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Das Trennende oder das Gemeinsame?

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Fast zu gleicher Zeit, da die Heimbringung der Aschenurne Dr. Otto Bauers für seine Parteifreunde Anlaß war, dem Andenken des im Exil verstorbenen Führers in feierlichen Kundgebungen zu huldigen und in Schmerz, Anklage und stolzem Pathos die Erinnerung an die Februarereignisse des Jahres 1934 zu begehen, ist soeben eine Schrift erschienen, die von der anderen Seite Geschichte und Vorgeschichte jener jedem Österreicher in trauriger Erinnerung haftenden Geschehnisse beleuchtet. Mit redlichem Willen zu einer objektiven, versöhnlichen Betrachtung der Tatsachen schildert die sorgsame Arbeit, die bisher in der Polemik herkömmlichen Verzeichnungen politi- ' scher Charakterbilder korrigierend, die vielfältigen Verkettungen des stufenweisen Verfalls der demokratischen Kräfte und Einrichtungen der ersten Republik mit politisdier Schuld und Fehle. Die sympathische Schrift, die das immer wieder zwischen den beiden Staatsparteien auf- tauchende Nachtgespenst zu vertreiben und beide um so fester im Dienste an Österreich — in der „seelischen Einheit aller Österreicher“ — zu sammeln strebt, unterstreicht den bekannten Standpunkt, die Parteien von heute seien nicht Rechtsnachfolger der Parteien von 1934 und deshalb frei von den Ereignissen jener kritischen Zeit. Die sozialistische Partei hat diese Auffassung für ihren Teil abgelehnt und ihre marxistische und parteihistorische Tra- ditionsgebundenheit offen bekundet. Was aber die Volkspartei betrifft, so ist es forma [rechtlich gewiß richtig, daß sie nicht als Rechtsnachfolgerin der Vaterländischen Front bezeichnet werden kann, die eine Sammlung verschiedenster politisdier Elemente, christlidisozialer, rechtssozialistischer, deutsdi- nationaler, legitimistischer und liberaler, aber keine Partei im wirklichen Sinne darstellte. Es ist auch die Anschauung vertretbar, daß die Volkspartei nicht Nachfolgerin der alten christlichsozialen Partei ist, da sie weder durch Namen- noch durch Programmübernahme sich als Erbin bekannt habe. Aber der Gegner horchte nicht auf juridische Definitionen, er sah nur. daß die Völks- partei ihre besten und zuverlässigsten Kräfte aus jenen Volksbereichen bezog, die zuvor die christlichsozialen Herzkammern gewesen waren. So blieb es von Anfang an fraglich, ob mit der Distanzierung etwas gewonnen worden war. Wenn die Vergangenheit mit politischen Fehlern — gewiß nicht einseitige— behaftet war, so ist es bis heute der Volkspartei in den politischen Auseinandersetzungen nicht erspart geblieben, dafür heftig verantwortlich gemacht und in bittere Anschuldigungen verwickelt zu werden. So blieb der Gegenwert dafür aus, daß zugleich mit der Ablehnung der Fehler der Vergangenheit auch auf das Anrecht an geschichtlicher Leistung und Verdienst ver- z'cbtet worden war, das Nachfolgern der Partei der Vogelsang, Schindler, Liechtenstein, Lueger, Geßmann, Seipel gebühren mußte, Nachfolgern jener Partei und jener Führer, die dem „kleinen Mann" die politischen Rechte erkämpft, der Stadt Wien den Glanz und die Größe einer modernen Großgemeinde und den internationalen Ruhm vorbildlicher Kommunalpolitik verliehen, das Reich, die glückliche Geborgenheit aller, bis zum letzten verteidigt, und als nach dem ersten Weltkrieg die jung Republik vor dem Untergang stand, den Staat gerettet hatten.

Februar 193 4. Ein Akt der österreichischen Tragödie. Von Dr. Wilhelm Böhm. 1948. Eigenverlag der Österreichischen Volkspartei, Landesparteileitung Wien. 84 Seiten.

Es mag erlaubt gewesen sein, die Berufung auf die Verdienste einer älteren Generation fallenzulassen. Aber mit dem Verzicht auf die Nachfolgerschaft entließ man auch das gesatzte und erlebte Programm, ein Entgang, der heute zumal in der Arbeiter- und Angestelltenschaft und in der nach rückenden, klare, unverrückbare Richtlinien verlangenden Jugend empfunden wird.

