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Keine politisierende, aber eine politische Kirche

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Wer die Kirche mit den vom Zweiten Vatikanum gebrauchten Bildern der Heiligen Schrift als „Gottes Zelt unter den Menschen“ (Apk. 21, 3) und als „Gottes Volk“ (1. Petr. 2, 10) versteht, wird erkennen, daß die Kirche zwar nicht aus dieser Welt stammt, aber in dieser Welt wirkt. Um ihren Heilsauftrag erfüllen zu können, ist die Kirche veranlaßt, sich mit der Sozialordnung, die den einzelnen umgibt, an den sich das Wort der Kirche richtet, zu konfrontieren. Sie tut dies nicht der politischen Auseinandersetzung wegen, sondern in der Sorge um die kulturellen, politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, deren jeder einzelne bedarf, um die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit zu erfahren. Dies zeigt sich bereits in der Heiligen Schrift.

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Wer die Kirche mit den vom Zweiten Vatikanum gebrauchten Bildern der Heiligen Schrift als „Gottes Zelt unter den Menschen“ (Apk. 21, 3) und als „Gottes Volk“ (1. Petr. 2, 10) versteht, wird erkennen, daß die Kirche zwar nicht aus dieser Welt stammt, aber in dieser Welt wirkt. Um ihren Heilsauftrag erfüllen zu können, ist die Kirche veranlaßt, sich mit der Sozialordnung, die den einzelnen umgibt, an den sich das Wort der Kirche richtet, zu konfrontieren. Sie tut dies nicht der politischen Auseinandersetzung wegen, sondern in der Sorge um die kulturellen, politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, deren jeder einzelne bedarf, um die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit zu erfahren. Dies zeigt sich bereits in der Heiligen Schrift.

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Jesus Christus hat sich in politische Streitigkeiten nicht eingelassen und sowohl gegenüber seinen Jüngern als auch gegenüber seinen eigenen Richtern den Einsatz politischer Macht zur Herbeiführung des Gottesreiches abgelehnt. Er steht aber mit der Rechts- und Sozialordnung dadurch in Berührung, daß er den einzelnen, den er anspricht, nicht als isoliertes, sondern als soziales Wesen erfaßt. So spricht Christus zum Beispiel vom Steuerzahlen (Matth. 17,24) und verweist im Erbstreit auf die bürgerliche Rechtsordnung (Luk. 12, 13). Der Staat wird als Helfer für die Gerechtigkeit angesehen und deshalb auch das Gebet für die Obrigkeit empfohlen (1. Tim. 2, 1—3). Es darf aber nicht angenommen werden, daß die Heilige Schrift eine neutrale Haltung gegenüber dem Staat und seiner Sozialordnung einnimmt. So kennt die Geheime Offenbarung auch den Antichrist und die sittliche Entartung des Staates, die in der Gegenwart deutlich in einzelnen Fällen erkennbar ist. Es ist der Staat mit totalitärer Sozialordnung.

Dabei nimmt die Heilige Schrift eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Staat ein und lehnt den Typ der Feigen und Lauen ab: „Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so will ich dich aus meinem Munde ausspeien“ (Geh. Off. 3, 16) und „Die Feigen und alle Lügner sollen im brennenden Feuer- und Schwefelpfühl ihren Anteil erhalten“ (Geh. Off. 21, 8).

Mit der sozialen Frage als Anliegen der Sittenordnung hat sich die Kirche, nach umfangreichen jahrhundertelangen Bemühungen mehr karitativen Charakters, in einer eigenen Soziallehre, beginnend mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, beschäftigt. Es seien vor allem die Sozialenzykliken Leos XIII. „Rerum novarum“ (1891), Pius' XI. „Quadra-gesimo Anno“ (1931), Johannes' XXIII. „Mater et Magistra“ (1961) und „Pacem in terris“ (1963) genannt. Auch die vielen Sozialgest.al-tungsempfehlungen Pius' XII. waren entscheidend. Mit den „Zeichen der Zeit“ (Matth. 16, 4) setzt sich auch Paul VI. auseinander, so in der Enzyklika „Ecclesiam Suam“ (1964) über die Erfordernisse echter Dialogführung und (1967) über die Anliegen der Entwicklungshilfe „Populorum pro-gressio“. Beachtenswert ist auch sein zum Jubiläum von „Rerum novarum“ 1971 erlassenes Apostolisches Schreiben „Octogesima adveniens“. in dem er sich kritisch mit den Ideologien unserer Zeit auseinandersetzt.

