodukt, an den Leistungen und Lasten der Einzelnen und der Gesamtheit. Auf die Entscheidungen hierüber Einfluß zu nehmen oder eine solche Einflußnahme zumindest zu versuchen — das erscheint als das Wesen politischen Handelns. Politik stellt sich dann als ein beständiges und vielfältiges Ringen gesellschaftlicher Kräfte um die Durchsetzung ihrer Forderungen und Wünsche dar, als eine Konkurrenz der Interessen auf einem Markt, auf dem nicht mit Geld, sondern mit Macht bezahlt wird (wobei freilich Macht auch mit Geld erkauft werden kann). Aber eine solche Sichtweise ist vordergründig; sie muß durch einige andere Gesichtspunkte ergänzt werden.

Zum ersten: es wäre irrig, das Verständnis der Politik als Verteilungsgeschehen, als Spezifikum der Moderne, des pluralistischen Interessenmarktes, anzusehen. In diesem Konzept kehrt — freilich auf eigentümliche Weise dynamisiert — eine sehr alte Auffassung wieder. Für die alteuropäische Lehre ist die eigentliche Sache des politischen Handelns die Sorge um das Gemeinwohl; das Gemeinwohl aber läßt sich als „eine Ordnung der Verteilung der materiellen und kulturellen Güter in einer Gesellschaft“ (Johannes Messner) umschreiben.

Zum zweiten: das moralische Bewußtsein — auch das „kritische Bewußtsein“ von heute — erwartet von der Politik aber nicht irgendeine Güterverteilung, sondern eine sinnvolle und möglichst gerechte. In den hierfür geltenden Prinzipien und Kriterien kommt zum Ausdruck, was in einer Gesellschaft überhaupt in welchem Sinne als „Gut“ gilt und in welchem Rang- und Maßverhältnis die entsprechenden Setzungen zueinander stehen. Politik bringt also immer auch zum Ausdruck, wie eine Gesellschaft sich selbst versteht: was sie mit sich anfangen will, worin sie ihre Identität und ihre Bestimmung sieht. In diesem Sinn gilt auch heute das Wort Hugo von Hofmannsthals, Politik sei Verständigung über das Wirkliche.

Zum dritten: dieser Prozeß wird durch Institutionen vermittelt, durch die des Staates, der überstaatlichen Organisationen, aber auch durch Institutionen gesellschaftlicher Selbstverständigung. In diesen Institutionen kristallisieren sich eben so sehr Machtverhältnisse aus wie auch Sinndeutungen der gesellschaftlichen Existenz. Das Ringen um die Bewährung der Veränderung von Institutionen gehört daher in den Kernbereich politischen Handelns.

Zum vierten: Menschen und Gruppen befinden sich in unterschiedlichen existentiellen Situationen, artikulieren unterschiedliche Interessen und Überzeugungen. Daher gibt es über die rechte Güterzuteilung und über die zugrundeliegenden Leitbilder und Maßstäbe immer wieder Auseinandersetzungen. Und angesichts der Einseitigkeit und Interessenbefangenheit aller Beteiligten werden die tatsächlich gefällten Entscheidungen auf Kritik stoßen, sie werden immer wieder (Fortsetztwigr auf Seite 4)

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