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Von Solidarismus zur Partnerschaft

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In memoriam Dr. Friedrich Funder die Frage zu stellen, was vom christlichsozialen Gedankengut wohl geblieben sei, ist ein ehrenvolles und beklemmendes Unterfangen zugleich. Ehrenvoll, weil heute, wie vor ein oder zwei Menschenaltern, sich Demokraten aus christlichem Engagement verpflichtet wissen, ihren eigenständigen Beitrag zum öffentlichen Leben Österreichs zu leisten. Beklemmend, weil der Fragezeichen im programmatischen wie im praktischen Bereich allzu viele geworden sind. Dennoch tut eine Klärung der Begriffe und ihrer Inhalte not, will man Resultate einer ideologischen Selbstbesinnung für zukünftige Weichenstellungen erzielen.

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In memoriam Dr. Friedrich Funder die Frage zu stellen, was vom christlichsozialen Gedankengut wohl geblieben sei, ist ein ehrenvolles und beklemmendes Unterfangen zugleich. Ehrenvoll, weil heute, wie vor ein oder zwei Menschenaltern, sich Demokraten aus christlichem Engagement verpflichtet wissen, ihren eigenständigen Beitrag zum öffentlichen Leben Österreichs zu leisten. Beklemmend, weil der Fragezeichen im programmatischen wie im praktischen Bereich allzu viele geworden sind. Dennoch tut eine Klärung der Begriffe und ihrer Inhalte not, will man Resultate einer ideologischen Selbstbesinnung für zukünftige Weichenstellungen erzielen.

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Das christlichsoziale Gedankengut, das in den Jahrzehnten von etwa 1890 bis 1934 das politische Geschehen zunächst des Vielvölkerstaates und später der jungen Republik maßgeblich mitbestimmte, hatte — wie alle geistigen Strömungen — etwas Bleibendes, aber auch sehr viel Veränderliches an sich. Zum unveränderlichen Kern des christlichsozialen, wie später des christdemokratischen Selbstverständnisses zählt jenes Bild von der Natur des Menschen und der durch ihn konstituierten menschlichen Gesellschaft, das weder durch Entwicklungstendenzen in den kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen noch durch mehr oder minder spontane Proklamationen korrigiert werden kann. Die Würde des Menschen, die sich aus seinem durch Verstand und freien Willen zusammengesetzten Personsein ergibt, rückt diesen in den Mittelpunkt aller gesellschaftsphilosophischen Überlegung. Der Mensch ist nach christlichsozialer wie christdemokratischer Auffassung Mittelpunkt aller Gesellschaften und somit auch der gesamten menschlichen Gesellschaft. Ebensosehr wie der Mensch — das heißt jeder Mensch — unverwechselbar einmalig und Individuum ist, liegt im tiefsten Kern seiner Natur die soziale Bezogenheit begründet. Nur als ge-sellschaftsbezogenes Wesen, als „ani-mal sociale“ im klassischen Sinn, vermag er sich selbst in seiner ganzen ihm innewohnenden Fülle zu verwirklichen. Aus dem Wohl der Gemeinschaft, dem „Gemeinwohl“, empfängt er ihrerseits Hilfe und Unterstützung zur Realisierung seines persönlichen Lebensglücks und dessen seiner Familie. Alle Institutionen der Gesellschaft sind um des Einzelmenschen willen da und nicht umgekehrt. Die subsidiäre Natur der Gesellschaft garantiert erst das personale Wohl des Individuums. Daß die Idee der christlichen Brüderlichkeit schon an der Wiege christlichsozialen Denkens gestanden ist und im Laufe einer fast hundertjährigen Entwicklung über das Modell des Solidarismus zur modernen Auffassung der Partnerschaft reifte, demonstriert die Adaption einer unveränderlichen Idee, eines Grundsatzes, an die jeweiligen Erfordernisse der Zeitenläufte, die sich ja stets im Fluß befinden.