Die Bedeutung der Soziallehre der Kirche ist keine Selbstverständlichkeit; leben wir nicht in einer Zeit, in der viel von einer Entideologisie-rung der Politik die Rede ist? Wer unter Entideologisierung versteht, daß die religiös-sittlich-weltanschauliche Wertneutralität in der Politik als allgemeines Prinzip anerkannt werden soll, wird die Soziallehre der Kirche ablehnen, wer aber die Entideologisierung in der Weise herbeiführen will, daß einseitige partei-und interessenpolitische Erwägungen zugunsten der sachlichen Lösungen zurücktreten, wird die Soziallehre der Kirche begrüßen. Johannes Messner hat in seinem gesamter! Lebenswerk — durch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung bestätigt — gezeigt, wie sehr die Kirche dabei kritisch realistisch gewesen ist. Mit diesem ihrem Realismus unterschei-

det sich die Kirche von den politischen Utopien mancher Ideologien unserer Tage.

Aus diesem Grund hat sich die Kirche für die Anerkennung der in der Gottesebenbildlichkeit gegründeten Menschenwürde des einzelnen im Sozialgeschehen eingesetzt. Das Verbot der Kinderarbeit, die Arbeitszeitregelung, die Lehrlingsausbildung, die berufliche Weiterbildung, der Arbeitsschutz, die Krank-heits- und Altersvorsorge, die soziale Sicherheit sind dabei ebenso beispielsweise zu nennende Forderun-

gen der katholischen Soziallehre wie jene nach der Sozialverantwortung des Eigentums und einer partnerschaftlichen Ordnung auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Diese deutlich seit Rerum novarum (1891) immer neu zeit- und ortsbezogen erhobenen und weiterentwickelten Forderungen wurden besonders von katholischen Organisationen, wie etwa dem Kolpingwerk und den Arbeitervereinen, getragen. Es soll auch nicht übersehen werden, daß der letzte Sozialminister der Monarchie vor 1918 Prälat Ignaz Seipel war und außer dem Sozialdemokraten Ferdinand Hanusch nach 1320 ein Großteil der Sozialminister der sogenannten Ersten Republik aus dem christlichsozialen Lager kam. Es sei nur an Theodor Innitzer, Franz Pauer, Josef Resch und Richard Schmitz erinnert. Diese Sozialgesetzgebung, an der auch Leopold Kun-schak großen Anteil hatte, umfaßte so wichtige Gesetze wie das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung, das Gesetz über die Krankenversicherung der Bundesangestellten, das Joumalistengesetz, das Invalidenbeschäftigungsgesetz, auch das Gewerbeinspektionsgesetz und das Gesetz über die Gleichstellung der Arbeiterkammern mit jenen für Handel, Gewerbe und Industrie, das Angestelltengesetz, das Gewerbegerichtsgesetz sowie die Hausbesorgerordnung, das Schauspielergesetz, das Gutsangestelltengesetz, das Tn-landarbeiterschutzgesetz, das An^e-stelltenversicherungsgesetz und das Arbeiterversicherungsgesetz. Auch in der Zweiten Republik waren Ver-treter christlicher Soziallehre führend an der Gesetzgebung beteiligt,

so vor allem der 1967 verstorbene Sozialreformer Karl Kummer, der sich als erster in Österreich für die Partnerschaft im Betrieb einsetzte, und Grete Rehor, die als erster weiblicher Bundesminister das Sozialressort von 1966 bis 1970 leitete und so wegweisende Gesetze wie das Arbeitsmarktförderungs- und Berufsausbildungsgesetz einbrachte.

In besonderer Weise hat eine Forderung der Soziallehre der Kirche zur Ordnung des öffentlichen Lebens nach 1945 beigetragen, nämlich die von Pius XI. schon 1931 in Quadra-gesimo anno erhobene Forderung nach einer berufsständischen, nämlich leistungsgemeinschaftlichen Ordnung der Gesellschaft: Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten nicht nach ihrem Platz auf dem Arbeitsmarkt, gleichsam unter Re-präsentierung und Institutionalisierung der Interessengegensätze, sondern nach ihrem Beruf gemeinsam organisiert werden. Wenngleich die Repräsentation organisierter Interessen in Österreich nach wie vor größtenteils nach der Situation der einzelnen auf dem Arbeitsmarkt erfolgt, ist der Effekt der leistungs-gemeinschaftlichen Ordnung durch die seit Beendigung des Zweiten

Weltkrieges hergestellte Sozialpartnerschaft gegeben. Sie hat sich neben der Koalition und Opposition der Parteien als Grundsatz des Interessenausgleichs über Sozial- und Wirtschaftsfragen der Gesellschaft als dauerhaft erwiesen und sollte auch in der Zukunft nicht zu einseitigen und parteipolitischen Zwecken mißbraucht werden.