So wenig der Gegenwart damit gedient ist, daß der eine immer wieder in akkusa- torischer Haltung gegen den anderen die Vergangenheit durchstochert und der andere die Verantwortung dafür ablehnt, so wichtig ist es, daß hüben und drüben unsere Gegenwart und der Standort unserer Demokratie in kritischer Selbstprüfung durchforscht werde. Man sollte gewahr werden, wie die Anteilnahme an öffentlichen Dingen immer mehr verkümmert, sich auf Geld- und Nahrungsangelegenheiten verzettelt und das wirkliche Leben der Demokratie immer mehr entblutet. Zweifellos haben darin nicht die bestehenden Parteien die Hauptschuld, sondern ein von den Parteien Vorgefundenes Wahlrecht, das mit seihen gebundenen Listen eine Art Kron- recbt der Parteien auf Herrenhausernennungen geschaffen hat, ein System, das den Abgeordneten allzuoft nicht zum Erwählten der Wähler, sondern eines Sekretariats macht und deh Zusammenhang zwischen Volk und Volksvertretung lähmt. Es wird Zeit, dem Listenwahlrecht ein Ende zu setzen. Nicht zuletzt mit seinem Bestand hängt die schrecken erregende Interesselosigkeit zusammen, die die Öffentlichkeit heute den parlamentarischen Arbeiten entgegenbringt. Freilich auch deshalb, weil der Eindruck erweckt wörden ist, daß die parlamentarische Debatte ein Scheingefecht längst verteilter Rollen darstellt, die irgendwo, in irgendwelchen Stellen außerhalb der gesetzgebenden Körperschaft entworfen worden sind, und auch deshalb, weil die Raumbeschränkune unserer Tagespresse rin getreues und überzeugendes Bild gesetzgeberischer Arbeit oft nicht zu gestatten scheint. Der Mann aus dem Volk sieht die politische Darstellung auf die denkbar einfachste, aber auch denkbar uninteressanteste und wenig überzeugende Formel gebracht: „Ich, der A, habe recht, weil ich immer recht habe, und der andere, der B, hat unrecht, weil er immer unrecht haben muß!“ Unsere Demokratie bekommt es leider zu spüren, daß heute eine unabhängige politische Tagespresse fehlt, welche die Freiheit der Kritik mit unbeirrbarer Gerechtigkeitsliebe verbindet und dem Parteienstaat die für jedes Gemeinwesen unentbehrliche Kontrolle entgegensetzt. Es mag sein, daß in einem besetzten Land dafür die Zeit nicht gekommen ist. Aber der Ruf nach der freien unparteiischen Anwaltschaft der öffentliihen Meinung wird nicht mehr verstummen können. Anerkannt sei, daß der Tonfall der parteipolitischen Auseinandersetzungen sich gegenüber der Vergangenheit im allgemeinen wohltuend entgröbert. Man ist gewahr geworden, daß die Demagogie nicht die beste und auf die Dauer lohnendste politische Kunst ist. Aber auch bei uns zu lande sollte nach einer Wahrheit Ausschau gehalten werden, der kürzlich Mario -Baronci in seinem geistvollen Buch nachgegangen ist, als er den Parteien Italiens vorhielu, es sei bei ihnen so anders als bei den großen Parteien Englands und Nordamerikas: „Diese kämpfen gegenein

1 La Vita Christiana come intelligent. Idee per Giovani di Oggi. Roma. Coletti editore.

ander in den Wahlen, aber in der praktischen Politik gehen sie Hand in Hand; sie vermögen dies, weil diese großen Völker groß sind gerade dadurch, daß sie einen zentralen und fundamentalen Block gemeinsamer Ideen und Bestrebungen eifersüchtig besitzen und bewahren, der einen Besitz von achtzig Prozent, wenn nicht mehr, der Ideen darstellt, die dem ganzen Volk gemeinsam sind; sie brennen nicht darnach, die andern 15 oder 20 Prozent, die verschiedene Empfindsamkeiten darstellen, zu berühren. Bei uns aber“, sagt Mario Baronci von den italienischen Parteien, „streitet man sich noch darum, ob es eine Nation Italia gibt oder nicht gibt.“

Nicht unähnlich den Doktorfragen in Österreich. In der Tat, es ist wichtiger, das Gemeinsame zu pflegen und zu sichern und das Gesetz, das diesem Gemeinsamen innewohnt, den Parteien aufzuerlegen. Unsere Demokratie empfängt ihren tiefsten Sinn aus ihrer Hinordnung aller ihrer Kräfte auf Österreich. Ein Gebot, über dessen Realität die uns umgebenden Tatsachen keine Debatte mehr zulassen. f.

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