Diese Feststellung konfrontiert uns mit der Fragestellung, ob das christlichsoziale Gedankengut auch von solchen Elementen mitbestimmt war, die sich im Laufe des geschichtlichen Fortschritts als überholt erwiesen. Diese Frage zu verneinen, widerspräche dem Geist der gesellschaftsphilosophischen und historischen Redlichkeit. Die geistige Substanz der christlichsozialen Programmatik von einst muß der christdemokratischen Ideologie von heute gegenübergestellt werden. Will man präzise Aussagen erhalten, so sind verschiedene Wertelemente getrennt zu untersuchen. Es ergeben sich in großen Zügen drei Fragestellungen: Zum ersten die Frage nach der kirchlichen Interessenvertretung im politischen Raum. Zum zweiten die Frage nach der gesellschaftspolitischen Grundhaltung. Und drittens die Frage nach der religiös-weltanschaulichen Substanz des christlichsozialen und des christdemokratischen Gedankenguts.

Zur ersten Frage nach der kirchlichen Interessenvertretung im politischen Raum:

Daß die christlichsoziale Bewegung eine solche Rolle innehatte, kann nicht geleugnet werden und ist aus den zeitbedingten Umständen verständlich. Nicht zuletzt war die Christlichsoziale Partei von der Kirche mobilisiert worden, nicht umgekehrt. In diesem Zusammenhang betrachtet, verwundert es nicht, wenn noch vor einem halben Jahrhundert die zeitgebundene Meinung vorherrschte, es gebe ein bis ins kleinste Detail ausgefeiltes System einer noch überdies aus der Heiligen Schrift zu begründenden „Katholischen Soziallehre“. Die Auffassung, das kirchliche Denken über die sozialen Bezüge der menschlichen Gesellschaft gleiche einem medizinischen Rezeptbuch, aus dem für jede Erkrankung eine Therapie geschlossen werden könne, dominierte auch noch während der Jugend- und frühen Mannesjahre Dr. Friedrich Funders. Der integralistischen Theorie und Praxis der Väter des christlichsozialen Gedankenguts zufolge war die katholische Kirche.mit der (einzigen) Christlichsozialen Partei zu einer engen, exklusiven Interessen-und Ideengemeinschaft (man beachte die Reihenfolge!) verbunden. Friedrich Funder, der unerschrockene und mutige Kämpfer und Laienapostel der geschliffenen Feder, legte durch sein Leben und Wirken für dieses Phänomen ein ehrliches, redliches und imponierendes Zeugnis ab.

Heute hat die katholische Kirche die traditionelle Bindung an die christdemokratischen Parteien gelöst, was seinerseits eine verzerrte und daher falsche Optik hervorruft. Denn von einem gleichen Verhältnis der verschiedensten politischen Parteien zur Kirche kann aus weltanschaulichen Überlegungen doch keine Rede sein. Es sei festgehalten, daß sich zum Beispiel der demokratische Sozialismus der Kirche näherte, doch ist sein Verhältnis zu ihr von jenem der christdemokratischen Parteien zu unterscheiden. Verschiedene Motive führten zur Begegnung von demokratischem Sozialismus und Kirche. Dazu zählen sicherlich Zweckmäßigkeit, Wahltaktik und Strategie. Es wäre aber ungerecht, wollte man die Tangenten echter Wertschätzung und des Konsenses in humanistischen Grundfragen außer acht lassen. Der christlichdemokratische Politiker hingegen weiß sich als bekennender Vertreter seiner religiösen Überzeugung engagiert und bringt daher ein über den Sozialdemokraten hinausgehendes Verständnis für die Anliegen der Kirche auf. Ist also auch die Epoche vorbei, da die christlichsoziale Bewegung als politische Interessenvertretung der Kirche rangierte, so begegnen doch heute christlichdemokratische Parteien der Kirche mit besonderem

Verständnis und umgekehrt.