Viele Anliegen der Soziallehre sind heute in der Rechts- und Sozialordnung der Gegenwart verwirklicht. Dabei war es sicher nicht ohne Einfluß, daß Liberalismus und Marxismus, letzterer vor allem in deft Freien Welt, eine Humanisierung durchgemacht haben, sie zu einer allgemeinen Anerkennung von Grundwerten jedes einzelnen Menschen geführt hat. Die nachkonziliare Kirche konnte sich daher den politischen Parteien gegenüber in Äquidistanz begeben und sich jeder Politisierung enthalten. Da aber die Sozialordnung auch Grundfragen des Lebens der Menschen, zu deren Heilsfindung sich die Kirche berufen fühlt, betrifft, darf es nicht wundernehmen, wenn sie sich dazu äußert. In diesem Sinne hat erst kürzlich Kardinal König von einer politischen, aber keiner politisierenden Kirche gesprochen.

An einer politischen und nicht politisierenden Kirche sollten alle Parteien und Interessen verbände interessiert sein. Erlaubt sie doch der Kirche eine dreifache Aufgabe, nämlich eine Repräsentations-, Korrektur- und Integrationsfunktion^u erfüllen. Die Kirche vertritt in einer pluralistischen Gesellschaft ihre Gläubigen, sucht den sozial Schwachen zu helfen und vertritt dabei

Grundwerte, die bei immer mehr Menschen, auch Nichtgläubigen, Anerkennung finden. Die Kirche kann so zu einem unabhängigen sozialen Gewissen im Staate werden. Dies ist heute angesichts bestimmter Tendenzen in Staat und Gesellschaft nicht unwesentlich.

So zieht der Staat immer mehr Aufgaben der Menschen an sich, ohne selbst menschlicher zu werden. Es ist dabei bedauerlich, daß der Mensch, in' dem Maße, in dem ^er Staat für ihn verantwortlich wird, das Interesse an diesem Staat verliert und, je mehr der Wohlstand und die Versorgung des einzelnen durch die öffentliche Hand zunimmt, die Anerkennung von sittlichen Werten des Zwischenmenschlichen durch den einzelnen gegenüber seinem Nächsten abnimmt. Hier öffnen sich die Probleme zwischen den Generationen, der Kranken, Alten, aber auch der ausländischen Arbeitnehmer, die wir als „Gastarbeiter“ bezeichnen, ohne sie aber auch als Gäste zu behandeln. Dazu hat die Kirche einer Brüderlichkeit das Wort gesprochen, die ökumenisch und ökonomisch zugleich ist, und ein Gemeinwohlprinzip vertreten, das im Hinblick auf die von ihr initiier-

te Entwicklungshilfe nicht allein national, sondern international gedacht und ausgeführt wird.

Wenngleich die Humanisierung des politischen Lebens zur Anerkennung mancher von der Kirche seit Jahrhunderten vertretener Werte geführt hat und vor allem die post-konzkiliare Kirche das Gespräch mit den Vertretern aller politischen Systeme sucht und führt, darf dias nicht als Annahme eines Indifferentismus und Neutralismus der Gesinnung gewertet werden. Wie unter anderem Paul VI. mehrmals betont hat, lehnt die Kirche jeden Staat ab, der gegen die Grundrechte des einzelnen und das Gemeinwohl verstößt und bejaht kein politisches System, dem eine materialistische und atheistische Philosophie zugrunde liegt. Die Kirche lehnt daher nach wie vor das bloße kapitalistische Profitstreben und den marxistischen Kollektivismus ab. Wie sshr die Kirche in diesem Jahrhundert auch unter Opfern für ihre Grundsätze eintritt, zeigen etwa Priesterpersönlichkeiten wie die Patres Alfred Delp und Maximilian Kolbe, die Kardinäle Mindszenty, Slipy und Stepinac.

In einer solchen Zeit sucht die Kirche unter Ablehnung von Extremforderungen politischer Ideologien einen Weg natürlicher Mitte zu gehen, weist etwa einerseits auf die soziale Verantwortung des Privateigentums hin, lehnt aber anderseits die gänzliche Kollektivisierung des Eigentums und die Planwirtschaft an Stelle der Unternehmerinitiative des einzelnen ab. Sie spricht sich gegen die Abwertung des Arbeitnehmers

zum bloßen Produktionsfaktor aus und tritt für die partnerschaftliche Ordnung im Betrieb ein: dies zugunsten der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers, aber nicht zugunsten außerbetrieblicher Kräfte, wie des Gewerkschaftsbundes, dessen Bedeutung in Staat und Gesellschaft sie gleich jener der übrigen Interessenverbände sonst anerkennt. Die Kirche sucht dem einzelnen in menschlichen Grenzsituationen zu helfen — die Caritas und das seraphische Liebeswerk seien beispielsweise genannt — aber nicht auf Kosten des Lebens. Daher ist sie gegen die Abtreibung und für den Schutz der Ungeborenen.

In diesem Sinne hat sich auch die österreichische Bischofskonferenz in letzter Zeit im Zusammenhang mit dem Betriebsverfassungsgesetz und mit der Strafrechtsreform ablehnend zu den Entwürfen der österreichischen Sozialistenregierung geäußert. Damit hat die Kirche gezeigt, daß sie zwar nicht politisieren will, sich aber ihrer politischen Verantwortung bewußt ist, besonders dort, wo es um die Freiheit und Würde des einzelnen geht und Grundsatzentscheidungen der Sozialordnung zu treffen sind. An der Beachtung dieses kritischen Wortes der Kirche durch die Parteien wird sich zeigen, welche von ihnen der Kirche, die ihnen in Äquidistanz gegenübersteht, näher oder ferner ist. Die Ablehnung der Politisierung durch die Kirche bedeutet noch keine Neutralisierung der Kirche im Sinne eines Indifferentismus gegenüber der Politik. So entwickelt sich die Kirche immer mehr zu einem Gewissen im öffentlichen Leben, dem Zweckmäßigkeits-arrangements fernstehen. Kardina] König hat schon klar und deutlich vor dem Bundesvorstand des ÖGB erklärt: „In grundsätzlichen Fragen kann sich die Kirche nicht arrangieren, auch nicht des guten Einvernehmens, auch nicht des lieben Geldes wegen, das dahinter steckt. Auch dann nicht, wenn es ihr leid tun sollte, daß deswegen ein gutes Einvernehmen getrübt wird. Die Kirche ist nicht in allen Fragen Herr ihrer eigenen Entscheidungen, sie ist gebunden an ein Gesetz, das sie nicht ändenn kann und das sie auch nicht mit Taktik überspielen kann. Als Gesprächspartner in Grundsatzfragen, die die natürliche und übernatürliche Bestimmung des Menschen betreffen, ist die Kirche ungeeignet, weil sie sich immer • auf eine höhere Instanz berufen muß, die letztlich doch nicht zu umgehen ist, die außerhalb ihrer Einflußsphäre liegt und mit der man auch nicht paktieren kann: nämlich auf Gott.“ Diese Worte des Erzbi-schofs von Wien haben keinen bloß proklamatorischen Charakter, sie verpflichten vielmehr zum Mitdenken und Mithandeln.

Je stärker nämlich heute die Eigenverantwortung der Laien und die Demokratisierung des kirchlichen Lebens betont wird, desto mehr kommt es darauf an, daß die Kirche als Volk Gottes in der Welt von Priestern und Laien im religiösen und sozialen Leben gemeinsam nach dem Bibelwort auch über die Grenzen der Glaubensgemeinschaft hinaus wirkkräftig wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan“ (Mt 25, 40). Dabei wird man mit der Zunahme der sozialen Sicherheit und damit der äußeren Sicherheit auch an die innerlich Verunsicherten denken und ihnen einzeln helfen müssen. Es wäre hier an die zerrütteten Ehen und Familien, die nichtver-standenen und versagenden Kinder, aber auch an die Alten, Kranken, die Rauschgiftsüchtigen, die Trinker, die Verlassenen, kurz an all die Einsamen in lauter Welt zu denken, ob sie unsere Sprache sprechen und ob sie unserer Kultur sind oder nicht. Bei diesem Kirchen- und Sozialverständnis kann es möglich werden, daß auch in der Wirklichkeit die Sozialordnung menschlicher und die Menschen gottesebenbildlicher werden.

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