Die zweite Frage berührt die gesellschaftspolitische Grundhaltung im alten christlichsozialen Gedankengut und in der modernen christlichen Demokratie. Was gemeinsam ist, der unveränderliche Kern des christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes, wurde im ersten Teil bereits dargelegt. Und die zeitbedingten Gesellschaftsvorstellungen? Bedauerlicherweise wurde zuweilen das Bleibende mit dem Vergänglichen gleichgesetzt. Dabei wurde das Bleibende in das Prokrustesbett historischer, sozialromantischer Vorstellungen gespannt und die christlichsoziale Konzeption von der Politik gewissermaßen als natürlicher Ausfluß der christlichen Offenbarungstheologie gewertet. Nun ist es aber selbstverständlich, daß historische Vorstellungen in der gegenwärtigen Industriegesellschaft nicht anwendbar sind. Heute bekennen wir uns bewußt als christliche Demokraten zu einer pluralistischen Gesellschaftswirklichkeit, die sowohl unseren politischen Vätern als auch jenen der österreichischen Sozialdemokratie als ein nicht sehr erstrebenswertes Denkmodell erschienen war. Aus diesem Einstehen für die gleichrangige Vielheit der politischen Ideen und Parteien nebeneinander — wohl unterschieden vom Bekenntnis zur eigenen weltanschaulichen Uberzeugung — erwächst der Ruf nach einer weitestgehenden Toleranz im zwischenmenschlichen und zwischengesellschaftlichen Verkehr. Anderseits gibt es gewisse, alle Demokraten verbindende Grenzwerte in der Anerkennung und Respektierung anderer politischer Meinungen: die Duldsamkeit der Demokraten muß dort ihre Begrenzung finden, wo die Duldung heischende politische Gruppe ihrerseits nicht bereit ist, eben jene Toleranz gegenüber Andersdenkenden walten zu lassen. Dies ist gerade im 100. Geburtsjahr Friedrich Funders keine theoretische Überlegung, sondern genießt höchste politische Aktualität angesichts der weltweiten Eskalation von Gewalt und Terror.

Nun erhebt sich die Frage, ob diese waltende Toleranz, zu der sich die Christliche Demokratie bekennt, nicht eigentlich einem Verzicht gleichkommt, den Fernstehenden von der subjektiv als richtig erkannten Idee zu überzeugen. Im Hinblick auf die zahlreichen Klagen unserer Zeitgenossen, es gebe vor allem unter den Jungen keine Kämpfer mehr, die bereit sind, das Letzte für eine Idee einzusetzen, stelle ich hinter dieses Probelm bewußt ein Fragezeichen. Es gewinnt in der Erinnerung an Friedrich Funder eine besondere Konturierung: war er doch nicht nur ein Stoßtruppkämpfer seines journalistischen Berufes, sondern auch bereit, schwerste Unbill der politischen Verfolgung und Ausschaltung auf sich zu nehmen. Dr. Friedrich Funder bekannte sich auch nach der Stunde des neuen Anfangs 1945 noch zum „vollchristlich-sozialen“ Gedankengut. Ich erinnere mich an ihn, dem ich als Bundesbruder meiner Hochschulverbindung „Carolina“-Graz seit Jahrzehnten tief verbunden war, wie er in der ersten Jahreshälfte 1949 mit mir als dem noch jungen Parlamentsabgeordneten der ÖVP in dem von ihm begründeten Organ „Die Furche“ eine faszinierende gesellschaftspolitische Kontroverse austrug, wie weit die ideologische Plattform einer christlichen Volkspartei ausgedehnt werden könne, ohne an ihrer Tragfähigkeit Schaden zu nehmen. Es war eine noble Geste Friedrich Funders, mir sein Blatt zur Verfügung zu stellen, um gegen ihn, die große Autorität, Stellung beziehen zu können. Ich plädierte damals für eine Tendenz, die selbst bei dem in so hohem intellektuellen Ansehen stehenden Altmeister der katholischen Publizistik zu Mißdeutungen und Fehlinterpretationen führte, nämlich, ehemals „Liberale“ und „Deutsch-Nationale“, die ihre Ideen als falsch oder überholt erkannt hatten, großherzig in die Reihen der österreichischen Volkspartei zu integrieren — auch dann, wenn sie ihr Bekenntnis zur Würde und Freiheit der Person und zur politischen Toleranz nicht aus dem originär christlichen Denken ableiteten. Eine Vorgangsweise übrigens, die bereits durch Papst Pius XII. in seiner sozialen Summa interpretiert wurde, wenn er davon sprach, daß auch durch das natürliche Licht der Vernunft gewisse christliche Schlußfolgerungen zum Leben in der menschlichen Gesellschaft gewonnen werden können. Meine Kontroverse mit Dr. Funder erweckte zur damaligen Zeit vor allem deshalb reges Interesse, weil nicht wenige Stimmen aus den Reihen der ÖVP zugunsten einer verengenden Rückführung der Partei auf das Modell der alten christlichsozialen Bewegung votierten. Dr. Friedrich Funder hielt meinem Anliegen schwerwiegende Bedenken entgegen, die auch in meinen Augen den Ernst und die Bedeutung der Problematik vertieften. Im Lichte der späteren gesellschaftsphilosophischen Aussagen des Zweiten Vaticanums und der sozialen Weltrundschreiben der Päpste Johannes XXIII. und Paul VI. erscheint mein damaliges Bestreben bestätigt. Damit soll aber keinesfalls die Bedeutung der gesellschaftspolitischen Grundhaltung in der modernen christlichen Demokratie geschmälert werden. Hängt doch ihr Schicksal davon ab, nicht nur einzelnen Berufsgruppen zur Durchsetzung ihrer legitimen Standesinteressen zu verhelfen, sondern der modernen Industriegesellschaft einen begehbaren Weg zu zeigen, wie Recht und Toleranz, und damit das Lebensglück der Menschen, gesichert werden können.

Der christlichsoziale Kern, den wir heute ruhigen Gewissens auch als innersten Gehalt des christlichdemokratischen Anliegens identifizieren, ist also eine zutiefst humanistische Forderung: nämlich der Ruf nach der Absicherung des Menschen vor den ihn bedrohenden schier überstarken gesellschaftlichen und politischen Mächten. Gegenüber einer sozialistisch-marxistischen Tendenz der Gleichschaltung und Unterordnung des Menschen unter Institutionen und Apparate erhebt sich die christliche und der Natur des Menschen konveniente soziale Forderung nach einer starken Kraft, die eben jenen Menschen vor dem

Anonymen des Staates und der Großgruppen beschützt. Angesichts der Tatsache, daß alle politischen Bewegungen unserer Zeit Toleranz und Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben haben, erhebt sich die Frage: in welcher Gesellschaftsordnung sind nun wahre Freiheit und Toleranz und damit die Würde der Person tatsächlich gewährleistet?

Diese Problemstellung führt uns drittens zur Frage nach der religiösweltanschaulichen Substanz im christlichsozialen und christdemokratischen Denken. Nun war es augenfällig das Bestreben der alten Christlichsozialen Partei, die religiösweltanschauliche Substanz ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus der Offenbarung der katholischen Kirche, ihrem aus Schrift und Tradition geschöpften Lehrgut abzuleiten, was etwa in den Bereichen der Ehe, Familie oder des Strafrechts zu eindeutigen Positionen führen mußte. Heute sieht sich die christliche Demokratie einer anderen Welt gegenüber. Denn nicht allein die bürgerliche Gesellschaft unterliegt einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß. Auch in der Kirche werden sehr viele Probleme, die früher keine waren oder unbestrittene Lösungen in sich bargen, zur Diskussion gestellt. Schon aus diesen Gründen vermag eine christlichdemokratische Partei nicht für sich den Anspruch zu erheben, geistige Entscheidungen zu treffen, die im kirchlichen Räume zu fällen sind. Freilich enthebt dies nicht den in einer christdemokratischen Partei engagierten Politiker der Pflicht, nach seinem christlich geschärften Gewissen zu urteilen und zu handeln. Was an religiösweltanschaulicher Substanz unverändert bleibt, ist jener Kern, den auch Nichtreligiöse bejahen können, die für eine Konzeption des gesellschaftlichen Lebens eintreten, die sowohl aus der Natur als auch aus christlichem Selbstverständnis durch die Werte des Rechtes und der Ordnung, der Sitte und durch eine moralische Fundmentierung des politischen Lebens gekennzeichnet ist. Der Zugang wird für den Christen wie für den Nichtreligiösen ein anderer sein. In diesem Sinne trägt die moderne christliche Demokratie liberale Züge, die auch kirchlicherseits ästimiert werden. Der Großteil ihrer Anhänger setzt sich nach wie vor aus engagierten Christen zusammen, so so daß eine moralische Bindung der christdemokratischen Parteien an die Kirche gegeben ist. Ihre Beziehungen sind durch gegenseitige Verständigungsbereitschaft und ein tatsächliches Verstehen gekennzeichnet. Kirche und Partei anerkennen wechselseitig die jeweiligen Motive der Selbstverwirklichung, während die Spannungsfelder von gestern zwischen christlichsozialen Christen und Christen ohne dieses politische Bekenntnis abgebaut werden konnten.

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